KG Berlin

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Zitieren als:
KG Berlin, Beschluss vom 04.04.2014 - (4) 151 AuslA 199/13 (300/13), (4) 151 Ausl A 199/13 (300/13) - asyl.net: M22361
https://www.asyl.net/rsdb/M22361
Leitsatz:

Das Auslieferungshindernis des § 83 Nr. 4 IRG ist zu prüfen, wenn das Recht des ersuchenden Staates die Verhängung der lebenslangen Freiheitsstrafe für die dem Europäischen Haftbefehl zugrundeliegende Tat abstrakt androht. Ob die Verhängung dieser Strafe auch konkret zu erwarten ist, ist ohne Belang.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Auslieferungshaft, Auslieferungshindernis, Europäischer Haftbefehl, lebenslange Freiheitsstrafe, Freiheitsstrafe, lebenslang, Strafandrohung, abstrakte Strafandrohung, Straferwartung, konkrete Straferwartung,
Normen: IRG § 83 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die britischen Behörden haben durch Übermittlung eines Europäischen Haftbefehls um die Festnahme und Auslieferung des Verfolgten zum Zwecke der Strafverfolgung ersucht. Der Verfolgte ist am 4. Dezember 2013 vorläufig festgenommen worden. Bei seiner am selben Tag nach §§ 22, 28 IRG vorgenommenen richterlichen Anhörung hat er sich mit der vereinfachten Auslieferung (§ 41 IRG) nicht einverstanden erklärt. Der Senat hat auf Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin am 9. Dezember 2013 die Auslieferungshaft gegen den Verfolgten angeordnet. Die Entscheidung über den Antrag der Generalstaatsanwaltschaft Berlin gemäß § 29 Abs. 1 IRG vom 8. Januar 2014, die Auslieferung des Verfolgten für zulässig zu erklären, hat der Senat mit Beschlüssen vom 14. Januar und 4. März 2014, auf die bezüglich des Gegenstands des Auslieferungsbegehrens, der grundsätzlichen Auslieferungsfähigkeit der dem Verfolgten zur Last gelegten Tat und des bisherigen Verfahrensgangs verwiesen wird, zur weiteren Sachaufklärung zurückgestellt. Die Generalstaatsanwaltschaft hat nunmehr erneut beantragt, die Auslieferung für zulässig zu erklären. Der Senat stellt die Entscheidung weiterhin zurück, da die durch die britischen Behörden erteilten Auskünfte eine abschließende Entscheidung unverändert nicht ermöglichen.

1. Die im Beschluss des Senats vom 4. März 2014 näher dargelegte Rechtslage steht einer Auslieferung noch immer entgegen, da die dem Europäischen Haftbefehl zugrunde liegende Tat nach dem Recht des Vereinigten Königreichs mit lebenslanger Freiheitsstrafe bedroht und nicht sichergestellt ist, dass eine Überprüfung der Vollstreckung der verhängten Strafe auf Antrag oder von Amts wegen nach spätestens 20 Jahren erfolgt. Die vom Senat in dem vorgenannten Beschluss für erforderlich erachtete völkerrechtlich verbindliche Erklärung, dass gegen den Verfolgten keine lebenslange Freiheitsstrafe verhängt oder ihm im Falle der Verurteilung zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe nach spätestens 20 Jahren eine Möglichkeit der Überprüfung der Fortdauer der Vollstreckung nach § 28 Crime (Sentences) Act 1997 eingeräumt oder er nach spätestens 20 Jahren aus dem Vollzug in dieser Sache entlassen wird, haben die britischen Behörden bisher nicht abgegeben. Damit ist das Auslieferungshindernis des § 83 Nr. 4 IRG (noch) nicht ausgeräumt.

2. Der Senat teilt nicht die Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft, dass § 83 Nr. 4 IRG dahin auszulegen sei, dass es nicht auf die abstrakte Strafandrohung im Recht des ersuchenden Staates, sondern auf die konkret im Einzelfall zu erwartende Strafe ankomme. Das vom Gesetz verwandte Wort "bedroht" findet sich in der Gesetzessprache regelmäßig in Bezug auf abstrakte Strafandrohungen (vgl. z.B. §§ 107b Abs. 1 letzter Halbsatz, 125 Abs. 1 letzter Halbsatz, 246 Abs. 1 letzter Halbsatz StGB; § 402 Abs. 1 letzter Halbsatz AktG). Auch im IRG selbst verwendet der Gesetzgeber den Begriff in diesem Sinne (§§ 3 Abs. 2, 81 Nrn. 1 und 4 IRG). Es besteht daher kein Anlass zu der Annahme, dass dem Begriff in § 83 Nr. 4 IRG eine abweichende Bedeutung zukommen und er hier dahin zu verstehen sein soll, dass nicht die abstrakte Strafandrohung, sondern die konkrete Straferwartung gemeint sei. Auch der Rahmenbeschluss zum Europäischen Haftbefehl selbst bestätigt diese Auslegung, da er (in seiner deutschen Fassung) in Art. 2 Abs. 1 und 2 RbEuHb wie in Art. 5 Nr. 2 RbEuHb in gleicher Weise das Wort "bedroht" verwendet (ebenso jeweils wortlautidentisch auch in anderen Vertragssprachen, z.B. englisch ["punishable"], französisch ["puni"] oder niederländisch ["strafbaar gesteld"]).

Die von der Generalstaatsanwaltschaft bevorzugte Auslegung wäre im Übrigen auch nicht praktikabel. Denn sie würde dem Senat abverlangen, eine Prognose darüber vorzunehmen, wie in einer fremden Rechtsordnung für den mit dem Auslieferungsbegehren unterbreiteten Sachverhalt die Strafe zugemessen werden wird, ohne dass den Auslieferungsunterlagen alle für die Strafzumessung bedeutsamen Tatsachen wie z.B. Vorstrafen, Tatentstehung und -motive oder Nachtatverhalten zu entnehmen wären. Die Einschätzung der britischen Staatsanwaltschaft in ihren Antwortschreiben vom 27. Januar und 10. Februar 2014 zur Straferwartung wäre als Grundlage einer solchen Prognose zudem ungeeignet, da sie nicht von dem für die Entscheidung zuständigen Gericht stammt und die Verhängung einer lebenslangen Freiheitsstrafe lediglich für wenig wahrscheinlich erachtet, letztlich aber im Hinblick auf die richterliche Unabhängigkeit nicht auszuschließen vermag.

3. Angesichts der nunmehrigen telefonischen Ankündigung des Leiters der Auslieferungsabteilung des britischen Home Office vom 3. April 2014 gegenüber der Generalstaatsanwaltschaft, bis zum 8. April 2014 ergänzende Unterlagen zur Frage der Verhängung lebenslanger Freiheitsstrafe zu übersenden, sieht der Senat dennoch vorerst weiterhin von einer abschließenden (derzeit notwendig ablehnenden) Entscheidung über die Zulässigkeit der Auslieferung ab, da insbesondere im Hinblick auf die jetzt erfolgte Einbeziehung der Regierungsebene in das Verfahren zu erwarten steht, dass eine den Anforderungen des § 83 Nr. 4 IRG genügende Erklärung noch erlangt werden kann.

4. Die Auslieferungshaft dauert aus den Gründen ihrer Anordnung fort. Angesichts des Tatvorwurfs und der jetzigen Ankündigung kurzfristiger Übersendung ergänzender Unterlagen ist die Fortdauer der Auslieferungshaft derzeit (noch) nicht unverhältnismäßig. Der Senat hat jedoch die Haftprüfungsfrist gemäß § 26 Abs. 1 Satz 3 IRG erneut verkürzt und erwartet, dass bis ihm zu diesem Zeitpunkt alle erforderlichen Unterlagen vorgelegt werden.