VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 23.07.2014 - 7a K 834/14.A - asyl.net: M22214
https://www.asyl.net/rsdb/M22214
Leitsatz:

Stellt das Bundesamt das Wiederaufnahmeersuchen fast ein Jahr nach dem Asylantrag, ohne dass Gründe für diese Verzögerung ersichtlich sind, so verletzt die unangemessen lange Verfahrensdauer die Rechte des Betroffenen.

Derzeit ist davon auszugehen, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Italien systemische Mängel aufweisen, die die Ausübung des Selbsteintrittsrechts gebieten.

Schlagwörter: Aufnahme, Wiederaufnahme, Übernahmeersuchen, Dublin II-VO, Dublinverfahren, unangemessen langes Verfahren, Verfahrensdauer, Italien, Beschleunigungsgebot, systemische Mängel, Durchentscheiden,
Normen: VO 343/2003 Art. 17 Abs. 1 S. 2,
Auszüge:

[...]

I. Das Verfahren zur Prüfung der Zuständigkeit Deutschlands für die Durchführung der Asylverfahren hat im Falle des Klägers unangemessen lange gedauert und damit seine Rechte aus Art. 18 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EUGrCh - verletzt.

Maßgeblich ist im vorliegenden Fall nicht die Regelung des Art. 17 Abs. 1 Satz 2 Dublin II-VO. Dieser regelt nur den Fall, dass ein anderer Mitgliedstaat um die "Aufnahme" eines Asylbewerbers ersucht werden soll, gilt aber nicht für das hier einschlägige Verfahren der "Wiederaufnahme" (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014 - A 11 S 1721/13 -, a.a.O., Rdrn. 31 f.; VG Gelsenkirchen, Beschlüsse vom 4. Februar 2014 - 3a L 1893/13.A -, juris m.w.N. und vom 26. März 2014 - 6a L 297/14.A -, juris).

Allerdings ist jeder Mitgliedstaat durch Art. 18 EUGrCH gehalten, die Zuständigkeitsprüfung auch in Wiederaufnahmeverfahren zügig durchzuführen und die Entscheidung darüber, ob eine Rückführung in einen anderen Mitgliedstaat in Betracht kommt, nicht unangemessen zu verzögern, wenn er sich hierauf berufen will. Eine Verletzung dieser Pflicht verletzt den Anspruch des Asylbewerbers aus Art. 18 EuGrCh in seinen verfahrensrechtlichen Garantien. Die Dublin II-VO zielt nach ihrem fünfzehnten Erwägungsgrund insbesondere darauf ab, die uneingeschränkte Wahrung des in Art. 18 EuGrCh verankerten Rechts auf Asyl zu gewährleisten (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011, - C-411/10 -, InfAuslR 2012, Rdrn. 98, 108; Urteil vom 14. November 2013 - C-4/11 -, juris, Rdnr. 33, 35; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 30. Dezember 2013 - 5a L 1726/13.A -, juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 10. Februar 2014, - 25 K 8830/13.A -, juris; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 16. April 2014, - A 11 S 1721/13 -, a.a.O., jeweils m.w.N.).

Zur Beurteilung der Angemessenheit ist der Maßstab der Dublin II-VO selbst heranzuziehen. Nach ihrem vierten Erwägungsgrund soll diese Verordnung eine rasche Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats ermöglichen, um den effektiven Zugang zu den Verfahren zur Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft zu gewährleisten und das Ziel einer zügigen Bearbeitung der Asylanträge nicht zu gefährden. Als Anhaltspunkt können die zwar nicht unmittelbar anwendbaren, aber dem Beschleunigungsgrundsatz dienenden Bestimmungen der Dublin II-VO - hier Art. 17 Abs. 1 Satz 2 - entsprechend herangezogen werden. Auch in der Neuregelung der Dublin-Verordnung sind wiederum - in Art. 21 Abs. 1 und Art. 23 Abs. 2 Dublin III-Verordnung (EU) Nr. 604/2013 - Fristen für die Anträge auf Aufnahme bzw. Wiederaufnahme festgelegt worden, die sich im Rahmen von zwei oder drei Monaten bewegen (vgl. VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 26. März 2014, a.a.O.; VG Bremen, Beschluss vom 3. Februar 2014 - 5 V 2102/13.A -, juris).

Davon ausgehend ist im Falle des Klägers seit Stellung seines Asylantrags in Deutschland eine unangemessen lange Zeit verstrichen, bevor das Bundesamt sich ihm gegenüber auf die Zuständigkeit Italiens berufen hat. Seit Anbringung des Asylgesuchs in Deutschland war ein Zeitraum von knapp einem Jahr vergangen, ohne dass für den Kläger ein Grund für die Verzögerung ersichtlich war.

Der Kläger hat sein Asylgesuch in Deutschland unter dem 28. Februar 2013 angebracht. Wenige Tage danach, am 5. März 2013, erreichte das Bundesamt die Nachricht über einen EURODAC-Treffer für Italien. Das Bundesamt hat erst fast zehn Monate später, am 30. Dezember 2013, ein Wiederaufnahmeersuchen an Italien gerichtet und dies den Prozessbevollmächtigten des Klägers mit Schreiben vom gleichen Tage mitgeteilt. Der angefochtene Bescheid, der die Rückführung nach Italien anordnet, datiert vom 10. Februar 2014 und wurde unter dem 13. Februar 2014 an die letzte bekannte Anschrift des Klägers zugestellt.

Gründe für die mit der langen Verfahrensdauer verbundene Rechtsverletzung der Kläger sind der Akte nicht zu entnehmen. Insbesondere stellt der überwiegende Aufenthalt des Klägers in L. unter einer dem Bundesamt nicht mitgeteilten Adresse keinen zureichenden Grund dar. Bereits im Juli 2013 hatten sich die Prozessbevollmächtigten des Klägers beim Bundesamt gemeldet. Über sie wäre eine frühere Kontaktaufnahme möglich gewesen.

II. Die Beklagte ist auch deshalb zur Ausübung des Selbsteintrittsrechts gem. Art. 3 Abs. 2 Satz 1 Dublin II-VO verpflichtet, weil Asylverfahren und Aufnahmebedingungen in Italien auch derzeit noch systemische Mängel aufweisen, die die Prognose rechtfertigen, dass der Asylbewerber dort mit beachtlicher, d.h. überwiegender Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt sein wird (vgl. zum Maßstab zuletzt: BVerwG, Urteil vom 19. März 2014 - 10 B 6/14 -, juris, Rdnr. 9 m.w.N.).

Zur Situation von Asylbewerbern und Flüchtlingen in Italien und zu den dortigen Aufnahmebedingungen hat die Kammer in Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes - zuletzt Beschluss vom 16. Juni 2014, Az. 7a L 835/14.A - unter Auswertung der vorliegenden Erkenntnisquellen Folgendes ausgeführt:

"Gem. § 34 a Abs. 1 S. 1 und 2 des Asylverfahrensgesetzes - AsylVfG - ordnet das Bundesamt, wenn die Abschiebung in einen sicheren Drittstaat (§ 26a AsylVfG) oder in einen für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat (§ 27a AsylVfG) erfolgen soll, die Abschiebung an, sobald feststeht, dass sie durchgeführt werden kann. Gegenüber dem Antragsteller ist die Abschiebung nach Italien, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und insofern in einen kraft verfassungsrechtlicher Bestimmung sicheren Drittstaat (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 des Grundgesetzes (GG); § 26a Abs. 2 AsylVfG), angeordnet worden. Darüber hinaus ergibt sich die Zuständigkeit Italiens aus § 27a AsylVfG i. V. m. Art. 12, 13 der Verordnung (EG) Nr. 604//2013 - Dublin III-Verordnung -. Nach § 27a AsylVfG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Das ist hier grundsätzlich der Fall, weil der Antragsteller bereits am 30.August 2011 einen Asylantrag in Italien gestellt hat (vgl. Art. 12, 13 Dublin III-VO).

Aus Sicht der Kammer spricht allerdings Überwiegendes dafür, dass die Antragsgegnerin von ihrem Selbsteintrittsrecht aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-Verordnung Gebrauch machen und das Asylbegehren in eigener Zuständigkeit prüfen muss. Nach dieser Vorschrift kann jeder Mitgliedsstaat einen von einem Drittstaatsangehörigen eingereichten Asylantrag prüfen, auch wenn er nach den in dieser Verordnung festgelegten Kriterien nicht für die Prüfung zuständig ist, und wird dadurch zum zuständigen Mitgliedsstaat im Sinne der Verordnung.

Das hiernach dem Mitgliedsstaat grundsätzlich eingeräumte Ermessen dürfte voraussichtlich in Bezug auf die Rücküberstellung nach Italien derzeit auf null reduziert sein, weil dort gegenwärtig systemische Mängel des Asylverfahrens zu besorgen sind, denen der Antragsteller ausgesetzt sein wird.

Die den Regeln des Selbsteintrittsrechts und der Dublin-III-VO zugrundeliegende Vermutung, dass die Behandlung der Asylbewerber in jedem einzelnen Mitgliedstaat im Einklang mit den Erfordernissen der Charta der Grundrechte der Europäischen Union - EUGrdRCH -, der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten und der Genfer Flüchtlingskonvention steht (vgl. EuGH, Urteil vom 21. Dezember 2011 - C-411/10 -, NVwZ 2012, 417), trifft nach vorliegenden Erkenntnissen für Italien gegenwärtig wohl nicht zu. Dabei reicht allerdings nicht jede Verletzung von Verfahrens- oder materiellem Recht, um eine Selbsteintrittspflicht zu begründen. Ein Mitgliedstaat muss vielmehr die Überstellung eines Asylbewerbers an den zuständigen Mitgliedstaat im Sinne der Dublin-II-VO nur unterlassen, wenn ihm nicht unbekannt sein kann, dass das Asyl verfahren in diesem Mitgliedstaat systemische Mängel aufweist, die eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung der an diesen Mitgliedstaat überstellten Asylbewerber im Sinne von Art. 4 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union implizieren. In diesem Fall ist die Überstellung auch nach nationalem Verfassungsrecht unzulässig, wenn - bezogen auf den Drittstaat bzw. auf den zuständigen Staat - Abschiebungshindernisse durch Umstände begründet werden, die ihrer Eigenart nach nicht vorweg im Rahmen des Konzepts normativer Vergewisserung von Verfassung oder Gesetz berücksichtigt werden können und damit von vornherein außerhalb der Grenzen liegen, die der Durchführung eines solchen Konzepts aus sich selbst heraus gesetzt sind (vgl. BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 - 2 BvR 1938/93-, juris).

Ausgehend von diesen Maßstäben bestehen zum gegenwärtigen Zeitpunkt nach der im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes allein möglichen summarischen Prüfung hinreichende Anhaltspunkte dafür, dass das Asylverfahren und/oder die Aufnahmebedingungen in Italien an systemischen Mängeln leiden. Dementsprechend ist das Interesse des Antragstellers daran, Schutz entsprechend den im Europäischen Gemeinschaftsrecht vereinbarten Mindeststandards zu erlangen, vorrangig gegenüber dem öffentlichen Vollzugsinteresse.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller im Falle seiner Rücküberstellung nach Italien im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im zuvor dargestellten Sinne droht, er namentlich im Falle einer Überstellung nach Italien eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S. der Art. 4 EUGrdRCH, Art. 3 EMRK zu befürchten hat.

Dies zugrundegelegt, stellt sich die tatsächliche Situation von Schutzsuchenden in Italien nach der gegenwärtigen Erkenntnislage im Wesentlichen wie folgt dar:

Im Sommer 2013 ist die Zahl der in Italien ankommenden (Boots-)flüchtlinge - erneut - stark angestiegen (vgl. z.B. Zahlenangaben und Vergleiche 2011-2013 bei: Zeit online vom 10. Oktober 2013 unter Hinweis auf Material UNHCR; tagesschau.de vom 20. August 2013).

Die bis dahin schon bedenkliche Auslastung der Aufnahmekapazitäten hat sich verschlechtert.

Nach dem jüngsten Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe vom Oktober 2013, der auf einer Abklärungsreise nach Rom und Mailand, verschiedenen Interviews mit Vertretern von Nicht-Regierungs-Organisationen - NGO’s -, Behörden und Flüchtlingen sowie aktuellen Berichten über die Situation in Italien fußt, sind die Aufnahmekapazitäten der für alle Asylsuchenden vorgesehenen Erstaufnahmezentren CARA, in denen auch sog. Dublin-Rückkehrende im Falle ihrer Rücküberstellung nach Italien grds. - befristet - unterkommen können, ausgelastet. Das gilt auch für die bereitgestellten Plätze im sog. FER-Projekt (vom Europäischen Flüchtlingsrat finanzierte Unterkünfte), die an den Flughäfen Rom und Mailand angeboten werden. Die Anzahl der Plätze in diesen Projekten, die zeitlich beschränkt sind, ist ohnehin sehr gering (Schweizerische Flüchtlingshilfe - SFH -, Italien: Aufnahmebedingungen, Oktober 2013, S. 5, 14 ff., 20).

Auch das Zweitaufnahmesystem SPRAR, das auf einer Zusammenarbeit zwischen Gemeinden und NGO‘s basiert, ist ausgelastet; noch im Juli 2013 wurde vom italienischen Innenministerium wegen Überfüllung der Erstaufnahmezentren um Aufstockung der Plätze gebeten (vgl. SFH, a.a.O., S. 23, Fußnote 135 unter Bezugnahme auf eine e-Mail Auskunft von borderline-europe vom 7. August 2013).

Eine erhebliche Verschlechterung der Aufnahmebedingungen und deutliche Überbelegungen in den Zentren beklagt auch der UNHCR in seinen Empfehlungen vom Juli 2013 (UNHCR Recommendations on important Aspects of Refugee protection in Italy, Juli 2013, S. 9 ff.).

Die tatsächliche Überbelegung wird schließlich anhand des von der Liaisonbeamtin des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge in Rom vom 21. November 2013 unter Bezugnahme auf Daten des italienischen Innenministeriums vom 8. November 2013 übersandten Zahlenmaterials, das bestimmte Aufnahmezentren abdeckt (CARA/CDA), deutlich: Danach war dort in verschiedenen Orten "ursprünglich" eine Kapazität von insgesamt 6.180 Plätzen, sind "jetzt" 7.516 Plätze "vorgesehen", die tatsächlich mit 10.856 Schutzsuchenden belegt sein sollen (vgl. Wiedergabe der Information der Liaisonbeamtin in der Klageerwiderung der Antragsgegnerin im Verfahren 7a K 486/14.A.).

Die Frage, ob das vom italienischen Innenministerium übermittelte Zahlenmaterial belastbar ist, lässt die Kammer dabei offen.

Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. September 2013 an das OVG NRW (dort zu d) ist verlässliches Datenmaterial nicht zu erlangen; dahingehend auch: UNHCR, a.a.O., z.B. S. 10, 13.

Rücküberstellte haben nach Einschätzung einer italienischen Untersuchungskommission keine ausdrückliche Garantie für eine Unterbringung in einer Aufnahmeeinrichtung (vgl. Auskunft der italienischen Vereinigung für rechtliche Untersuchungen zur Situation von Einwanderern - ASGI - vom 20. November 2012 an das VG Darmstadt).

Die anderslautende Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 11. September 2013 an das Oberverwaltungsgericht NRW (dort zu c) legt die Kammer im vorläufigen Rechtsschutzverfahren angesichts der wiedergegebenen Erkenntnisse vor Ort tätiger Organisationen, der unter b) dieser Auskunft des Auswärtigen Amtes angedeuteten Schwierigkeiten bei der Unterbringung unter Hinnahme auch Wochen fehlender Unterkunft und mit Rücksicht darauf, dass nach Einschätzung des Auswärtigen Amtes kein belastbares Zahlenmaterial zu tatsächlichen Unterbringungsmöglichkeiten der Dublin-II-Rückkehrer von offizieller Seite zu erlangen ist (AA, Auskunft vom 11.09.2013, a.a.O., zu d)) nicht zugrunde.

Aus der Schwierigkeit, dauerhaft eine angemessene und sichere Unterkunft zu erlangen, folgen insbesondere von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe beschriebene Probleme der (Dauer-)Obdachlosigkeit, Verwahrlosung und auch der (sexuellen) Ausbeutung für die Schutzsuchenden (SFH, a.a.O., z.B. S. 40, 45).

Ein weiterer wesentlicher Mangel im System der Versorgung von Asylsuchenden ist darin zu sehen, dass der Mehrheit der Flüchtlinge - abgesehen von der Unterbringung in Erstaufnahmezentren - keine ausreichende Unterstützung und Hilfeleistungen zuteilwerden, die ein sozial würdiges Leben in einer für sie fremden Umgebung ermöglichen. Dazu gehört auch ein Mindestmaß an Integritätsbemühungen des Staates, um den Schutzsuchenden eine Teilnahme am Alltagsleben in Italien zu ermöglichen, wie etwa Sprachunterricht. Die vereinzelten Angebote decken den tatsächlichen Bedarf nicht annähernd ab (vgl. UNHCR, a.a.O., S. 10, 12 f: "their self-reliance remains a concern after the end of the emergency reception plan. This is mainly because of the poor quality of reception services, … more broadly, because of the economic situation in Italy."; SFH, a.a.O., S. 43 ff.).

Belastbare Auskünfte und Stellungnahmen aus jüngster Zeit, die die dargestellten allgemeinen Erkenntnisse erschüttern könnten, liegen bisher nicht vor.

Die Kammer folgt der Einschätzung des UNHCR in den "Empfehlungen", dass die Missstände insoweit auf fehlender strategischer und struktureller Planung und zuverlässiger Koordinationsmechanismen auf zentraler Ebene beruhen. Diese Bewertung wird von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe erneut im aktuellen Bericht geteilt (UNHCR, a.a.O., S. 10,13.; ebenso: SFH, a.a.O., S. 7).

Die Kammer stuft diese Mängel insgesamt als systemisch ein, weil sie auf einem unzureichenden Aufnahmesystem und einem fehlendem materiellen und sozialen Sicherungsnetz beruhen, das der italienische Staat trotz ausreichender rechtlicher Rahmenbedingungen nicht bereitstellt (ebenso: VG Gießen, Urteil vom 25. November 2013 - 1 K 844/11.GI.A - juris, insbes. Rdnr. 33 f m.w.N.; VG Frankfurt a.M., Urteil vom 9. Juli 2013 - 7 K 560/11.F.A. -, juris Rdnr. 24 ff; VG Köln, Beschluss vom 7. Mai 2013 - 20 L 613/13.A - juris, VG Aachen, Beschluss vom 14. März 2013 - 9 L 53/13.A, juris, VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 17. Mai 2013 - 5a L 566/13.A -, juris).

Am 4. Juni 2013 hat das italienische Innenministerium einen sog. EASO-Support-Plan beschlossen und mit dem Europäischen Asylunterstützungsbüro EASO einen Unterstützungsplan vereinbart. Dies verdeutlicht, dass der italienische Staat derzeit selbst davon ausgeht, den Mindestnormen der Gemeinschaft für die Aufnahme von Asylbewerbern nicht aus eigenen Kräften zu entsprechen. Dieser "Hilfsplan" reicht bis Ende 2014 (vgl. EASO press-release 4.6.2013, EASO-Italy-Special-Support-Plan).

Ob die Situation der Flüchtlinge sich dadurch nachhaltig bessert, bleibt abzuwarten.

An der Einschätzung hält die Kammer auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW fest. Das Urteil des OVG NRW vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, das die Rücküberstellung nach Italien für zulässig erachtet, beruht auf der Erkenntnislage, die auch die Kammer zugrundegelegt hat. Der Auffassung des Senats, die sich aus der Erkenntnislage ergebende Situation in Italien lasse noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EUGRCh überschreitendes Versagen des Staates erkennen, vermag die Kammer aus den dargelegten Gründen gegenwärtig – auch unter Berücksichtigung der im Jahr 2014, namentlich seit April des Jahres, zu beobachtenden erheblichen Zunahme der Flüchtlingszahlen (vgl. z.B. Frankfurter Rundschau – online – vom 15. Mai und vom 15. Juni 2014, wonach seit Januar rd. 54.000 Flüchtlinge das Land erreicht haben) - nicht zu folgen.

Die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 2. April 2013 (Nr. 277725/10 Mohammed Hussein et al v. the Netherlands and Italy), die sich auf den Sonderfall einer in Italien bereits unter Schutz "subsidiary protection" stehenden somalischen Frau mit zwei Kindern bezieht, die in Italien ein Aufenthaltsrecht und Reisedokumente für mehrere Jahre innehatte (EGMR, a.a.O., Nr. 6), ist wegen der Sonderheiten dieses Personenkreises mit dem vorliegenden Sachverhalt nicht vergleichbar. Zudem stellt der EGMR in seiner Entscheidung auf der Grundlage zahlreicher Erkenntnisse die dargestellten Missstände heraus (EGMR, a.a.O., Nr. 78. unter Hinweis auf die Ziffern 43 ff.), hält diese aber in Bezug auf den Personenkreis der anerkannten Flüchtlinge mit Aufenthaltsrecht nicht für ausreichend, um einen systemischen Mangel darzutun, wie er in einem vorangegangenen Verfahren zu Griechenland festgestellt worden sei (EGMR, a.a.O., Nr. 78).

Wegen divergierender Rechtsauffassung der 5. Sektion des EGMR soll zudem die Große Kammer des EGMR mit der Problematik der Aufnahmebedingungen in Italien befasst sein (vgl. Hinweis hierauf im Beschluss des VG Würzburg vom 3. Februar 2014 - W 6 S 14.30087 - juris Rdnr. 16, sowie Ersuchen der 5. Sektion des ECHR an die Bundesrepublik Deutschland vom 13. Februar 2013 im Fall Nr. 81498/12 Isse and Mousa vs. Germany, innerhalb eines bestimmten Zeitraums keine Abschiebung nach Italien vorzunehmen).

Die Unanwendbarkeit der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-III-VO aus Gründen höherrangigen Rechts ist danach insgesamt im vorläufigen Rechtsschutz mit der Folge zu bejahen, dass eine Rücküberstellung nach Italien derzeit nicht erfolgen darf."

An der Einschätzung, dass in Italien auch zum jetzigen Zeitpunkt noch systemische Mängel des Asylverfahrens bestehen, die dazu führen, dass Flüchtlinge einschließlich des Klägers überwiegend wahrscheinlich menschenrechtswidrigen Verhältnissen ausgesetzt werden, hält die Kammer auch unter Berücksichtigung der aktuellen Rechtsprechung des Oberverwaltungsgerichts NRW zum jetzigen Zeitpunkt fest. Das Urteil des OVG NRW vom 7. März 2014 - 1 A 21/12.A -, das die Rücküberstellung nach Italien für zulässig erachtet, beruht auf der Erkenntnislage, die auch die Kammer zugrundegelegt hat. Der Auffassung des Senats, die sich aus der Erkenntnislage ergebende Situation in Italien lasse noch kein systemisches, die Grenze zur drohenden Grundrechtsverletzung nach Art. 4 EuGRCh überschreitendes Versagen des Staates erkennen, vermag die Kammer gegenwärtig nicht zu folgen.

Dies gilt auch vor dem Hintergrund, dass die Zahl der in Italien aufzunehmenden Flüchtlinge im ersten Halbjahr 2014 weiter erheblich angestiegen ist und erst jüngst das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR dringend angemahnt hat, einen strukturierten Plan zur Aufnahme der Flüchtlinge in Italien zu entwickeln. Anlass für diese Mahnung war, dass in Italien im Juni 2014 ca. 400 Flüchtlinge auf zwei Parkplätzen vor Rom und Mailand ohne Versorgung hilflos ausgesetzt worden waren (vgl. z.B. Spiegel online 10. Juni 2014 "Hunderte Bootsflüchtlinge auf Parkplätzen ausgesetzt"; N24 10. Juni 2014; Huffington Post 18. Juni 2014 "Italy’s Churches shelter Refugees despite overflowing migrant crises"; FR 15. Juni 2014 "Mehr als 1500 Bootsflüchtlinge in 24 Stunden"; vgl. allgemein auch: west-info.eu 15. Juli 2014 "The new Europe begins at Lampedusa" by G. Terranova).

Erkenntnisse darüber, dass Italien angesichts der gestiegenen Zahlen die ohnehin überfüllten Unterbringungskapazitäten entsprechend aufgestockt hätte und den weiteren dargestellten Mängeln im Aufnahmeverfahren wirksam begegnet wäre, liegen nicht vor.

Wegen der Zurückweisung von Flüchtlingen ohne Möglichkeit der Antragstellung hat die Europäische Kommission zudem ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Italien eingeleitet (vgl. Asylmagazin, hrsg. v. Informationsverbund Asyl und Migration 5/2014, S. 142). [...]