VG Stuttgart

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Zitieren als:
VG Stuttgart, Urteil vom 26.05.2014 - 11 K 4547/13 - asyl.net: M22317
https://www.asyl.net/rsdb/M22317
Leitsatz:

1. Der Ausschlusstatbestand des § 25 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 AufenthG ist auch im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen.

2. Zu den Anforderungen an die Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG.

3. § 155 Abs. 4 VwGO geht als spezielle Regelung der typisierenden Regelung des § 154 Abs. 3 VwGO vor.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausschlussgrund, Ermessen, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Marokko, Heiratsurkunde, Eheschließung, Ausweisung, rechtliche Unmöglichkeit, Abschiebungsverbot,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3 S. 2, AufenthG § 25 Abs. 5, AufenthG § 5 Abs. 3 S. 2, VwGO § 155 Abs. 4, VwGO § 154 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat im Verwaltungs- und Klageverfahren seinen Anspruch auf Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis ausschließlich auf § 25 Abs. 5 AufenthG gestützt. Dies ist sachgerecht, da er mit Bescheid vom 21.09.1998 bestandskräftig ausgewiesen worden ist und die Sperrwirkung der Ausweisung (§ 11 Abs. 1 Satz 2 AufenthG) nur im Fall des § 25 Abs. 5 AufenthG überwunden werden kann.

Die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 AufenthG liegen vor. Der Kläger ist nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG vollziehbar ausreisepflichtig. Seine Ausreise ist aus rechtlichen Gründen unmöglich.

Der Begriff der Ausreise umfasst die (zwangsweise) Abschiebung und die freiwillige Ausreise. Eine freiwillige Ausreise ist im Sinne von § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG aus rechtlichen Gründen unmöglich, wenn ihr rechtliche Hindernisse entgegenstehen, welche die Ausreise ausschließen oder als unzumutbar erscheinen lassen. Derartige Hindernisse können sich sowohl aus inlandsbezogenen Vollstreckungshindernissen als auch aus zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten ergeben (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.06.2006 - 1 C 14/05 - BVerwGE 126, 192).

Nach diesen Grundsätzen ist die Ausreise des Klägers wegen Vorliegens eines Abschiebungsverbots aus rechtlichen Gründen unmöglich. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge hat mit bestandskräftigem Bescheid vom 01.03.2012 festgestellt, dass beim Kläger ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG hinsichtlich Syrien vorliegt. Aufgrund dieses festgestellten Abschiebungsverbots kommen weder eine Abschiebung noch eine Ausreise des Klägers in sein Heimatland in Betracht. Anhaltspunkte dafür, dass das bestehende Abschiebungsverbot in absehbarer Zeit entfallen wird, sind nicht ersichtlich.

Der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG steht auch kein Ausschlussgrund i.S.d. § 25 Abs. 5 Satz 3 und 4 AufenthG entgegen. Bei Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 AufenthG wie vorliegend sind die dort genannten Voraussetzungen regelmäßig nicht erfüllt.

Der Erteilung einer humanitären Aufenthaltserlaubnis steht auch nicht § 25 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 AufenthG entgegen. Danach scheidet die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus, wenn die Ausreise in einen anderen Staat möglich und zumutbar ist. Dieser Ausschlusstatbestand ist auch im Rahmen des § 25 Abs. 5 AufenthG zu berücksichtigen. Ansonsten bestünde ein vom Gesetzgeber nicht gewollter Wertungswiderspruch (vgl. VGH München, Urt. v. 15.06.2011 - 19 B 10.2539 - juris und Urt. v. 20.03.2013 - 19 BV 11.288 - juris -; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.12.2013 - 11 LA 139/13 - AuAS 2014, 14). Möglich ist die Ausreise i.S.d. § 25 Abs. 3 Satz 2 Alt. 1 AufenthG, wenn die betroffene Person in den Drittstaat einreisen und sich aufhalten darf. Die Darlegung, in welchen Staat eine Ausreise möglich ist, obliegt der Ausländerbehörde. Sie hat sich dabei an konkreten Anhaltspunkten zu orientieren. Nach der Begründung zum Gesetzentwurf ist maßgeblich für die Auswahl die Beziehung der betroffenen Person zum Drittstaat und die Aufnahmebereitschaft des Drittstaates (vgl. BT-Drucks. 15/420 S. 79). Demgemäß führt die Ausreise in einen Drittstaat nur dann zum Ausschluss des Aufenthaltsrechts in Deutschland, wenn dort Einreise und ein nicht ganz kurzfristiger, legaler Aufenthalt aufgrund der Aufnahmebereitschaft des Drittstaates gestattet sind (vgl. VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 18.05.2006 - 5 L 519/05 - juris -). Diese Voraussetzungen liegen - wie das Regierungspräsidium Karlsruhe mittlerweile mit Schriftsatz vom 23.05.2013 auch eingeräumt hat - vorliegend nicht vor. Nach den Vorgaben der Botschaft des Königreichs Marokko in der Bundesrepublik Deutschland (vgl. www.botschaftmarokko.de/node/38) erhält der Ehepartner eines marokkanischen Staatsbürgers ein Visum u. a. nur dann, wenn er eine Kopie der mindestens noch drei Monate gültigen Aufenthaltserlaubnis für die Bundesrepublik Deutschland sowie eine Kopie der marokkanischen Heiratsurkunde vorlegen kann. Diese Voraussetzungen sind im Falle des Klägers unzweifelhaft nicht gegeben.

Da der Aufenthalt des Klägers im Bundesgebiet seit mehr als achtzehn Monaten geduldet wird, ist ein Fall des § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG gegeben. Für das Vorliegen eines atypischen Ausnahmefalles ist nichts ersichtlich. Ein Ausnahmefall ist nur gegeben, wenn eine Fallgestaltung vorliegt, an die der Gesetzgeber bei Normerlass nicht gedacht hat. Damit kann das Vorliegen von Ausweisungsgründen keinen atypischen Ausnahmefall begründen, da der Gesetzgeber das Nichtvorliegen von Ausweisungsgründen in § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG ausdrücklich normiert hat.

Das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 25 Abs. 5 Satz 1 und 2 AufenthG vermittelt dem Kläger gleichwohl noch keinen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Die Beklagte verfügt bei der Entscheidung über die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis an den Kläger noch über einen Ermessensbereich, da im Falle des Klägers nicht sämtliche allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 AufenthG gegeben sind. Zwar dürfte der Lebensunterhalt des Klägers nach seinem Vorbringen in der mündlichen Verhandlung gesichert sein (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG). Für die Erteilung eines Aufenthaltstitels ist aber nach § 5 Abs. 1 AufenthG in der Regel weiter erforderlich, dass kein Ausweisungsgrund vorliegt (§ 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG) und dass der Ausländer die Passpflicht nach § 3 AufenthG erfüllt (§ 5 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG). Diese Voraussetzungen sind beim Kläger nicht gegeben. Er verfügt weder über einen anerkannten und gültigen Pass oder Passersatz (§ 3 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) noch besitzt er einen Ausweisersatz nach § 48 Abs. 2 AufenthG (§ 3 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Insoweit könnte aber eine Atypik in Betracht kommen. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn der Ausländer einen Pass in zumutbarer Weise nicht erlangen kann oder er sich oder seine Familie durch das Bemühen um die Ausstellung eines Nationalpasses in Gefahr bringen könnte (vgl. VGH Mannheim, Urt. v. 29.02.1996 - 11 S 2744/95 - InfAuslR 1996, 304; OVG Lüneburg, Beschl. v. 04.04.2011 - 13 ME 205/10 - NVwZ-RR 2011, 498). Dies braucht jedoch nicht weiter vertieft zu werden.

Beim Kläger liegt jedenfalls ein Ausweisungsgrund nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vor. Nach einer Auskunft aus dem Bundeszentralregister vom 17.07.2012 gibt es über den Kläger elf Eintragungen. Diese abgeurteilten Straftaten sind bis zur Tilgungsreife beachtlich (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.01.2009 - 1 C 40/07 - BVerwGE 133, 73). Im Falle des Klägers liegt auch kein atypischer Geschehensverlauf vor, der es rechtfertigt, ausnahmsweise von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Ausnahmefälle zeichnen sich durch einen atypischen Geschehensablauf aus, der so bedeutsam ist, dass er das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regel beseitigt (vgl. BVerwG, Urt. v. 30.04.2009 - 1 C 3/08 - NVwZ 2009, 1239). Im Hinblick auf die vom Kläger begangenen zahlreichen Straftaten ist ein atypischer Geschehensverlauf weder geltend gemacht noch sonst ersichtlich.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis setzt nach § 5 Abs. 2 Satz 1 AufenthG weiter voraus, dass der Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Auch diese Voraussetzungen erfüllt der Kläger nicht. Vielmehr ist er illegal und ohne Visum in das Bundesgebiet eingereist.

Liegen damit die Voraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 und 2 AufenthG nicht sämtlich vor, ist damit deren Erteilung nicht zwingend ausgeschlossen. Denn nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG kann insbesondere in den Fällen des § 25 Abs. 5 AufenthG von einer Anwendung von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen werden. Die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis steht damit im Ermessen der Beklagten. Entsprechend dem Zweck des § 25 Abs. 5 AufenthG, aus völkerrechtlichen, humanitären oder politischen Gründen eine zusammenfassende Sonderregelung zu schaffen, ist insoweit eine umfassende Abwägung zwischen den öffentlichen und den privaten Interessen geboten. Bei der Ermessensentscheidung, ob nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG von den Voraussetzungen von § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG abgesehen wird, sind die bisherige Dauer des Aufenthalts im Bundesgebiet, die vom Ausländer erbrachten Integrationsleistungen, das Gewicht und die Bedeutung, das dem konkret festgestelltem Abschiebungs- oder Ausreisehindernis beizumessen ist, und alle weiteren für eine Aufenthaltslegalisierung sprechenden Umstände zu berücksichtigen und zu gewichten; in die Abwägung sind aber auch die Gründe einzustellen, aufgrund derer die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht vorliegen (vgl. BVerwG, Urt. v. 14.05.2013 - 1 C 17/12 - BVerwGE 146, 281). Darüber hinaus sind die Wertungen des Gesetzgebers in Erwägung zu ziehen, die der Schaffung der Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen nach § 25 Abs. 5 AufenthG zugrunde liegen und die sich aus dem systematischen Zusammenhang ergeben, in dem diese Regelung steht (vgl. OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.12.2013 - 11 LA 139/13 - juris -). Weiter hat die Ausländerbehörde im Rahmen ihrer Ermessensentscheidung zu berücksichtigen, dass § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG die Möglichkeit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 AufenthG gerade dann vorsieht, wenn der betreffende Ausländer nicht nur einen Ausweisungsgrund verwirklicht hat, sondern deswegen sogar ausgewiesen worden ist, und dass nach § 25 Abs. 5 Satz 2 AufenthG von dieser Möglichkeit in der Regel auch Gebrauch zu machen ist, wenn die Abschiebung seit achtzehn Monaten ausgesetzt ist (vgl. VGH München, Beschl. v. 04.04.2014 - 10 C 12.497 - juris -).

Eine solche behördliche Ermessensausübung steht im vorliegenden Fall bisher aus. Die Beklagte und auch das Regierungspräsidium Karlsruhe haben schlichtweg verkannt, dass sie eine Ermessensentscheidung nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG zu treffen haben. Das Gericht geht jedoch nicht davon aus, dass die Ermessensausübung bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt rechtlich nur in eine Richtung hin gebunden ist. [...]