LSG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
LSG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 20.08.2014 - L 2 AS 1119/14 B ER - asyl.net: M22212
https://www.asyl.net/rsdb/M22212
Leitsatz:

Der Ausschlussgrund des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II gilt nur, wenn positiv festgestellt werden kann, dass dem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik zusteht. Kann sich der Leistungsempfänger demgegenüber nach den besonderen Einzelfallumständen auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen, ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht anwendbar.

Schlagwörter: Existenzminimum, gewöhnlicher Aufenthalt, Leistungsausschluss, Unionsbürger, Aufenthalt zum Zweck der Arbeitssuche, Schwangerschaft, vorgeburtlich, Geburt, Entbindung, Schutz von Ehe und Familie, Adoption, SGB II, Sozialleistungen, Kindeswohl,
Normen:
Auszüge:

[...]

Dem Anspruch steht auch die Vorschrift des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht entgegen. Es kann insoweit dahinstehen, ob der Leistungsausschluss des § 7 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 SGB II mit dem Gemeinschaftsrecht der Europäischen Union vereinbar ist, weil sich die Antragstellerin nicht vorrangig zur Arbeitssuche, sondern zur Ausübung der Prostitution bzw. aktuell zur Entbindung und nachfolgenden Vermittlung des Kindes zur Adoption in Deutschland aufhält. Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG), der sich der Senat anschließt, gilt die eng auszulegende Ausschlussregelung des § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nur, wenn positiv festgestellt werden kann, dass dem Unionsbürger ein Aufenthaltsrecht allein zur Arbeitssuche in der Bundesrepublik zusteht (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, juris RdNrn. 23 - 27). Kann sich der Leistungsempfänger demgegenüber nach den besonderen Einzelfallumständen auch auf ein anderes Aufenthaltsrecht berufen, ist § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II nicht anwendbar. Ein anderes Aufenthaltsrecht einer Schwangeren kann sich dabei auch aus der zu erwartenden Geburt des Kindes ergeben (vgl. BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, juris RdNr 31). Das BSG hat in der entsprechenden Entscheidung ausgeführt, dass § 11 Abs. 1 Satz 5 Freizügigkeitsgesetz/EU (FreizügG/EU) bestimme, dass das Aufenthaltsgesetz (AufenthG) auch auf Unionsbürger angewendet werden kann, wenn es eine für diesen günstigere Regelung vermittelt. Eine solche günstigere Regelung könne § 7 Abs. 1 Satz 3 AufenthG sein, der die Möglichkeit biete, in begründeten Fällen im Wege einer Ermessensentscheidung eine Aufenthaltserlaubnis auch für einen in diesem Gesetz nicht genannten Aufenthaltszweck zu erteilen. Ein solcher anderer Aufenthaltszweck könne dabei insbesondere die bevorstehende Geburt eines Kindes sein (vgl. erneut BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, juris RdNrn. 32 ff.). Eine damit in Zusammenhang stehende bevorstehende Familiengründung könne unter Berücksichtigung der Schutzpflicht des Staates aus Art. 6 GG einen anderen Aufenthaltszweck begründen. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung werde diesbezüglich angenommen, dass die bevorstehende Geburt eine aufenthaltsrechtliche Vorwirkung im Sinne eines Abschiebungshindernisses begründe, wenn der Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 Grundgesetz (GG) und die aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 und Art. 1 Abs. 1 GG abzuleitende Schutzpflicht für die Gesundheit der werdenden Mutter und des Kindes dies gebieten (vgl. erneut BSG, Urteil vom 30.01.2013 - B 4 AS 54/12 R, juris RdNrn. 35 ff.).

Eine solche Familiengründung ist im vorliegenden Fall zwar nicht beabsichtigt, die grundrechtlichen Belange der Mutter und des ungeborenen Kindes und die insoweit bestehenden Schutzpflichten des Staates aus Art. 6 Abs. 4, Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 1 Abs. 1 GG sind aber in gleicher Weise berührt und begründen ein Abschiebehindernis. Eine Rückreise zur Entbindung nach Rumänien ist der Antragstellerin, die bereits zu Beginn des Eilverfahrens im siebten Monat schwanger war, auch vor dem Hintergrund der festgestellten Infektionen nicht zumutbar und gefährdet nicht nur ihre eigene, sondern auch die körperliche Unversehrtheit des ungeborenen Kindes. In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist aber anerkannt, dass auch die sich aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ergebenden umfassenden staatlichen Schutzpflichten und der allgemein zu beachtende Grundsatz der Menschenwürde als oberstes Prinzip der Rechtsordnung es gebieten, von der Durchführung aufenthaltsbeendender Maßnahmen abzusehen, wenn diese das Leben und die körperliche Unversehrtheit des betreffenden Ausländers gefährden (vgl. Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 20.07.1989 - 13 TH 1981/89, juris RdNr. 7). Vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der in Deutschland geplanten Adoption, die angesichts der Umstände, unter denen die Antragstellerin lebt, dem auch durch Art. 24 der Grundrechtscharta der EU (GRCh) besonders geschütztem Kindeswohl entsprechen dürfte, geht der Senat davon aus, dass bei der Antragstellerin ebenfalls ein Aufenthaltsrecht nach § 7 Abs.1 Satz 2 AufenthG bestehen kann. Ihre Grundrechte sowie die Grundrechte des ungeborenen Kindes rechtfertigen es, vorläufige Regelleistungen zu gewähren, auch um damit den insbesondere bei einer Risikoschwangerschaft erforderlichen Krankenversicherungsschutz zu gewährleisten (vgl. hierzu auch Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 25.03.2010 - L 7 AS 327/10 B, juris RdNr. 10). [...]