VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07.08.2014 - 5a K 2573/13.A - asyl.net: M22277
https://www.asyl.net/rsdb/M22277
Leitsatz:

Die Zwangsverheiratung minderjähriger Mädchen ist in Afghanistan weit verbreitet. Zwar stärken inzwischen Verfassung und Gesetzgebung zunehmend die Rechte der Frauen, allerdings wird nahezu einhellig berichtet, dass dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit hat.

Schlagwörter: Afghanistan, Mädchen, Frauen, Zwangsehe, geschlechtsspezifische Verfolgung, nichtstaatliche Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Ab.s 1,
Auszüge:

[...]

Der Klägerin zu 1. steht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund einer Verfolgung wegen des Geschlechts zu. Das Gericht ist überzeugt, dass die Klägerin zu 1. ihre Heimat zum einen aufgrund begründeter Furcht vor einer Zwangsheirat verlassen hat und dass sie im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit hiervon weiterhin bedroht ist bzw. Repressionen seitens ihrer Familie ausgesetzt sein wird. Außerdem drohen ihr diese Repressionen auch wegen des Umstandes, dass sie bei einer Wiedereinreise nach Afghanistan als unverheiratete Frau mit einem Kind zurückkehren würde.

In der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung ist allgemein anerkannt, dass in Afghanistan die Gefahr einer Zwangsverheiratung, die dort als solche – zumal bei minderjährigen Mädchen – weit verbreitet ist, für eine Frau den Flüchtlingsstatus begründen kann (vgl. u. a. VG Augsburg, Urteile vom 21. Januar 2011 - Au 6 K 10.30586 -, vom 16. Juni 2011 - Au 6 K 11.30092 - und vom 1. Dezember 2011 - Au 6 K 11.30308 -; VG Frankfurt a.M., Urteil vom 17. November 2011 - 7 K 4821/10.F.A -; VG München, Urteil vom 7. Dezember 2011 - M 23 K 11.30139 -; VG Wiesbaden, Urteil vom 5. Mai 2012 - 7 K 823/11.WI.A -; VG Darmstadt, Urteil vom 18. Juni 2012 - 2 K 161/11.DA.A -; VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 16. November 2012 - 12 A 65/11 -; VG Trier, Urteil vom 14. Januar 2013 - 5 K 494/12.TR -; VG Stuttgart, Urteil vom 25. Juni 2013 - A 6 K 2412/12 -, jeweils zitiert nach juris).

Dieser Rechtsprechung schließt sich die Kammer unter Berücksichtigung der ihr vorliegenden Erkenntnisquellen an.

Zwar stärken inzwischen Verfassung und Gesetzgebung Afghanistans zunehmend die Rechte der Frauen. Allerdings wird nahezu einhellig berichtet, dass dies für die meisten Betroffenen kaum Auswirkungen auf ihre Lebenswirklichkeit hat. Frauen werden nach wie vor in vielfältiger Hinsicht diskriminiert (vgl. Auswärtiges Amt, Berichte über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, 31. März 2014, S. 13 f., und 4. Juni 2013, S. 12 f.; Amnesty International, Jahresbericht Afghanistan 2012, 24. Mai 2012, sowie Jahresbericht Afghanistan 2013, 23. Mai 2013; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Update: Die aktuelle Sicherheitslage", 3. September 2012, S. 14 f., und "Afghanistan: Situation geschiedener Frauen", 1. November 2011, S. 1 f.; s. auch UNHCR, Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender – zusammenfassende Übersetzung, 24. März 2011, S. 7).

Im gesellschaftlichen Bereich bestimmen nach wie vor eine orthodoxe Auslegung der Scharia und archaischpatriarchalische Ehrenkodizes die Situation von Frauen und Mädchen. Der Verhaltenskodex der afghanischen Gesellschaft verlangt von ihnen grundsätzlich den Verzicht auf Eigenständigkeit. Innerhalb der Familie haben sie sich dem Willen der männlichen Familienmitglieder zu unterwerfen. Falls sie sich den gesellschaftlichen Normen verweigern, besteht die Gefahr der sozialen Ächtung. Die Entwicklung einer eigenständigen Lebensperspektive ist ihnen ohne familiäre Unterstützung nicht möglich (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 ff.).

Entsprechend der untergeordneten Stellung der Frauen in Afghanistan ist häusliche Gewalt in Form von Schlägen und Misshandlungen weit verbreitet. Bei etwa 60% der in Afghanistan geschlossenen Ehen soll es sich um Kinderehen handeln. Unter Zwang sollen bis zu 80% aller Ehen eingegangen werden (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 29 f.; 32; Schweizerische Flüchtlingshilfe, "Afghanistan: Situation von Waisenmädchen", 24. November 2011, S. 1 f., und "Iran: Zwangsheirat einer afghanischen Minderjährigen", 7. Februar 2013, S. 4).

Die Flucht vor einer Zwangsverheiratung kann Auslöser für einen Ehrenmord sein (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 30; Austrian Centre for Country of Origin and Asylum Research and Documentation (ACCORD), Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Sanktionen gegen unverheiratetes Paar, das untertaucht (Rolle von Volkszugehörigkeit und Religion?); Sanktionen gegen Familienangehörige des Mannes, 27. Dezember 2012).

Geht die Frau, die sich einer Zwangsverheiratung entzieht, dabei sogar eine vor- oder außereheliche Beziehung mit einem anderen Mann ein, drohen nicht nur der Frau selbst, sondern mitunter sowohl ihren eigenen Kindern als auch dem anderen Mann ein Ehrverbrechen (vgl. ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Informationen zur Praxis der Blutrache, 11. Juni 2013).

Zufluchtsmöglichkeiten für Frauen, die vor geschlechtsspezifischer Verfolgung wie häuslicher Gewalt oder drohender Zwangs- bzw. Kinderverheiratung fliehen, sind nur beschränkt verfügbar. Überhaupt begrenzt die prekäre Sicherheitslage in Afghanistan vor allem für Frauen und Kinder den Zugang zu sozialen Einrichtungen (vgl. Bundeszentrale für politische Bildung, Kurzprofil zum Konflikt in Afghanistan, 18. Februar 2013).

Die Mehrheit der Frauen hat zudem kaum Zugang zu Gerichten und juristischer Unterstützung. Frauen, die sich gegen Verletzungen ihrer Rechte wehren, sehen sich Vertretern des Staates gegenüber, die häufig nicht in der Lage oder aufgrund konservativer Wertvorstellungen nicht gewillt sind, diese Rechte zu schützen (vgl. BAMF, Geschlechtsspezifische Verfolgung in ausgewählten Herkunftsländern, April 2010, S. 25 ff.).

Diese Erkenntnislage zugrunde gelegt, bestehen seitens des Gerichts keine Zweifel an der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin zu 1.

Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung aufgrund des Gesamtergebnisses des Verfahrens gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO davon überzeugt, dass der Vortrag der Klägerin zu 1. der Wahrheit entspricht. Die Klägerin zu 1. hat in der mündlichen Verhandlung einen glaubwürdigen Eindruck hinterlassen. Sie hat die Umstände der drohenden Zwangsheirat in der mündlichen Verhandlung detailliert und widerspruchsfrei geschildert. Danach steht für das Gericht fest, dass die Klägerin zu 1. – ohne ihren Willen – bereits als Kind seitens ihrer Familie zur Verheiratung mit einem ihrer Cousins versprochen war. Die Klägerin zu 1. hat insbesondere glaubhaft geschildert, dass sie ihren Cousin nicht mochte. Sie hat befürchtet, dass es ihr in einer Ehe mit ihm ebenso ergehen könnte wie seiner Mutter, die von ihrem Mann, dem Onkel der Klägerin zu 1., häufig geschlagen worden sei.

Sie hatte vielmehr ein Verhältnis mit einem Nachbarsjungen, mit dem sie auch geschlafen hatte. Des Weiteren ist die Klägerin zu 1. in der Heimat von Fremden zusammen mit zwei weiteren Mädchen vergewaltigt worden. Als sie schwanger wurde, war nicht ganz klar ob die Schwangerschaft aus der Vergewaltigung oder der Beziehung zu dem Nachbarsjungen herrührte, mit dem sie später nach Deutschland ausreiste, von dem sie sich aber nach ihrer Einreise getrennt hat.

Akteur dieser drohenden Verfolgung war in erster Linie die Familie der Klägerin zu 1., mithin nicht unmittelbar der Staat Afghanistan. Diese drohende Verfolgung ist aber dem Staat zurechenbar, da die Klägerin zu 1. nicht den Schutz des Staates oder hinreichend mächtiger Parteien, Organisationen oder internationaler Organisationen in Anspruch nehmen konnte. Insbesondere ist die Islamische Republik Afghanistan erwiesenermaßen nicht in der Lage, Schutz vor der Zwangsverheiratung durch nichtstaatliche Akteure zu bieten. Dies wäre dann der Fall, wenn der Staat geeignete Schritte eingeleitet hätte, um die Verfolgung zu verhindern, beispielsweise durch wirksame Rechtsvorschriften zur Ermittlung, Strafverfolgung und Ahndung der Handlungen, die eine Verfolgung darstellen, und wenn die Klägerin zu 1. Zugang zu diesem Schutz hätte. Nach der oben bereits dargelegten Auskunftslage sind diese Voraussetzungen jedoch nicht erfüllt.

Besteht nach alledem für die Klägerin zu 1. ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, ist ein solcher Anspruch auch der Klägerin zu 2. zuzugestehen. Denn als Kind der Klägerin zu 1. ist sie aufgrund des Prinzips der Blutrache mitunter selbst Repressionen durch die Familie der Klägerin zu 1. ausgesetzt.

Für die Klägerinnen besteht schließlich auch keine inländische Fluchtalternative im Sinne des § 3e AsylVfG. Nach § 3e AsylVfG wird einem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylVfG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Diese Voraussetzungen sind hier – auch mit Blick auf Kabul – nicht erfüllt.

Für die Klägerinnen mag zwar eine begründete Furcht vor der geltend gemachten Verfolgung außerhalb der Provinz I. – etwa in Kabul – nicht bestehen. Denn es ist nicht ersichtlich, dass die Familie der Klägerin zu 1. auch in Kabul Zugriff auf diese haben könnte. Von den Klägerinnen kann aber nicht vernünftigerweise erwartet werden, dass sie sich in Kabul oder anderswo in Afghanistan dauerhaft aufhalten, um der geltend gemachten Bedrohung zu entfliehen.

Von einem Schutzsuchenden kann nur dann vernünftigerweise erwartet werden, dass er sich in dem verfolgungsfreien Landesteil aufhält, wenn der Ausländer am Zufluchtsort eine ausreichende Lebensgrundlage vorfindet, d.h. dort das Existenzminimum gewährt ist. Dabei bietet ein verfolgungssicherer Ort erwerbsfähigen Personen eine wirtschaftliche Lebensgrundlage etwa dann, wenn sie dort, sei es durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem angemessenen Lebensunterhalt Erforderliche erlangen können (vgl. zum Ganzen BVerwG, Beschluss vom 21. Mai 2003 - 1 B 298.02 - sowie Urteile vom 1. Februar 2007 - 1 C 24.06 - und vom 29. Mai 2008 - 10 C 11.07 -, jeweils zitiert nach juris).

Zwar ist nach der Rechtsprechung der Kammer vor allem für alleinstehende, aus dem europäischen Ausland zurückkehrende und arbeitsfähige Männer aus der Bevölkerungsmehrheit ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen – mitunter auch ohne familiären Rückhalt – in der Regel die Möglichkeit gegeben, in Kabul als Tagelöhner wenigstens das Überleben zu sichern. Kabul stellt daher nach Ansicht der Kammer derzeit für alleinstehende, arbeitsfähige Männer ohne erhebliche gesundheitliche Einschränkungen durchaus eine interne Schutzalternative im vorstehenden Sinne dar. Dies gilt in der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte jedoch nicht für besonders schutzbedürftige Rückkehrer wie minderjährige, alte oder behandlungsbedürftig kranke Personen, alleinstehende Frauen und Personen, die aufgrund besonderer persönlicher Merkmale zusätzlicher Diskriminierung unterliegen (vgl. Urteile der Kammer vom 21. Februar 2013 - 5a K 1523/11.A, 5a K 1524/11.A und 5a K 1525/11.A - sowie - 5a K 3753/11.A - und vom 23. Mai 2013 - 5a K 1907/11.A - sowie - 5a K 3137/11.A -, jeweils mit weiteren Nachw., sämtlich zitiert nach juris).

Bei der Prüfung des § 3e AsylVfG ist außerdem zu beachten, dass Familienangehörige wegen des Schutzes von Ehe und Familie nach Art. 6 GG nur gemeinsam mit ihren Kindern und ihrem Ehepartner nach Afghanistan zurückkehren können. Daher sind bei der Beantwortung der Frage, ob das Existenzminimum am Zufluchtsort gewährleistet sein wird, alle Familienmitglieder gemeinsam in den Blick zu nehmen (vgl. VG Augsburg, Urteil vom 24. Mai 2012 - Au 6 K 11.30369 -, juris; vgl. jüngst auch Bundesverfassungsgericht (BVerfG), Beschluss vom 5. Juni 2013 - 2 BvR 586/13 -, juris).

Ausgehend davon und unter Berücksichtigung der Eindrücke, die die Kammer von der Klägerin zu 1. in der mündlichen Verhandlung gewonnen hat, ist das Gericht davon überzeugt, dass es der Familie nicht gelingen wird, das Existenzminimum in Kabul zu sichern. Die Ernährung für eine alleinstehende Frau mit einem minderjährigen Kind kann in Kabul durch Aushilfsjobs nicht sichergestellt werden (vgl. Lutze, Gutachten an OVG Rheinland Pfalz, 8. Juni 2011, S. 3 und 6 ff.). [...]