VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 19.09.2014 - 6 L 586/14.A - asyl.net: M22336
https://www.asyl.net/rsdb/M22336
Leitsatz:

Zu den Übergangsvorschriften der Dublin III-Verordnung

Schlagwörter: Überstellungsfrist, Dublinverfahren, Dublin II-VO, Dublin III-Verordnung, gerichtliche Entscheidung, Rechtskraft, Rechtsbehelf, Rechtsmittel, Suspensiveffekt, aufschiebende Wirkung, minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Fristbeginn,
Normen: VO 604/2013 Art. 49 UAbs. 2 S. 1, VO 604/2013 Art. 49, VO 604/2013 Art. 29 Abs. 1 UAbs. 1 2. Alt., VO 604/2013 Art. 29, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4, VO 343/2003 Art. 19, VO 343/2003 Art. 6, VwGO § 80 Abs. 5, AsylVfG § 34a Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

Amtliche Leitsätze:

1. Art. 49 Unterabsatz 2 Satz 1 Variante 2 Dublin III VO ist in der Weise auszulegen, dass ab dem 01. Januar 2014 die Dublin III VO und damit auch die Vorschrift über den Beginn der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Alternative 2 dieser Verordnung für alle Gesuche um Aufnahme bzw. Wiederaufnahme und damit auch für diejenigen Verfahrensabschnitte eines vor dem 01. Januar 2014 gestellten und bereits beantworteten Aufnahme bzw. Wiederaufnahmegesuchs eines Mitgliedstaates unter der Voraussetzung gilt, dass das Aufnahme bzw. Wiederaufnahmeverfahren bis zum 01. Januar 2014 aus dem Grunde noch nicht vollständig abgeschlossen war, weil die Überstellungsfrist nach Art. 19 Abs. 4 Dublin II VO bzw. Art. 20 Abs. 2 Dublin II VO am 01. Januar 2014 noch nicht abgelaufen war und die Zuständigkeit für die Prüfung eines Asylantrages zu diesem Zeitpunkt nicht auf Grund des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 Dublin II VO bzw. des Art. 20 Abs. 2 Satz 1 Dublin II VO auf den ersuchenden Mitgliedsstaat, in dem der Asylantrag eingereicht wurde, übergegangen war und demzufolge der ersuchende Mitgliedstaat am 01. Januar 2014 nicht für die Prüfung des Asylantrages zuständig gewesen ist.

2. Nach der zweiten Tatbestandsalternative des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz Dublin III VO wird der Lauf der Überstellungsfrist nochmals und erst dann ausgelöst, wenn eine gerichtliche Einzelfallentscheidung bekannt gegeben ist, mit der endgültig ein gegen eine auf der Grundlage des Art. 18 Abs. 2 Dublin III VO erlassene Überstellungsentscheidung gerichteter Rechtsbehelf abgelehnt worden ist, der im Zeitpunkt dieser Gerichtsentscheidung eine aufschiebende Wirkung im Sinne des zweiten Halbsatzes des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III VO in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c) Satz 2 der Dublin III VO entfaltet hatte.

3. Die Frist wird erst mit der Bekanntgabe einer solchen Entscheidung an die für die Durchführung der Überstellung zuständige Behörde und nicht schon mit dem Ergehen der Gerichtsentscheidung ausgelöst.

4. Eine solche endgültige gerichtliche Einzelfallentscheidung, die den Lauf der Überstellungsfrist auslöst, ist die Entscheidung eines Verwaltungsgerichts, mit der ein Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG auf Anordnung einer Klage gegen eine auf der Grundlage des § 34a Abs. 1 AsylVfG erlassene Abschiebungsanordnung abgelehnt worden ist.

5. Ein erstmalig gestellter Antrag nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO in Verbindung mit § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer solchen Klage ist ein Rechtsbehelf im Sinne der zweiten Tatbestandsalternative des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III VO in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c) Satz 1 der Dublin III VO.

6. Bereits dieser Antrag entfaltet eine aufschiebende Wirkung im Sinne des zweiten Halbsatzes des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III VO in Verbindung mit Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c) Satz 2 der Dublin III VO, weil bereits dem Abschiebungsanordnungsvollzugsverbot des § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG, das kraft Gesetzes durch einen nach § 34a Abs. 2 Satz 1 AsylVfG fristgerecht gestellten Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung ausgelöst wird, eine aufschiebende Wirkung im Sinne des Satzes 2 des Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c) der Dublin III VO in Verbindung mit Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III VO beizumessen ist.

7. Im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Art. 6 Dublin II VO sind ausreichende Anhaltspunkte für die Minderjährigkeit darzulegen (vgl. Verwaltungsgericht München, Urteil vom 31. Oktober 2013 - M 12 K 13.30730 - zitiert nach Juris, Rdnr. 28); hingegen kann im Rahmen des Anordnungsverfahrens das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzung der Minderjährigkeit nicht bereits aus dem Grunde bejaht werden, weil es keine hinreichende Grundlage für die Annahme der Volljährigkeit eines Asylbewerbers gibt wegen des Fehlens einer entsprechend belastbaren Aussage für die Volljährigkeit (a.A.: Verwaltungsgericht München, Beschluss vom 23. April 2014 - M 21 S 14.30537 - zitiert nach Juris, Rdnr. 39).

a. Der Asylbewerber muss vielmehr auch im Anordnungsverfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO ein hinreichend konkretes Tatsachensubstrat mit einer gewissen Substanz unterbreiten, aus deren Einzelelementen sich zumindest mit hinreichender Wahrscheinlichkeit die Möglichkeit herleiten lässt, dass der Asylbewerber minderjährig sein kann.

b. Die für die Annahme der Minderjährigkeit erforderliche Tatsachengrundlage, auf deren Grundlage im Rahmen des gerichtlichen Anordnungsverfahrens die Schlussfolgerung gezogen werden kann, dass eine gleich hohe Wahrscheinlichkeit für die Annahme der Minder- oder Volljährigkeit eines Asylsuchenden zu einem bestimmten Zeitpunkt besteht, besteht vornehmlich aus den Angaben des Betroffenen zu seinem Alter, den hierzu vorgelegten Urkunden, medizinischen Feststellungen und dem äußeren Erscheinungsbild; letzterem ist jedoch gegenüber den anderen Grundlagen nur ein untergeordnetes Gewicht beizumessen.

c. Beziehen sich die Angaben eines Antragstellers auf ein konkretes Geburtsdatum, so ist dieses und nicht allein das Geburtsjahr maßgeblich.

d. Wenn sich Angaben zu einem konkreten Geburtsdatum mit einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit aus dem Grunde als rechtsmissbräuchlich erweisen, weil ein hierzu vorgelegtes Dokument mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht echt ist bzw. willkürlich ausgestellt wurde, dann entfällt die Tatsachengrundlage für die mögliche Annahme der Minderjährigkeit, wenn nicht auf Grund anderer Anhaltspunkte die Annahme möglich ist, die mit einer gleichen Wahrscheinlichkeit für die Minder- oder Volljährigkeit sprechen.

e. In einem solchen Fall ist es nicht möglich, dass ohne andere konkrete Anhaltspunkte an die Stelle der divergierenden Tages- und Monatsangaben ein Geburtsjahr gesetzt wird, aus dem dann die Annahme einer hinreichenden Wahrscheinlichkeit einer Minderjährigkeit hergeleitet würde. Denn es gehört zu den Obliegenheiten eines Asylbewerbers, zutreffende Angaben zu machen. Gibt er ein konkretes Geburtsdatum an, so ist er daran festzuhalten. Erweist sich dieses mit überwiegender Wahrscheinlichkeit als unzutreffend, so kann ohne weitere konkrete Anhaltspunkte nicht auf ein Geburtsjahr abgestellt werden.

8. Der für die Aufhebung einer Vormundschaft nach §§ 1772, 1882 BGB entwickelte Grundsatz, wonach grundsätzlich zu Gunsten des Betroffenen von der Minderjährigkeit auszugehen ist, wenn sich Zweifel an der Volljährigkeit nicht ausräumen lassen (vgl. Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 21. Juni 2013 - 26 UF 49/13 - zitiert nach Juris, Rdnr. 9, auf das sich der Prozessbevollmächtigte des Abänderungsantragstellers beruft), findet ungeachtet der Frage, ob dieser Grundsatz auch im Zusammenhang mit Art. 6 Unterabsatz 2 Dublin II VO zu beachten ist, jedenfalls dort seine Grenze, wenn er missbräuchlich in Anspruch genommen wird (vgl. Oberlandesgericht Köln, Beschluss vom 21. Juni 2013 - 26 UF 49/13 - zitiert nach Juris, Rdnr. 11).