LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 19.05.2014 - L 20 AY 90/13 (ASYLMAGAZIN 11/2014, S. 401 ff.) - asyl.net: M22144
https://www.asyl.net/rsdb/M22144
Leitsatz:

Einem nach § 60a AufenthG geduldeten Ausländer, der seine Ausreise aus Deutschland dadurch vereitelt, dass er nicht an der Beschaffung von Passersatzpapieren mitwirkt, sind keine Leistungen nach § 6 AsylbLG für den Besuch eines Deutschkurses zu gewähren. Das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums garantiert keinen Sprachkurs für eine Integration in die deutsche Gesellschaft, für die, würde sich der Betreffende ausländerrechtskonform verhalten und seine Ausreise vorantreiben, von vornherein gar kein Bedürfnis bestehen könnte.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ausreisepflicht, Rechtsmissbräuchliche Beeinflussung der Aufenthaltsdauer, Passbeschaffung, Mitwirkungspflicht, soziokulturelles Existenzminimum, Sprachkurs, Menschenwürde, menschenwürdiges Existenzminimum,
Normen: AufenthG § 60a, AsylbLG § 6,
Auszüge:

[...]

Letztlich kann indes offenbleiben, ob Aufwendungen für Deutschkurse für Fremdsprachler auf die Bemessung der Leistungen nach § 3 AsylbLG nach Maßgabe der Übergangsregelung des BVerfG Einfluss genommen haben. Denn selbst wenn in die statistischen Erhebungen zur EVS 2008 Deutschkurse für nicht deutschsprachige Personen eingeflossen sein sollten, so wäre der dann zur Deckung des sprachlich-integrativen Bedarfs von Personen wie dem Kläger zur Verfügung gestellte Betrag von (anfänglich) monatlich 1,39 EUR ersichtlich nicht hinreichend.

c) Es bedürfte vielmehr ergänzender Leistungen, um den Besuch eines entsprechenden Deutschkurses zu ermöglichen. Solche (ggf. ergänzenden) Leistungen kämen im Rahmen des AsylbLG (allein) nach § 6 Abs. 1 AsylbLG in Betracht.

aa) Ob schon der Umstand, dass ein bestimmter Bedarf bereits Einfluss auf die Bemessung von Regelbedarfen nach dem RBEG - und damit auf die Höhe der Leistungen nach § 3 AsylbLG entsprechend der Übergangsregelung des BVerfG - gehabt hat, dazu führen muss, dass § 6 Abs. 1 AsylbLG keine Anwendung mehr finden kann, kann wiederum dahinstehen (vgl. insoweit zu § 6 Abs. 1 AsylbLG entschiedene Einzelfälle in der Auflistung bei Frerichs in jurisPK-AsylbLG, 2. Auflage 2014, § 6 Rn. 48 ff., die insbesondere bestimmte Mehrbedarfe z.B. wegen Ernährung, Kleidung oder Hygiene betreffen. Um einen solchen "Mehr- oder Sonderbedarf" würde es auch im Falle des Klägers gehen, wenn Aufwendungen für integrationsfördernde Deutschkurse zwar in die Bemessung des Regelbedarfs eingeflossen sein sollten, die konkreten Kosten jedoch aus dem darauf entfallenden, nicht näher zu beziffernden Bruchteil des Betrages von 1,39 EUR nicht gedeckt werden könnten).

bb) Im Ergebnis jedenfalls scheidet ein Anspruch des Klägers nach § 6 Abs. 1 AsylbLG auf Übernahme der Kosten für einen Deutschkurs aus, gleichviel, ob Kosten solcher Kurse in die EVS 2008 eingeflossen sind oder nicht.

Da - zumindest inzwischen - von einer Volljährigkeit des Klägers auszugehen ist (und damit "besondere Bedürfnisse von Kindern" im Sinne von § 6 Abs. 1 S. 1, 3. Var. AsylbLG nicht betroffen sein können), käme ein entsprechender Anspruch nur in Betracht, wenn die Übernahme der Kosten für einen Deutschkurs zur Sicherung seines Lebensunterhalts "unerlässlich" wäre (§ 6 Abs. 1 S. 1, 1. Var. AsylbLG).

(1) Mit diesem Begriff beschränkt das Gesetz Leistungen auf solche, die zur Sicherung des Lebensunterhaltes unverzichtbar sind (vgl. Hohm a.a.O. § 6 AsylbLG Rn. 12 m.w.N.). Das ist der Fall, wenn unter Berücksichtigung sämtlicher Umstände des Einzelfalles und unter Einbeziehung grundrechtlicher Belange das Existenzminimum unterschritten würde oder die konkrete Gefahr seiner Unterschreitung bestünde (Hohm a.a.O.; Frerichs a.a.O. Rn. 46). Zu berücksichtigen sind insbesondere etwa die Qualität des betroffenen Rechts, das Ausmaß und die Intensität der tatsächlichen Beeinträchtigung im Falle der Leistungsablehnung, die hiesigen Lebensverhältnisse, die voraussichtliche Dauer des (weiteren) Aufenthaltes in Deutschland, gleich geeignete und kostengünstigere Leistungen sowie die Möglichkeit einer anderweitigen Bedarfsdeckung (Hohm a.a.O. Rn. 13; Frerichs a.a.O. Rn. 41, 46 f.).

Insoweit kann hinsichtlich eines möglicherweise noch längerfristigeren Aufenthalts des nach § 60a Abs. 1 S. 2 AufenthG geduldeten Klägers in Deutschland nach Ansicht des Senats nicht unberücksichtigt bleiben, dass seine Abschiebung einzig deshalb nicht möglich erscheint, weil er über keine Passpapiere verfügt und sich zugleich - trotz bestehender Ausreisepflicht - weigert, an der Beschaffung eines Passes bzw. von Passersatzpapieren mitzuwirken. Persönliche oder zielstaatsbezogene Gründe, welche die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG ermöglichen würden, sind weder festgestellt noch ersichtlich; der Kläger vereitelt vielmehr durch sein Verhalten eine an sich mögliche, seiner Ausreisepflicht entsprechende Beendigung seines Aufenthaltes in Deutschland.

(2) Ist in einem solchen Fall der Aufenthalt in Deutschland deshalb vorwerfbar rechtswidrig, so müssen gleichwohl auch dann die Leistungen nach dem AsylbLG dem Grundrecht des Leistungsempfängers auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums aus Art. 1 Abs. 1 GG i.V.m. Art. 20 Abs. 1 GG Rechnung tragen. Dementsprechend ist auch der Begriff "unerlässlich" in § 6 Abs. 1 AsylbLG grundrechtskonform auszulegen.

Dies führt jedoch nicht dazu, dass Leistungen an den Kläger für einen Deutschkurs als unerlässlich anzusehen wären. Zum einen weist die Beklagten insoweit zu Recht darauf hin, dass das Begehren des Klägers nicht das physische Existenzminimum betreffen kann; zu verorten ist die Frage nach Leistungen für einen Deutschkurs vielmehr im Bereich sozio-kultureller Teilhabe. Für die inhaltliche Konkretisierung dieses Bereichs besteht von vornherein ein weiterer Gestaltungsspielraum als beim physischen Existenzminimum (BVerfG, Urteil vom 09.02.2010 - 1 BvL 2/09 u.a. Rn. 152). Dessen Grenzen erscheinen beim Kläger, der sich erst seit dem 22.08.2011 in Deutschland aufhält und dessen hiesiger Verbleib nach rechtskräftiger Ablehnung seines Asylantrags allein darauf beruht, dass er pflichtwidrig die Voraussetzungen für eine Ausreise vereitelt, nicht überschritten. In einem solchen Fall ist es vornherein nicht zu beanstanden, wenn keine Leistungen für sprachliche Integration in die deutsche Gesellschaft erbracht werden. Ist der aufenthaltsrechtliche Status des Klägers von vornherein nicht auf Integration, sondern auf Ausreise gerichtet, so stellt sich - jedenfalls in seinem Fall - die gesetzliche Wertung in den §§ 43, 44 AufenthG, qualifizierte Integrationsmaßnahmen wie einen Sprachkurs grundsätzlich erst bei einem rechtlich gesicherten Aufenthaltsstatus vorzusehen, als zulässige gesetzgeberische Einschätzung dar. Jedenfalls garantiert das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums keinen Sprachkurs für eine Integration in die deutsche Gesellschaft, für die, würde sich der Kläger Ausländerrechtskonform verhalten und seine Ausreise vorantreiben, von vornherein gar kein Bedürfnis bestehen könnte.

Daran ändert es nichts, dass dieses Grundrecht dem Grunde nach unverfügbar ist (BVerfG, Urteil vom 18.07.2012 - 1 BvL 10/10 und 2/11 Rn. 62 m.w.N.) und das menschenwürdige Existenzminimum migrationspoltisch nicht relativiert werden darf (BVerfG, a.a.O. Rn. 95). Denn die Versagung von Leistungen für eine Integration, derer es nach der ausländerrechtlichen, als solcher nicht fragwürdig erscheinenden Wertung gar nicht bedürfen kann (weil der Betroffene aktuell ausreispflichtig ist und keine ihm nicht vorwerfbaren rechtlichen oder tatsächlichen Abschiebungshindernisse bestehen), ist keine Beschränkung oder Relativierung des Grundrechts, sondern gehört einzig zur näheren - verfassungskonformen - Ausfüllung des (sozio-kulturellen) Existenzminimums.

(3) An dieser Bewertung kann sich im Übrigen auch nicht etwa dadurch etwas ändern, dass die Ausreisepflicht des Klägers in absehbarer Zeit enden oder ein Abschiebeverbot eintreten würde; es gibt für beides bereits keinerlei Anhaltspunkte. Ebenso wenig steht in Aussicht, dass der Kläger zukünftig die Voraussetzungen für den Bezug sozialhilfeentsprechender Leistungen nach § 2 AsylbLG erfüllen wird und damit im Wesentlichen den Leistungsberechtigten gleichgestellt wäre, die sich - mit möglicherweise entsprechendem sprachlichen Integrationsbedarf - dauerhaft in Deutschland aufhalten. Denn zum einen erfüllt er bislang nicht die dafür nach § 2 Abs. 1 AsylbLG notwendige Vorbezugszeit von 48 Monaten mit Leistungen nach § 3 AsylbLG. Zum anderen dürfte seine Mitwirkungsverweigerung bei der Beschaffung von Passersatzpapieren ohnehin als rechtsmissbräuchliche Beeinflussung seiner hiesigen Aufenthaltsdauer anzusehen sein, so dass schon deshalb Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ausscheiden. [...]