VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 14.04.2014 - 30 K 798.13 V - asyl.net: M22360
https://www.asyl.net/rsdb/M22360
Leitsatz:

Aus der Versagung des Visums zum Familiennachzug lässt sich nicht ohne Weiteres folgern, die Betroffene werde ihr in der Vergangenheit geübte rechtstreues Verhalten aufgeben und entgegen ihrer Zusicherung im Visumsantrag die Bundesrepublik vor Ablauf des begehrten Visums nicht verlassen.

Schlagwörter: Besuchsvisum, Schengen-Visum, Rückkehrwillen, Rückkehrbereitschaft, Familienzusammenführung, Sonstige Familienangehörige,
Normen: VO 810/2009 Art. 23, VO 810/2009 Art. 23 Abs. 4, VO 810/2009 Art. 32, VO 810/2009 Art. 21, AufenthG § 36 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die hier allein in Rede stehenden Zweifel an der von der Klägerin bekundeten Absicht, das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten vor Ablauf des beantragten Visums zu verlassen liegen auch unter Berücksichtigung des Beurteilungsspielraums der Botschaft nicht vor. Die familiäre und soziale Situation der Klägerin als verwitwete Rentnerin ohne weitere Familienangehörige allein vermag hier solche Zweifel nicht zu begründen. Zwar ist der Grad der Verwurzelung des Visumsantragstellers im Heimatland einer der Gesichtspunkte, der der Prognose für die Rückkehrbereitschaft zugrunde zu legen ist, einer minderstarken Verwurzelung kommt aber keine unwiderlegliche Vermutungswirkung zu. Dies würde nämlich dazu führen, dass für junge Menschen zu Beginn ihres Berufslebens, die naturgemäß wenige familiäre und wirtschaftliche Bindungen haben und für ältere, alleinstehende Menschen, deren Familien in den Schengen-Staaten leben, regelmäßig Zweifel an der Rückkehrbereitschaft bestünden. Das sieht im Grunde auch die Beklagte so, die in der Vergangenheit der alleinstehenden Klägerin, zuletzt 2012 Besuchsvisa erteilt hat. Bedeutsam für die Rückkehrprognose ist außerdem das Verhalten des Visumsantragstellers bei zurückliegenden Reisen in den Schengenraum. Dieses spricht hier für die Absicht der Klägerin auch den hier streitgegenständlichen Besuch bei ihrem Sohn in Deutschland vor Ablauf des beantragten Visums zu beenden und in ihre Heimat zurückzukehren. Betrachtet man das Verhalten der Klägerin in der Vergangenheit dann ist festzustellen, dass die Klägerin bisher stets rechtzeitig vor Ablauf ihres Visums in ihre Heimat zurückgekehrt ist; lediglich wegen eines Unfalles im Jahre 2011 musste sie eine Verlängerung beantragen. Vor deren Ablauf hat sie aber die Heimreise angetreten. Begründete Zweifel an dem Rückkehrwillen bestehen auch nicht aufgrund ihres erfolglosen Antrags auf Familienzusammenführung vom April 2013. Es gibt keinen Rechtssatz der besagt, dass die erfolglose Beantragung eines Daueraufenthaltsrechts zukünftigen besuchsweisen Einreisen entgegen steht. Bei der Beantragung eines Visums zum Zwecke der Familienzusammenführung handelt es sich um erlaubtes Verhalten. Der Ausländer, der ein Visum beantragt, muss nicht damit rechnen, dass allein die Antragstellung im Falle der Ablehnung möglicherweise schädliche Konsequenzen haben kann. Dass der Familiennachzug Erwachsener nur unter den sehr engen Voraussetzungen des § 36 Abs. 2 AufenthG möglich ist, zwingt den Antragsteller eine außergewöhnliche Härte zu begründen, auch wenn er möglicherweise nur prüfen lassen will, ob eine dauerhafte Einreise nach Deutschland zu Kindern und Enkeln möglich ist. So verhält es sich auch hier. Allerdings unternahm die Klägerin allenfalls einen halbherzigen Versuch einen Härtefall vorzutragen. Sie gab auf ihrem Antragsformular zunächst an, an keinen Krankheiten zu leiden. Die Erklärung des Sohnes vom 22. März 2013 behauptet zwar einen Härtefall, besagt aber auch nicht mehr, als dass was der Botschaft schon aufgrund der vorherigen Besuchsvisaanträge bekannt war. Auch lässt sich bei ihren Angaben aufgrund der Befragung (Bl. 55 VV 1) keine übertriebene Darstellung ihrer Situation ausmachen. Gleiches war offenbar auch bei ihren Angaben hinsichtlich ihres Gesundheitszustandes gegenüber der Vertrauensärztin der Botschaft der Fall. Die Klägerin räumte ein, dass sie sich selbst versorgen könne und über einen kleinen Bekanntenkreis in der Ukraine verfüge. Die Versagung des Visums zur Familienzusammenführung hat sie, ohne einen Rechtsbehelf einzulegen, akzeptiert.

Auch lässt sich aus der Versagung des Visums zum Familiennachzug nicht ohne weiteres folgern, die Klägerin werde ihr in der Vergangenheit geübtes rechtstreues Verhalten aufgeben und entgegen ihrer Zusicherung im Visumsantrag die Bundesrepublik nicht vor Ablauf des begehrten Visums verlassen. Dabei ist zu bedenken, dass sie schon ihren letzten Besuchsaufenthalt bis Oktober 2012 dazu hätte nutzen können, um unerlaubt im Bundesgebiet zu verbleiben. Für die Absicht der Klägerin, nach Ablauf des Visums wieder in ihre Heimat zurückzukehren, sprechen schließlich die erheblichen aufenthaltsrechtlichen Risiken, die eine unerlaubte Verlängerung des Aufenthalts über die Gültigkeit des Visums hinaus hätte. Die Klägerin könnte nicht mit der Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis rechnen. Sie würde sich außerdem jede Möglichkeit nehmen, auch in Zukunft ihren Sohn und ihre Enkel in Deutschland besuchen zu können. Im Falle einer vollziehbaren Ausreisepflicht wäre die Abschiebung der im Wesentlichen gesunden Klägerin in die Ukraine auch unter der gegenwärtigen politischen Umständen in ein reales Risiko.

Der Erteilung des Visums steht auch kein Ausweisungsgrund i.S.v. § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AufenthG entgegen. Danach kann ein Ausländer insbesondere ausgewiesen werden, wenn er falsche Angaben zur Erlangung eines Schengen-Visums gemacht hat. Die Klägerin hat auf ihrer Erklärung vom 28. Juni 2013, die Frage, ob in den letzten drei Jahren Visaanträge abgelehnt wurden, objektiv unrichtig beantwortet, weil knapp sechs Wochen zuvor ihr Antrag auf Familienzusammenführung abgelehnt wurde. Es ist denkbar, dass die Klägerin bei der Abgabe der Erklärung nicht an das zuvor beantragte nationale Visum, sondern nur an die vorangegangenen Schengen-Visaanträge gedacht hat, wie sie im Verfahren vortragen lässt. Jedenfalls ist die nach § 55 Abs. 2 Nr. 1 Buchst. a AufenthG erforderliche finale Verknüpfung von Falschangabe und Visumserlangung nicht feststellbar. Es kann nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin auf die Erwähnung der abgelehnten Visumserteilung verzichtete, um die Botschaft zu täuschen und auf diese Weise ein Besuchsvisum zu erlangen. Vielmehr musste sie schon wegen der Antragstellung in der Botschaft in Kiew davon ausgehen, dass dort die kurz zuvor erfolgte Ablehnung der Familienzusammenführung bekannt war. Dies gilt umso mehr, weil der bei der Antragstellung vorgelegte Pass (Kopie Bl. 80 VV I) die Visumsantragstellung im April 2013 dokumentiert. Davon abgesehen hätte anlässlich der Dokumentation des Visumsantrags am 4. Juli 2013 Gelegenheit bestanden, der Klägerin eine Korrektur ihrer Angaben zu ermöglichen. [...]