VG München

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Zitieren als:
VG München, Beschluss vom 26.08.2014 - M 15 S 7 14.50506 - asyl.net: M22200
https://www.asyl.net/rsdb/M22200
Leitsatz:

Sind auf der Zustellungsurkunde und auf dem Zustellungsbriefumschlag unterschiedliche Daten der Zustellung verzeichnet, ergeben sich aus den beiden abweichenden Eintragungen ernstliche Zweifel an der früheren Zustellung. Diese gehen zu Lasten der Behörde, da sie im Zweifel die Beweislast für die Bekanntgabe trägt.

Angesichts neuerer Erkenntnisquellen über die Gesetzesänderung zur Inhaftierung von Asylsuchenden in Ungarn ist bis zur Entscheidung über die Klage von einer Zurücküberstellung nach Ungarn abzusehen.

Schlagwörter: Zustellung, Umschlag, Briefumschlag, Zustellungsdatum, Datum, Dublinverfahren, Aufnahmebedingungen, Ungarn, systemische Mängel, Asylverfahren, Dublin-Rückkehrer, Postzustellungsurkunde,
Normen: VwVfG § 31 Abs. 1, BGB § 187 Abs. 1, BGB § 88 Abs. 2, BGB § 193,
Auszüge:

[...]

In seinem Beschluss vom 28. Juli 2014 hat das Gericht den Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mit der Begründung abgelehnt, dieser sei unzulässig, weil er verspätet erhoben wurde und eine Wiedereinsetzung in die Antragsfrist nicht zu gewähren sei. Aufgrund neu vorgetragener Umstände geht das Gericht demgegenüber nun davon aus, dass der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO fristgerecht erhoben wurde.

Ausweislich der Zustellungsurkunde (Blatt 104 der Behördenakten) wurde der angefochtene Bescheid - der eine zutreffende Rechtsbehelfsbelehrung in deutscher und englischer Sprache enthält (§ 58 VwGO) - dem Antragsteller am Freitag, den 4. Juli 2014 in der Justizvollzugsanstalt Mühldorf am Inn im Wege der Ersatzzustellung (§ 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i.V.m. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO) an den Leiter der Einrichtung oder einen dazu ermächtigten Vertreter zugestellt. Hiernach wäre die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG am Freitag, den 11. Juli 2014 abgelaufen (vgl. § 31 Abs. 1 VwVfG, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB), der erst am 14. Juli 2014 erhobene Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO mithin verfristet.

Im Rahmen seines Antrags nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ließ der Antragsteller dann erstmals eine Kopie des Zustellungsbriefumschlags vorlegen. Auf dem Briefumschlag befindet sich neben dem Bescheidsdatum (3. Juli 2014) und dem Aktenzeichen des Bundesamts (5768397-460) auch die Unterschrift desselben Zustellers, der auch die Postzustellungsurkunde unterschrieben hat; als Zustellungsdatum ist hier der 5. Juli 2014 eingetragen. Hiernach wäre die Wochenfrist des § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG erst am Montag, den 14. Juli 2014 abgelaufen (vgl. § 31 Abs. 1 VwVfG, §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2, 193 BGB) und der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO fristgerecht erhoben.

Aus den beiden abweichenden Eintragungen ergeben sich jedenfalls ernstliche Zweifel an einer Zustellung am 4. Juli 2014. Diese gehen zu Lasten der Beklagten, da sie im Zweifel die Beweislast für die Bekanntgabe trägt (vgl. Kopp/Ramsauer, VwVfG, 10. Aufl. 2008, § 41 Rn. 22 m.w.N. aus der Rechtsprechung). Es ist daher von einer Zustellung am 5. Juli 2014 und damit einer fristgerechten Antragstellung nach § 80 Abs. 5 VwGO auszugehen. [...]

Die Frage, ob in Ungarn "systemische Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber" im Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vorliegen und ob eine Überstellung nach Ungarn einen Verstoß gegen Art. 4 der EU-GR-Charta bzw. Art. 3 EMRK darstellt, wird in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte unterschiedlich beantwortet (vgl. in diesem Sinne z.B. VG Düsseldorf, B.v. 28.5.2014 - 13 L 172/14.A; VG Sigmaringen, B.v. 22.4.2014 - A 5 K 972/14; VG Freiburg, B.v. 7.3.2014 - A 5 K 93/14; VG Bremen, B.v. 17.1.2014 - 4 V 2132/13.A; VG Ansbach, B.v. 7.1.2014 - AN 2 S 13.31030; VG München, B.v. 11.11.2013 - M 18 S 13.3119; B.v. 23.12.2013 - M 23 S 13.31303; B.v. 9. Juli 2014 - M 23 S 14.50308; B.v. 31.7.2014 - M 23 S 14.50288; a.A. z.B. VG Augsburg, B.v. 11.6.2014 -Au 7 S 14.50135; VG Trier, B.v. 16.4.2014 - 5 L 569/14 TR; VG München, B.v. 11.4.2014 - M 16 S 14.50043; VG Ansbach B.v. 31.3.2014 - AN 9 S 13.31028 - alle juris).

Obergerichtliche Rechtsprechung zu dieser Frage liegt soweit ersichtlich - abgesehen von den Beschlüssen des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalts vom 31. Mai 2013 (4 L 169/12) und des Verwaltungsgerichtshofs Baden-Württemberg vom 6. August 2013 (12 S 675/13 - juris) - bislang nicht vor. In letzterer Entscheidung vertritt der Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg die Auffassung, dass nicht ernsthaft zu befürchten sei, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Asylsuchende in Ungarn systemische Mängel aufweisen, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der nach dort überstellten Asylbewerber erwarten lassen, was im Einzelnen unter Auswertung der damals vorhandenen Erkenntnisquellen ausgeführt wurde.

Nach Einschätzung des Oberverwaltungsgerichts Sachsen-Anhalt sei weder aus der Stellungnahme des Helsinki Komitees vom 8. April 2013 noch aus dem Bericht des UNHCR vom April 2013 hinreichend ersichtlich, dass die (zum Entscheidungszeitpunkt noch nicht in Kraft getretenen) Gesetzesänderungen im ungarischen Asylgesetz zu systemischen Mängeln führten. Berichte zu Haftbedingungen aus der Vergangenheit würden sich auf Fälle automatischer Inhaftierung von Asylbewerbern und Dublin-Rückkehrern beziehen; eine solche automatische Inhaftierung finde gerade nicht mehr statt.

Weiterhin hat der Europäische Gerichtshof in einer Kammerentscheidung Vom 6. Juni 2013 für Recht erkannt, dass die Abschiebung nach Ungarn keine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellt (Case of Mohammed v. Austria - Application No. 2283/12, verfügbar unter hudoc.echr.coe.int). Als Grundlage für diese Bewertung zieht der Gerichtshof dabei auch maßgeblich den Bericht des UNHCR vom Dezember 2012 ("Note on Dublin transfers to Hungary of people who transited through Serbia - update") zu den Gesetzesänderungen in Ungarn heran.

Nicht bzw. nur teilweise berücksichtigt werden konnten in diesen Entscheidungen allerdings die zwischenzeitlich vorliegenden neueren Erkenntnisse, wonach in Ungarn insbesondere zum 1. Juli 2013 eine erneute Gesetzesänderung in Kraft getreten ist, bei der Inhaftierungen von Asylbewerbern für einen Zeitraum von bis zu sechs Monaten vorgesehen sind. Sowohl UNHCR als auch der Europäische Flüchtlingsrat sowie das ungarische Helsinki Komitee warnen, dass die Rechtsgrundlagen für eine Inhaftierung von Personen, die internationalen Schutz suchen, zu weitgehend seien und daher ein erhebliches Risiko einer umfassenden Inhaftierung von Asylbewerbern bestehe (vgl. UNHCR, UNHCR Comments and Recommendations on the Draft Modification of certain migration-related Legislative Acts for the Purpose of Legal Harmonisation, 12. April 2013, S. 7 f., S. 10; European Council on Refugees and Exiles - ECRE Weekly Bulletin, 14.6.2013, S. 3; Hungarian Helsinki Committee, Brief Information Note on the Main Asylum-Related Legal Changes in Hungary as of 1 July 2013, S. 2, verfügbar unter www.helsinki.hu). Die Gesetzesänderung sieht als Grund für die Inhaftierung von Asylbewerbern u.a. die Feststellung ihrer Identität oder Nationalität vor, auch ernstliche Gründe für die Annahme, dass der Asylsuchende das Asylverfahren verzögert oder vereitelt oder Fluchtgefahr bei ihm besteht, stellen einen Inhaftierungsgrund dar. (vgl. Hungarian Helsinki Committee, a.a.O., S. 2). UNHCR äußert dabei in seiner Stellungnahme zum Gesetzentwurf die Vermutung, dass Hauptziel dieser (zeitlich vorgezogenen) Gesetzesänderung eine Senkung der Zahl der Asylanträge sei. Inhaftierung würde als Instrument zur Kontrolle von Migration eingesetzt, um illegale Einreise zu pönalisieren und unrechtmäßige Weiterwanderung zu verhindern (vgl. UNHCR, a.a.O., S. 7 f.). Weiterhin berichtet das ungarische Helsinki Komitee davon, dass im Hinblick auf die steigende Zahl der Asylsuchenden in Ungarn (mehr als 10.000 Asylbewerber seien im Zeitraum von Januar bis Juni 2013 registriert worden) die Hauptaufnahmeeinrichtung in Debrecen deutlich überbelegt sei (über 1.300 Asylsuchende Mitte Juni), was zu ernsthaften Problemen geführt habe, insbesondere zu einer eklatanten Verschlechterung der hygienischen Bedingungen. Auch der aktuelle Bericht der Arbeitsgruppe über willkürliche Inhaftierungen des "United Nations Human Rights Office of the High Commissioner" über einen Besuch in Ungarn vom 23. September bis 2. Oktober 2013 kritisiert die Inhaftierungspraxis in Ungarn, insbesondere auch die fehlenden effektiven Rechtsschutzmöglichkeiten und mahnt solide Verbesserungen an (vgl. United Nations Human Rights Office of the High Commissioner - Working Group on Arbitrary Detention, Statement upon conclusion of its visit to Hungary - 23 September - 2 Oktober 2013 - S. 4, unter www.ohchr.org). Ebenso kommt der aktualisierte und ergänzte Bericht von Pro Asyl "Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit" zu dem Ergebnis, dass in Ungarn derzeit von "systematischen Mängeln" in den Aufnahmeeinrichtungen auszugehen sei. Es sei aufgrund des massiven Anstiegs von Asylanträgen davon auszugehen, dass die "systemischen Mängel" noch weiter zunehmen würden. Sollte der Großteil der Asylantragsteller, die sich derzeit in anderen EU-Staaten aufhielten, zurück nach Ungarn überstellt werden, so wären die vorhandenen Aufnahmeeinrichtungen für Asylsuchende keinesfalls in der Lage, eine menschenwürdige Unterbringung zu gewährleisten (vgl. Pro Asyl, "Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit", Stand Oktober 2013 (http://bordermonitoring.eu/files/2012/10/Ungarn_Update_Oktober_2013.pdf, S. 35 f.). Auch der aktualisierte Bericht des ungarischen Helsinki Komitees (Hungarian Helsinki Committee, "Information Note On Asylum-Seekers In Detention And In Dublin Procedures In Hungary", Stand: Mai 2014, der aida Länderbericht (alda, Asylum Information Database, National Country Report Hungary, Stand: 30. April 2014, sowie die Stellungnahme des UNHCR vom 9. Mai 2014 an das Verwaltungsgericht Düsseldorf (vgl. B. v. 28.5.2014 - 13 L 172/14 A - juris) bestätigen diese erheblichen aktuellen Bedenken.

Insbesondere im Hinblick auf diese neueren Erkenntnisquellen sind die Erfolgsaussichten der Klage nach summarischer Prüfung derzeit als offen anzusehen. Eine eingehendere Prüfung muss dem Hauptsacheverfahren vorbehalten bleiben. Dort wird zu klären sein, ob die bestehenden Bedenken tatsächlich durchgreifen und deshalb ein Selbsteintritt der Antragsgegnerin geboten ist. Im Eilrechtsschutzverfahren ist jedenfalls bei der Abwägung das Interesse des Antragstellers, bis zur Entscheidung über seine Klage nicht zwangsweise nach Ungarn rücküberstellt zu worden, angesichts der ihm nicht ausschließbar drohenden Gefahr einer menschenunwürdigen Behandlung höher zu bewerten als das öffentliche Interesse an einer möglichst umgehenden Rückführung des Antragstellers. [...]