VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 08.07.2014 - 4 L 461/14.A - asyl.net: M22197
https://www.asyl.net/rsdb/M22197
Leitsatz:

Nach der aktuellen Auskunftslage bestehen ernstliche Zweifel an der Entscheidungspraxis des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, Asylanträge von Roma aus Serbien als offensichtlich unbegründet abzulehnen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: offensichtlich unbegründet, ernstliche Zweifel, Roma, Serbien, Ausreisefreiheit, Reisefreiheit, serbische Verfassung, Auswärtiges Amt,
Normen: AsylVfG § 30 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Gegenstand der gerichtlichen Prüfung im asylrechtlichen Aussetzungsverfahren (§ 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO, § 36 Abs. 3 und Abs. 4 AsylVfG) ist die Frage, ob das Bundesamt die Anträge der Antragsteller auf Anerkennung als Asylberechtigte und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 13 Abs. 2 Satz 1 i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 2 AsylVfG) zu Recht als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat. Dabei ist die gerichtliche Prüfung gemäß § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG auf die Frage beschränkt, ob ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Offensichtlichkeitsurteils bestehen. Ernstliche Zweifel in diesem Sinne liegen nur dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die angefochtene Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. nur BVerfG, Urteil vom 14. 5. 1996 - 2 BvR 1516/93 -, NVwZ 1996, 678 (680), und Beschluss vom 2. 5. 1984 - 2 BvR 1413/83 -, BVerfGE 67, 43 ff.).

So liegt es hier. Es sprechen derzeit erhebliche Gründe dafür, dass die Entscheidung des Bundesamtes keinen Bestand haben wird. Der Bescheid des Bundesamtes beruht maßgeblich auf der Prämisse, dass den Antragstellern als Zugehörige der Volksgruppe der Roma im Falle ihrer Rückkehr nach Serbien offensichtlich keine im asylrechtlichen Verfahren relevanten Nachteile drohen. An dieser Einschätzung des Bundesamtes bestehen ernstliche Zweifel. Derzeit ist nicht offensichtlich, dass den Antragstellern im Falle ihrer Rückkehr nach Serbien keine asylrechtlich beachtlichen Nachteile drohen.

Offensichtlichkeit im Sinne des § 30 Abs. 1 AsylVfG liegt dann vor, wenn im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichts an der Richtigkeit der tatsächlichen Feststellungen vernünftigerweise kein Zweifel bestehen kann und sich bei einem solchen Sachverhalt nach allgemein anerkannter Rechtsauffassung (nach dem Stand von Rechtsprechung und Lehre) die Ablehnung des Asylantrags geradezu aufdrängt. Unter welchen Voraussetzungen sich ein Asylantrag als offensichtlich aussichtslos erweisen kann, so dass sich ihre Abweisung dem Gericht "geradezu aufdrängt", lässt sich nicht abstrakt bestimmen, sondern bedarf der jeweiligen Beurteilung im Einzelfall. Soweit eine kollektive Verfolgungssituation geltend gemacht wird kommt die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet in der Regel nur bei Fallgestaltungen in Betracht, denen eine gefestigte obergerichtliche Rechtsprechung zugrunde liegt. Dies schließt nicht aus, dass auch bei Sachverhalten, bei denen von einer "anerkannten Rechtsauffassung" noch nicht ausgegangen werden kann, die Unbegründetheit des Asylantrags offensichtlich sein kann. Dazu wird es aber regelmäßig eindeutiger und widerspruchsfreier Auskünfte und Stellungnahmen sachverständiger Stellen bedürfen, auf denen die Erkenntnis des Gerichts beruht, eine asylrechtlich relevante politische Verfolgung der Angehörigen einer kollektiv bezeichneten Gruppe liege offensichtlich nicht vor (vgl. nur BVerfG, Beschlüsse vom 12. 7. 1983 – 1 BvR 1470/82 -, juris, Rdn. 57, und vom 21. 7. 2000 – 2 BvR 1429/98 -, juris, Rdn. 3).

Diese Voraussetzungen sind derzeit in Bezug auf die Verfolgungssituation der Roma in Serbien nicht erfüllt.

Eine obergerichtliche Rechtsprechung, die die aktuelle Auskunftslage hinsichtlich der Verfolgungssituation der Roma in Serbien berücksichtigt, gibt es nicht. Bislang hat kein Oberverwaltungsgericht die Angaben von Dr. Waringo, die im beim VG Stuttgart anhängig gewesenen Klageverfahren A 11 K 5036/13 als Zeugin vernommenen worden ist und die von der Kammer im hier noch anhängigen Verfahren 4 K 802/13 eingeholten Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. 7. 2014 – 508-516.80/4817 – berücksichtigt. Nach den Angaben von Dr. Waringo sind die neuen serbischen Ausreise- und Grenzkontrollbestimmungen dazu bestimmt und werden diese Bestimmungen tatsächlich in asylrechtlich erheblicher Weise dazu eingesetzt, unter anderem Roma unter Missachtung des grundlegenden Menschenrechts der Ausreisefreiheit die Ausreise aus Serbien zu erschweren oder unmöglich zu machen.

Der wesentliche Inhalt der Aussage der Zeugin Dr. Waringo ist in dem Urteil des VG Stuttgart vom 25. 3. 2014 – A 11 K 5036/13 – abgedruckt; das Urteil kann im Internet etwa unter www.proasyl.de abgerufen werden.

Das Auswärtige Amt hat diesen Angaben von Dr. Waringo in seiner Auskunft vom 1. 7. 2014 aus den unten dargelegten Gründen nicht widersprochen, aber auch nicht bestätigt.

Es kann auch nicht unabhängig von einer gefestigten obergerichtlichen Rechtsprechung eine "anerkannte Rechtsauffassung" angenommen werden.

Die erstinstanzliche Rechtsprechung ist in der Bewertung der asylerheblichen Relevanz der Aussagen der Zeugin Dr. Waringo uneinheitlich. Während das VG Stuttgart in seinem Urteil vom 25.03.2014, a.a.O., maßgeblich unter Hinweis auf die Aussage der Zeugin und ihre Ausführungen in "Serbien – ein sicherer Herkunftsstaat von Asylsuchenden in Deutschland? Eine Auswertung von Quellen zur Menschenrechtssituation" (abrufbar im Internet unter www.proasyl.de) das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG in Bezug auf die klagenden Roma aus Serbien bejaht hat, lehnen das VG Sigmaringen, Urteil vom 28. 5. 2014 – 1 K 234/14 -, juris, und das VG Regensburg, Urteil vom 7. 5. 2014 – RO 6 K 14.30326 -, juris, auch unter Berücksichtigung der Angaben der von Dr. Waringo eine Gruppenverfolgung der Roma in Serbien und eine asylrechtlich beachtliche Einschränkung ihrer Ausreisefreiheit ab. Aus den Urteilen des VG Sigmaringen und des VG Regensburg ergibt sich nicht, dass Dr. Waringo und ihr folgend das VG Stuttgart einer sich aufdrängenden Fehleinschätzung der Situation der Roma in Serbien unterliegen. Das VG Sigmaringen und das VG Regensburg haben vielmehr die Einschätzung des VG Stuttgart und die tatsächlichen Angaben und Einschätzungen der Zeugin Dr. Waringo nicht durchgreifend in Frage gestellt.

Das VG Sigmaringen stützt seine in Bezug auf die Ausreisefreiheit der Roma vom VG Stuttgart abweichende Einschätzung maßgeblich darauf, dass die dem VG Sigmaringen vorliegenden Erkenntnisquellen keine hinreichende Tatsachengrundlage für die Richtigkeit der Angaben der vom VG Stuttgart vernommenen Zeugin Waringo enthielten. Diese Auffassung des VG Sigmaringen überzeugt (jedenfalls) nicht in einer das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes in dem Bescheid vom 6. 6. 2014 tragenden Weise. Abgesehen davon, dass das VG Sigmaringen die in seinem Urteil angesprochenen Erkenntnisquellen nicht im Einzelnen dargelegt hat, lassen sich allein daraus, dass andere (ältere) Erkenntnisquellen die Angaben der Zeugin Waringo nicht stützen, keine durchgreifenden Zweifel an der Richtigkeit der Angaben der Zeugin herleiten. Denn aus dem Urteil des VG Sigmaringen geht nicht hervor, dass dem Gericht Erkenntnisquellen vorliegen, die sich mit der Einschätzung der Zeugin Waringo auseinandersetzen.

Soweit das VG Regensburg, a.a.O., Rdn. 20, darauf verweist, dass Art. 17 der serbischen Verfassung ausdrücklich ein Recht auf Bewegungsfreiheit vorsehe, welches das Recht beinhalte, Serbien zu verlassen und wieder nach Serbien zurückzukehren, trifft dies zu und wird dieser rechtliche Ausgangspunkt auch von der Zeugin Dr. Waringo und dem VG Stuttgart zugrundegelegt. Der Verweis auf Art. 17 der serbischen Verfassung besagt aber nichts über die tatsächliche Anwendung der serbischen Ausreisebestimmungen. Der weitere Verweis des VG Regensburg, a.a.O., Rdn. 20, darauf, dass Verstöße gegen das bayerische Meldegesetz bußgeldbewehrt sind, ist auch im Ansatz nicht geeignet, die asylerhebliche Beachtlichkeit des serbischen Meldegesetzes in Frage zu stellen, wonach sich Personen, die länger als 90 Tage im Ausland bleiben, vor ihrer Ausreise und bei ihrer Rückkehr sich bei den zuständigen serbischen Behörden melden müssen und Verstöße hiergegen mit Geldstrafen geahndet werden können. Denn nach den Angaben von Dr. Waringo, die sie auf Informationen des Center for Minorities stützt, werden die serbischen melderechtlichen Bestimmungen tatsächlich selektiv auf Roma angewendet (Dr. Waringo, Serbien – ein sicherer Herkunftsstaat von Asylsuchenden in Deutschland? Eine Auswertung von Quellen zur Menschenrechtssituation, a.a.O., S. 41).

Diese tatsächliche Anwendung des serbischen Meldegesetzes und der damit beabsichtigten Zielrichtung der serbischen Stellen wird durch den bloßen Verweis auf das bayerische Melderecht nicht in Frage gestellt.

Schließlich liegt auch keine eindeutige und widerspruchsfreie Auskunftslage vor, die die Ablehnung der Asylanträge der Antragsteller als offensichtlich unbegründet rechtfertigt.

Nach den Angaben von Dr. Waringo in dem beim VG Stuttgart anhängig gewesenen Verfahren A 11 K 5036/13 zielen die geltenden serbischen Ausreise- und Grenzkontrollbestimmungen unter anderem darauf, den Roma die Ausreise aus Serbien zu erschweren oder unmöglich zu machen; diese Zielrichtung werde auch in der Praxis umgesetzt. Es drängt sich nicht auf, dass diese Angaben unzutreffend sind.

Das Auswärtige Amt hat in seiner Auskunft vom 1. 7. 2014 den Angaben von Dr. Waringo nicht widersprochen, die Angaben aber auch nicht bestätigt. Es hat zu den Ausreisebeschränkungen in seiner Auskunft vom 1. 7. 2014 ausgeführt:

"Die Antragszahlen (Erst- und Folgeanträge serbischer Asylbewerber in Deutschland) sind in den letzten Jahren massiv angestiegen (2012: 12.812 Asylanträge, 2013: 18.001 Asylanträge). Die serbischen Asylbewerber reisen überwiegend legal mit Reisebussen ins Schengengebiet ein.

Eine gesetzliche Regelung, die die Behinderung oder Verhinderung der Ausreise von serbischen Staatsangehörigen vorsieht, existiert nicht. Allerdings sieht die 'Verordnung zur näheren Regelung der Art der Ausübung der polizeilichen Befugnisse der Grenzpolizisten und den Pflichten der Personen, die die Grenze überqueren', vor, dass Grenzpolizisten außer dem Reisepass noch die Vorlage weiterer Unterlagen zum Reisezweck und der Rückkehrbereitschaft (z.B. Hotelbuchung, Einladung etc.) von Personen, die die serbische Grenze überqueren, verlangen können. Diese Verordnung ist Mitte 2011 in Kraft getreten. Es finden außerdem umfangreiche Aufklärungskampagnen unter Einschluss aller Print- und elektronischen Medien statt. Flyer und Plakate an Grenzübergängen erläutern die Voraussetzungen der visafreien Einreise in das Schengengebiet und die Problematik der missbräuchlichen Asylantragstellung."

Diese Auskunft ist unergiebig. Denn das Auswärtige Amt geht auf die tatsächliche Zielrichtung der Praxis der serbischen Grenzbehörden und der Aufklärungskampagnen über die Voraussetzungen der visafreien Einreise in das Schengengebiet und die "Problematik" der missbräuchlichen Asylantragstellung nicht ein. Die Auskunft des Auswärtigen Amtes erschöpft sich darin, die Befugnis der serbischen Grenzpolizei darzustellen und auf serbische Aufklärungskampagnen über die visafreie Ausreise in das Schengengebiet und die Problematik einer missbräuchlichen Asylantragstellung hinzuweisen. Die ausdrücklich in dem Beweisbeschluss der Kammer vom 22. 5. 2014 – 4 K 802/13.A – angesprochene Frage, ob die neuen serbischen Ausreise- und Grenzkontrollbestimmungen ausdrücklich dazu bestimmt und eingesetzt werden, Angehörigen von Minderheiten die Ausreise aus Serbien zu erschweren oder diese unmöglich zu machen, ist damit (formell) nicht beantwortet worden. Offen ist auch, ob das Auswärtige Amt hierzu deshalb nicht näher Stellung genommen hat, weil es die Angaben von Dr. Waringo und die darauf gestützte Einschätzung des VG Stuttgart hinsichtlich der Ausreisefreiheit der Roma in Serbien für zutreffend hält. [...]