VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 21.07.2014 - 11 S 1009/14 - asyl.net: M22151
https://www.asyl.net/rsdb/M22151
Leitsatz:

1. Eine bereits eingetretene Fortgeltungsfiktion ist durch die seit 06.09.2013 geltende Neuregelung in § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, wonach ein nach § 6 Abs. 1 AufenthG erteiltes Visum die Fiktionswirkung nicht auslöst, nicht entfallen.

2. Die Standstill-Klausel des Art. 7 ARB 2/76 ist neben der des Art. 13 ARB 1/80 weiterhin anwendbar.

3. Das Erfordernis, vor der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis einfache Deutschkenntnisse nachzuweisen (§ 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG), verstößt beim Ehegattennachzug zu einem ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmer gegen Art. 13 ARB 1/80 und Art. 7 ARB 2/76 (im Anschluss an EuGH, Urteil vom 10.07.2014 - C-138/13).

4. Die Visumspflicht für den Ehegattennachzug zu einem ordnungsgemäß beschäftigten türkischen Arbeitnehmer dürfte mit Art. 7 ARB 2/76 in Einklang stehen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Fortgeltungsfiktion, Visum, Deutschkenntnisse, einfache Deutschkenntnisse, Sprachkenntnisse, Ehegattennachzug, Visumspflicht, Türkischer Arbeitnehmer, türkische Staatsangehörige, Stillhalteklausel, Familiennachzug, Familienzusammenführung, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 4 S. 2, ARB 1/80 Art. 13, ARB 2/76 Art. 7, AufenthG § 6 Abs. 1, AufenthG § 30 Abs. 1 S. 1 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

I.

Das Verwaltungsgericht ist zutreffend davon ausgegangen, dass der am 26.03.2014 nach § 80 Abs. 5 VwGO gestellte Antrag, die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs der Antragstellerin gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 04.03.2014 anzuordnen, statthaft ist. Mit diesem Bescheid hat die Antragsgegnerin die am 10.05.2013 beantragte Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG abgelehnt (Ziffer 1) und der Antragstellerin die Abschiebung in die Türkei angedroht (Ziffer 3). Im Zeitpunkt der Antragstellung war die Antragstellerin im Besitz eines noch bis 27.06.2013 gültigen Schengen-Visums zu Besuchszwecken, das von der niederländischen Auslandsvertretung in Ankara ausgestellt worden war (vgl. hinsichtlich der relevanten Daten Bl. 9 der Behördenakte). Damit hat der Antrag nach der am 10.05.2013 geltenden Fassung des § 81 Abs. 4 AufenthG die Fiktionswirkung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG ausgelöst (vgl. etwa BayVGH, Beschluss vom 21.02.2013 - 10 CS 12.2679 - juris Rn. 6 ff.; Nds OVG, Beschluss vom 31.10.2011 - 11 ME 315.11 - juris Rn. 5; Renner/Bergmann/Dienelt, AuslR, 10. Aufl. 2013, § 81 Rn. 16 ff.; GK-AufenthG, § 81 Rn. 39 ff. <Stand Mai 2014>). Die bereits eingetretene Fortgeltungsfiktion ist durch die mit Gesetz zur Verbesserung der Rechte von international Schutzberechtigten und ausländischen Arbeitnehmern vom 29.08.2013 (BGBl. I S. 3484) eingeführte Neuregelung in § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG, derzufolge ein nach § 6 Abs. 1 AufenthG erteiltes Visum die Fiktionswirkung nicht auslöst, nicht entfallen (ebenso OVG BB, Beschluss vom 03.04.2014 - OVG 3 S 4.14 - juris).

Die seit dem 06.09.2013 geltende Regelung in § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG ist eine Reaktion des Gesetz - gebers auf die von ihm für korrekturbedürftig erachtete Rechtsprechung, wonach auch ein Schengen-Visum nach § 6 Abs. 1 AufenthG die Fortgeltungsfiktion des § 81 Abs. 4 AufenthG auslösen konnte. Entgegen der Begründung des Gesetzgebers handelt sich nicht nur um eine "gesetzliche Klarstellung" (so BT-Drs. 17/13536, S. 15), denn nach Wortlaut, Systematik sowie Sinn und Zweck des § 81 Abs. 4 a.F. gehörte zu den Aufenthaltstiteln auch ein - von einem anderen Schengen-Staat erteiltes - (Besuchs-)Visum (OVG BB, Beschluss vom 03.04.2014, a.a.O., Rn. 5). Die Überlegung, eine fehlende Übergangsvorschrift mache es erforderlich, § 81 Abs. 4 Satz 2 AufenthG auch auf "Altfälle" anzuwenden, mit der Folge, dass sich vorläufiger Rechtsschutz nicht (mehr) nach § 80 Abs. 5 VwGO richten könne (Nds OVG, Beschluss vom 12.11.2013 - 13 ME 190/13 - NVwZ-RR 2014, 157), teilt der Senat nicht. Die Bestimmung des § 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG stellt auf die Entstehung der Fiktionswirkung zum Zeitpunkt der Antragstellung ab und setzt nicht voraus, dass diese kontinuierlich bis zur Verwaltungsentscheidung gewissermaßen jeden Augenblick nach Maßgabe des geltenden Rechts immer wieder neu entsteht. Deshalb hätte es einer ausdrücklichen Entscheidung des Gesetzgebers bedurft, dass eine einmal entstandene Fiktionswirkung mit Inkrafttreten des Gesetzes entfallen sollte (GK-AufenthG, § 81 Rn. 39.3; vgl. auch OVG BB, Beschluss vom 03.04.2014, a.a.O., Rn. 3 ff.).

II.

Der zulässige Antrag ist begründet. Die Antragstellerin dürfte ungeachtet dessen, dass sie nicht über einfache mündliche und schriftliche Deutschkenntnisse verfügt, voraussichtlich die Voraussetzungen des § 30 AufenthG zur Erteilung eines Aufenthaltstitels zum Ehegattennachzug zu ihrem im Bundesgebiet lebenden türkischen Ehemann, mit dem sie seit 03.08.2004 verheiratet ist, erfüllen (1.). Zwar dürfte die Einreise der Antragstellerin aufgrund der fehlenden vorherigen Einholung eines nationalen Visums zum Ehegattennachzug auch unter Beachtung des Art. 7 ARB 2/76 dazu führen, dass der Regelversagungsgrund des § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG vorliegt; eine abschließende Beurteilung kann jedoch letztlich erst im Hauptsacheverfahren erfolgen (2.). Aufgrund der den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO bestimmenden Interessenabwägung räumt der Senat der Antragstellerin wegen ihrer besonderen persönlichen Situation, insbesondere ihres angegriffenen Gesundheitszustands, die Möglichkeit ein, sich vorläufig weiter im Bundesgebiet aufzuhalten (3.).

1. Die durch das Richtlinienumsetzungsgesetz vom 19.08.2007 (BGBl. I S. 1970) eingeführte Regelung, dass der Ehegatte, der zu einem in Deutschland lebenden Ausländer nachziehen will, sich nach § 30 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 i.V.m. § 2 Abs. 9 AufenthG zumindest auf einfache Art in deutscher Sprache verständigen können muss, verstößt gegen Standstill-Klauseln des Assoziationsrecht.

a) Der Europäische Gerichtshof hat auf ein Vorabentscheidungsersuchen des Verwaltungsgerichts Berlin vom 13.02.2013 (23 K 91.12 V - juris), auf das sich die Antragstellerin in der Beschwerdebegründung berufen hatte, mit Urteil vom 10.07.2014 (C-138/13) entschieden, die Stillhalteklausel nach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls (ZP) vom 23.11.1970 zum Abkommen vom 12.09.1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei (vgl. ABl. 1972 Nr. L 293 S. 3) stehe einer Regelung des nationalen Rechts entgegen, die eingeführt wurde, nachdem das Zusatzprotokoll in dem betreffenden Mitgliedstaat in Kraft getreten ist und vorschreibt, dass Ehegatten von in diesem Mitgliedstaat wohnenden türkischen Staatsangehörigen, wenn sie zum Zwecke der Familienzusammenführung einreisen wollen, vor Einreise nachweisen müssen, dass sie einfache Kenntnisse der Amtssprache dieses Mitgliedstaats erworben haben. Der Europäische Gerichtshof hat in den Randnummern 34 bis 36 ausgeführt:

Der Gerichtshof hat in diesem Zusammenhang entschieden, dass die Familienzusammenführung ein unerlässliches Mittel zur Ermöglichung des Familienlebens türkischer Erwerbstätiger ist, die dem Arbeitsmarkt der Mitgliedstaaten angehören, und sowohl zur Verbesserung der Qualität ihres Aufenthalts als auch zu ihrer Integration in diesen Staaten beiträgt (vgl. Urteil Dülger, C-451/11, EU:C:2012:504, Rn. 42).

Auf die Entscheidung eines türkischen Staatsangehörigen, sich in einem Mitgliedstaat niederzulassen, um dort dauerhaft einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, kann es sich nämlich negativ auswirken, wenn die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats die Familienzusammenführung erschweren oder unmöglich machen und sich der türkische Staatsangehörige deshalb unter Umständen zu einer Entscheidung zwischen seiner Tätigkeit in dem betreffenden Mitgliedstaat und seinem Familienleben in der Türkei gezwungen sehen kann.

Daher stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren fragliche, die eine Familienzusammenführung erschwert, indem sie die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehegatten türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des betreffenden Mitgliedstaats im Vergleich zu denjenigen verschärft, die galten, als das Zusatzprotokoll in Kraft trat, eine "neue Beschränkung" der Ausübung der Niederlassungsfreiheit durch diese türkischen Staatsangehörigen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dar.

Hieraus ist ersichtlich, dass nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs das Erfordernis, der nachzugswillige Ehegatte müsse für die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis über einfache Deutschkenntnisse verfügen, eine unmittelbare Beeinträchtigung des türkischen Erwerbstätigen darstellt und nicht nur eine solche des anderen Ehepartners (siehe hierzu auch schon die Schlussanträge des Generalanwalts vom 30.04.2014 - C-138/13 - Rn. 31 ff.). Damit dürften auch die Ausführungen im Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.03.2010 (1 C 8.09 - juris Rn. 20), wonach die Versagung des Familiennachzugs für den türkischen Arbeitnehmer nicht zu einer neuen Beschränkung der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt oder seines damit verbundenen Aufenthalts führt, hinfällig sein.

Das Urteil ist ungeachtet dessen, dass es erst nach Ablauf der Beschwerdebegründungsfrist ergangen ist, bei der Entscheidung über die Beschwerde zu berücksichtigen (vgl. allgemein zur Frage des Umgangs mit nachträglich eingetretenen Gründen Kopp/Schenke, VwGO, 20. Aufl. 2014, § 146 Rn. 42).

b) Die Erwägungen des Europäischen Gerichtshofs im Urteil vom 10.07.2014 dürften gleichermaßen für den vorliegenden Fall zu beachten sein, in dem sich der Ehemann der Antragstellerin als ordnungsgemäß beschäftigter türkischer Arbeitnehmer auf die Stillhalteklausel des Art. 13 ARB 1/80 und auch auf diejenige des Art. 7 ARB 2/76 berufen kann, wobei Letztere für das Visumserfordernis relevant sein dürfte (hierzu nachfolgend 2.).

Art. 41 Abs. 1 ZP, der bestimmt, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Dienstleistungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen werden, betrifft Selbstständige (siehe allg. zum Geltungsbereich des Art. 41 Abs. 1 ZP Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., Art. 13 ARB 1/80 Rn. 38 ff.), während hier der Ehemann der Antragstellerin Arbeitnehmer ist und daher nicht von dieser Stillhalteklausel personell erfasst wird. Nach dem seit 01.12.1980 geltenden Art. 13 ARB 1/80 dürfen die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen (Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., Art. 13 ARB 1/80 Rn. 11 f.). Der Europäische Gerichtshof hat mehrfach entschieden, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 des am 01.01.1973 in Kraft getretenen Zusatzprotokolls und diejenige in Art. 13 ARB 1/80 auch aufenthaltsrechtliche Wirkungen entfalten, gleichartig sind, beide dasselbe Ziel verfolgen und übereinstimmend ausgelegt werden (vgl. etwa EuGH, Urteile vom 15.11.2011 - C-256/11 - Dereci - Rn. 94, vom 09.12.2010 - C-300/09 - Toprak - Rn. 52 ff., vom 29.04.2010 - C-92/07 - Kommission/Niederlande - Rn. 48 ff. und vom 17.09.2009 - C-242/06 - Sahin - Rn. 65). Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 10.07.2014 ist daher auf den Ehegattennachzug zu einem türkischen Arbeitnehmer übertragbar. Dies gilt auch mit Blick auf die Standstill-Klausel des Art. 7 ARB 2/76.

Das Bestreben des Europäischen Gerichtshofs einen Gleichlauf aller Standstill-Klauseln herbeizuführen, umfasst auch den ebenfalls unmittelbare Wirkung entfaltenden Art. 7 ARB 2/76 (vgl. dazu etwa EuGH, Urteile vom 20.09.1990 - C-192/89 - Sevince - Rn. 17 ff. und vom 11.05.2000 - C-37/98 - Savas - Rn. 49), welcher für Arbeitnehmer weiterhin neben Art. 13 ARB 1/80 gilt (vgl. näher Renner/Bergmann/Dienelt, a.a.O., Art. 13 ARB 1/80 Rn. 19 ff.).

Der am 01.12.1976 in Kraft getretene Beschluss Nr. 2/76 des Assoziationsrates über die Durchführung des Artikels 12 des Abkommens von Ankara vom 20.12.1976 (abrufbar unter www.migrationsrecht.net) sieht in Art. 7 vor, dass die Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und die Türkei für Arbeitnehmer, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind, keine neuen Beschränkungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt einführen dürfen. Zwar ist der ARB 2/76 an sich grundsätzlich nicht mehr anzuwenden, weil der ARB 1/80 für die türkischen Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen günstigere Regelungen enthält (EuGH, Urteil vom 06.06.1995 - C-434/93 - Bozkurt - Rn. 14). Dieser - für das Verhältnis Art. 2 ARB 2/76 und Art. 6 ARB 1/80 - entschiedene Vorrang des ARB 1/80 kann aber nicht für die Standstill-Klausel des Art. 7 ARB 2/76 gelten. Folge einer Nichtanwendung des Art. 7 ARB 2/76 wäre, dass sich der Status der Arbeitnehmer verschlechtern könnte, weil alle zwischen 01.12.1976 und 01.12.1980, dem Datum des Inkrafttretens des Art. 13 ARB 1/80, zum Nachteil des Arbeitnehmers eingetretenen arbeits- und aufenthaltsrechtlichen Veränderungen zu beachten wären. Dass solches vom Assoziationsrat beabsichtigt wäre, lässt sich aus dem ARB 1/80 aber nicht entnehmen. Dass Art. 7 ARB 2/76 durch Art. 13 ARB 1/80 nicht verdrängt wird, dürfte auch die Auffassung der Bundesregierung sein (vgl. die Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zu den Auswirkungen der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zum Assoziierungsabkommen der Europäischen Union mit der Türkei auf das Aufenthaltsrecht, BT-Drs. 17/4623 vom 02.02.2011, S. 5).

Ausgehend von dem insoweit identischen Regelungsgegenstand dieser Stillhalteklauseln ist es aufgrund des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 10.07.2014 unionsrechtlich nicht zulässig, für die erstmalige Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 30 AufenthG bei einem Nachzug eines Ehegatten zu einem sich ordnungsgemäß im Bundesgebiet aufhaltenden türkischen Arbeitnehmer die Erfüllung des durch das Richtlinienumsetzungsgesetz 2007 eingeführten Spracherfordernis nach § 30 Abs.1 Satz 1 Nr. 2 AufenthG zu verlangen.

2. Die Antragstellerin dürfte unter Verstoß gegen das nationale Erfordernis der vorherigen Einholung eines Visums zum Ehegattennachzug in das Bundesgebiet eingereist sein und daher die allgemeine Regelerteilungsvoraussetzung nach § 5 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG nicht erfüllen. Die in den Verwaltungsakten dokumentierten Abläufe, insbesondere die Tatsache, dass sich die Antragstellerin, die Analphabetin ist, in der Vergangenheit mehrfach vergeblich bemüht hat, ein Visum zum Ehegattennachzug zu erhalten, sprechen dafür, dass sie von Anfang an die Absicht hatte, ihr Besuchsvisum für einen faktischen Nachzug zu ihrem Ehemann nutzen. Die Notwendigkeit für türkische Staatsangehörige, ein Visum zum Ehegattennachzug einzuholen, dürfte nach der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich mit Art. 7 ARB 2/76 in Einklang stehen.

a) Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 10.07.2014 eine Beschränkung bzw. Erschwernis des Familiennachzugs als einen Eingriff in eigene und originäre Rechte des Arbeitnehmers angesehen, so dass das Visumserfordernis für den Ehegattennachzug nicht an Art. 13 ARB 1/80, sondern an der für türkische Arbeitnehmer nach wie vor geltenden Stillhalteklausel des Art. 7 ARB 2/76 zu messen sein dürfte.

Für türkische Staatsangehörige wurde eine allgemeine Visumspflicht durch die am 05.10.1980 in Kraft getretene Elfte Verordnung zur Änderung der Durchführung des Ausländergesetzes vom 01.07.1980 (BGBl. I S. 782) eingeführt. Dieser Zeitpunkt lag vor dem Beginn der Anwendbarkeit des Art. 13 ARB 1/80. Nach § 5 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes (DVAuslG) vom 10.09.1965 (BGBl. I S. 1341) i.d.F. vom 13.09.1972 (BGBl. I S. 1743) waren türkische Staatsangehörige, weil in der sog. Positivliste aufgeführt, grundsätzlich von der Visumspflicht freigestellt. Sie benötigten nur dann einen vor der Einreise einzuholenden Sichtvermerk, wenn sie im Bundesgebiet eine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zur Ausführung des Ausländergesetzes (AuslG VwV) vom 07.07.1967 legte zu § 5 DVAuslG die Verwaltungspraxis wie folgt fest: "Die Fälle, in denen die Aufenthaltserlaubnis vor der Einreise in der Form des Sichtvermerks einzuholen ist, sind in § 5 DVAuslG 1965 aufgeführt. In allen anderen Fällen kann die Aufenthaltserlaubnis nach der Einreise eingeholt werden". Die Bestimmung des § 5 DVAuslG traf somit keine Aussage zu den Voraussetzungen für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis im Inland, sondern betraf unmittelbar die Visumsfreiheit der Einreise. Für sonstige Aufenthalte bestand ohne zeitliche Begrenzung grundsätzlich keine Visumspflicht, insbesondere beim Nachzug eines Ehegatten, der keine Berufstätigkeit beabsichtigte, konnte der erforderliche Aufenthaltstitel ohne vorheriges Visumsverfahren im Bundegebiet eingeholt werden (vgl. hierzu auch Saarl OVG, Beschluss vom 02.05.2012 - 2 B 47/12 - juris Rn. 15). Diese Rechtslage ist somit Maßstab für die Prüfung einer Verschlechterung unter Anknüpfung an die am 01.12.1976 in Kraft getretene Standstill-Klausel nach Art. 7 ARB 2/76 (vgl. auch GK-AufenthG, § 14 Rn. 30 <Stand Mai 2014>). Nach der damals geltenden Rechtslage hätte die Antragstellerin ohne nationales Visum in das Bundesgebiet einreisen und den Aufenthaltstitel - wie am 10.05.2013 geschehen - hier beantragen können.

b) Die Einführung der am 01.12.1976 bisher nicht bestehenden Visumspflicht für den Ehegattennachzug stellt eine relevante Beschränkung im Sinne des Art. 7 ARB 2/76 dar. Der Europäische Gerichtshof legt den Begriff der "neuen Beschränkungen" in den Stillhalteklauseln weit aus (vgl. etwa EuGH, Urteile vom 07.11.2013 - C-225/12 - Demir - Rn. 34 und vom 29.04.2010 - C-92/07 - Kommission/Niederlande - Rn. 49). Er fasst darunter Einführungen neuer Beschränkungen der Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit in das Recht eines Mitgliedstaats einschließlich solcher Beschränkungen, die die materiell- und / oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die erstmalige Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats betreffen. Das Visumserfordernis für den Ehegattennachzug bringt aufgrund des Prüfungsumfangs, der damit verbundenen Kosten und der Verfahrensdauer sowie der Folgen einer möglichen Ablehnung eine nicht unerhebliche Erschwernis für den durch Art. 7 ARB 2/76 begünstigten türkischen Arbeitnehmer mit sich (ebenso EuGH, Urteil vom 19.02.2009 - C-228/06 - Soysal - Rn. 55, 57 zur Frage der Vereinbarkeit eines Visumserfordernisses mit Art. 41 Abs.1 ZP). Es können mehrere Monate vergehen, bis eine Entscheidung über den Visumsantrag ergeht (vgl. zur Informationen über die Bearbeitungszeiten etwa Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zur Visumspflicht für türkische Staatsangehörige seit Oktober 1980, BTDrs. 10/2773 vom 21.01.1985, S. 4, sowie aktuell die Information auf der Homepage der Deutschen Botschaft in Ankara www.ankara.diplo.de/Vertretung/ankara, wonach die Wartezeit für Visa zur Familienzusammenführung derzeit aufgrund hoher Nachfrage über 3 Monate beträgt).

Soweit der Europäische Gerichtshof im Urteil vom 24.09.2013 (C-221/11 - Demirkan) entschieden hat, dass das Visumserfordernis für türkische Staatsangehörige, die im Bundesgebiet Dienstleistungen empfangen wollen, mit Art. 41 Abs. 1 ZP zu vereinbaren sei, weil der Begriff "freier Dienstleistungsverkehr" dahin auszulegen sei, dass er nicht die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasse, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen, kann hieraus aufgrund der konkreten Vorlagefrage nichts für die Zulässigkeit eines Visumsverfahrens mit Blick auf die Rechte als Arbeitnehmer nach Art. 7 ARB 2/76 hergeleitet werden.

Es ist auch nicht ersichtlich, dass nach dem Grundsatz "lex posterior derogat legi priori" die Vereinbarkeit einer Visumspflicht zum Ehegattennachzug mit Art. 7 ARB 2/76 deshalb keiner näheren Prüfung mehr bedürfte, weil das Unionsrecht mittlerweile selbst eine Visumspflicht für türkische Staatsangehörige eingeführt hat (so aber wohl BremOVG, Beschluss vom 30.05.2014 - 1 PA 62/14 - juris Rn. 3). Eine Visumspflicht für türkische Staatsangehörige ergibt sich auf der Grundlage nach Art. 1 i.V.m. Anhang I der Verordnung (EG) Nr. 574/1999 EG zur Bestimmung der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen (ABl. 1999 Nr. L 72 S. 2) und der Verordnung 15.03.2001 (ABl. 2001 Nr. L 81 S. 1) zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von der Visumspflicht befreit sind, zuletzt geändert durch Art. 1 der Verordnung VO (EU) Nr. 259/2014 vom 03.04.2014 (ABl. 2014 Nr. L 105 S. 9). Als sekundäres Unionsrecht dürfte eine Verordnung, auch wenn sie zeitlich später ergangen ist, kaum in der Lage sein, die aufgrund von Völkervertragsrecht entstandenen Pflichten aus der Stillhalteklausel des Art. 7 abzuändern (so wohl auch EuGH, Urteil vom 19.02.2009 - C- 228/06 - Soysal - Rn. 59, wonach der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts verlange, Letztere nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Übereinkommen auszulegen). Abgesehen davon erfasst die Verordnung Visa für längerfristige Aufenthalte (vgl. Art. 1 Abs. 2 VO; § 6 Abs. 3 AufenthG) nicht.

b) Allerdings dürfte die Einführung des Visumserfordernisses zum Ehegattennachzug im Jahre 1980 deshalb keinen Verstoß gegen Art. 7 2/76 darstellen, weil sie durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und verhältnismäßig sein dürfte. Der Europäische Gerichtshof hat im Urteil vom 10.07.2014(C-138/13) unter Rn. 37 ausgeführt:

Schließlich ist festzustellen, dass eine Beschränkung, mit der bezweckt oder bewirkt wird, die Ausübung der Niederlassungsfreiheit im Inland durch einen türkischen Staatsangehörigen strengeren Voraussetzungen zu unterwerfen, als sie zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, verboten ist, sofern sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet ist, die Erreichung des angestrebten legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht (vgl. entsprechend Urteil Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 40).

Der Sichtvermerkszwang basierte auch nach der damals geltenden Rechtslage allgemein auf der vom Gesetz- bzw. Verordnungsgeber bejahten Notwendigkeit, im Interesse der Belange der Bundesrepublik Deutschland bei Staatsangehörigen bestimmter Staaten die Einreise im Vorfeld zu kontrollieren und zu steuern (vgl. zu folgenden OVG HH, Urteil vom 16.03.1981 - Bf V 16/80 - HmbJVBl 1981, 149 ff. mwN; siehe auch Hailbronner, Ausländerrecht - Ein Handbuch, 1984, Rn. 72). Durch die von vornherein stattfindende Kontrolle der Einreise von Angehörigen bestimmter Staaten sollten anderenfalls - bei Befreiung vom Sichtvermerkszwang - leicht eintretende schwerwiegende Belastungen für die Bundesrepublik Deutschland vermieden werden, insbesondere die Aufwendung erheblicher öffentlicher Mittel, um Ausländer, denen der Aufenthalt nicht erlaubt wird, wieder aus dem Bundesgebiet zu entfernen. Außerdem erachtete man es in bestimmten Fällen für geboten, dass die deutschen Auslandsvertretungen wegen ihrer besseren Kenntnisse und Möglichkeiten Angaben der um den Sichtvermerk nachsuchenden Ausländer überprüfen und sich außerdem durch Vorladung einen persönlichen Eindruck vom Antragsteller bilden konnten. Auch ging man davon aus, die Antragsteller im Sichtvermerksverfahren seien in der Regel eher bereit, ihrer Mitwirkungspflicht nachzukommen als bei der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet, da sie andernfalls die Ablehnung ihres Antrags befürchten müssen mit der Folge, dass sie nicht legal in das Bundesgebiet einreisen könnten.

Die Einführung der Sichtvermerkspflicht für türkische Staatsangehörige durch die Elfte Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes beruhte vor allem auf der Begründung, es habe sich gezeigt, dass türkische Staatsangehörige zunehmend als "Touristen" in der verdeckten Absicht der Arbeitsaufnahme einreisten und häufig in der Bundesrepublik Deutschland aussichtslose Asylverfahren betrieben, um während der Dauer des Verfahrens hier leben und arbeiten zu können. Die Befreiung von der Sichtvermerkspflicht lasse sich unter diesen Umständen nicht länger aufrechterhalten (Bundesrat, Drs 383/80 vom 25.06.1980). Zwar deutet dies zunächst darauf hin, dass der Missbrauch der Sichtvermerksfreiheit für Besuchsaufenthalte von nicht mehr als drei Monaten der unmittelbare Anlass für die Änderung war; aus der weiteren Begründung, die von der generellen Sichtvermerkspflicht für türkische Staatsangehörige spricht, und der Tatsache, dass die Notwendigkeit der Beibehaltung der Sichtvermerkspflicht nach drei Jahren überprüft wird, dürfte jedoch zu schließen sein, dass die Bundesrepublik eine Kontrolle der Zuwanderung aus der Türkei - unabhängig von der konkreten Art des Aufenthaltszwecks - aufgrund einer entsprechenden Entwicklung in der Türkei für geboten erachtete. Dies lässt sich einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage zur Visumspflicht für türkische Staatsangehörige seit Oktober 1980 (BT-Drs. 10/2773 vom 21.01.1985, S. 5) sowie der Beantwortung einer Kleinen Anfrage zur Überprüfung des Visumszwangs für türkische Staatsangehörige vom 18.12.1988 (BT-Drs 11/3748, S. 1) entnehmen. Dort wird - auch im Zusammenhang mit der Visumspflicht für den Familiennachzug - ausgeführt, dass sich die tatsächlichen Umstände, die seinerzeit zur Aufhebung der Befreiung von der Sichtvermerkspflicht geführt haben, seither nicht entscheidend geändert haben. Der unvermindert hohe Einwanderungsdruck insbesondere aufgrund des wirtschaftlichen und sozialen Gefälles zwischen Deutschland und der Türkei könne wirksam vor allem mit Hilfe der Sichtvermerkspflicht begegnet werden. Die Einführung der Sichtvermerkspflicht bedeute nicht, dass Einreisen aus der Türkei allgemein unerwünscht seien, sondern nur, dass Risiken bereits vor Einreise geprüft werden könnten.

Unter Berücksichtigung der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung dürfte daher Art. 7 ARB 2/76 einem Visumszwang für den Ehegattennachzug, der dem zwingenden Allgemeininteresse der kontrollierten Zuwanderung, aber offensichtlich auch des Herausfilterns von Missbrauchsfällen dient, nicht entgegenstehen. Anhaltspunkte dafür, dass das Visumsverfahren zur Erreichung dieses Ziels nicht geeignet oder sonst unverhältnismäßig wäre, dürften nicht bestehen. Es bedarf daher keiner weiteren Prüfung, ob der im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Art. 7 ARB 2/76 bestehenden Visumsfreiheit zum Ehegattennachzug auch deshalb keine Bedeutung mehr zukommen kann, weil die entsprechende nationale Regelung ihren Grund in dem am 01.11.1953 in Kraft getretenen Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Türkei vom 30.09.1953 über die Aufhebung des Sichtvermerkszwangs (GMBl. 1953, S. 576, Ergänzung GMBl. 1955, S. 23) hatte und dieses vor Erlass der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes durch die Bundesrepublik gekündigt worden war.

3. Zwar dürfte nach den vorstehenden Ausführungen das Visumserfordernis zum Ehegattennachzug somit voraussichtlich mit Assoziationsrecht in Einklang stehen; die besondere Situation der Antragstellerin gebietet es jedoch, dass sie für die Durchführung eines Hauptsacheverfahrens vorläufig im Bundesgebiet verbleiben kann. Die Antragstellerin leidet an erheblichen Erkrankungen, die u.a. im Bericht des Diakonie-Klinikums Stuttgart vom 30.09.2013 dokumentiert sind, und erhält u.a. deswegen Hilfeleistungen durch ihren Ehemann (vgl. Eidesstattliche Versicherung vom 29.03.2014). Die notwendigen Unterstützungsleistungen können nicht mehr durch Familienangehörige in der Türkei erbracht werden. Der Ehegatte der Antragstellerin verfügt über einen nahezu 20 Jahre langen rechtmäßigen Aufenthalt im Bundesgebiet mit seit Jahren den Lebensunterhalt sichernder Erwerbstätigkeit bei dem gleichen Arbeitgeber, so dass es ihm nicht ohne weiteres zumutbar ist, ggfs. unter Verlust seines Arbeitsplatzes die Antragstellerin in die Türkei zu begleiten. Der Senat räumt daher unter Beachtung der den Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO bestimmenden verfassungsrechtlichen Maßstäbe (BVerfG, Beschlüsse vom 10.10.2003 - 1 BvR 2025/03 - NVwZ 2004, 93, und vom 10.05.2007 - 2 BvR 304/07 - ZAR 2007, 243; siehe auch Bader, u.a. VwGO, 5. Aufl. 2011, § 80 Rn. 93 ff. mwN) dem Interesse des Antragstellers, vorläufig im Bundesgebiet zu verbleiben, den Vorrang gegenüber dem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Verfügung ein. Auf die Frage, ob der Antragstellerin auch deshalb der weitere Aufenthalt im Bundesgebiet zu ermöglichen ist, weil bei einer gegebenen Visumspflicht die Ermessenserwägungen der Antragsgegnerin im angefochtenen Bescheid im Rahmen der Prüfung nach § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG möglicherweise fehlerhaft sind, kommt es nicht mehr an. [...]