Die Einreise und der Aufenthalt von Kindern unter 16 Jahren von türkischen Arbeitnehmern ist erlaubnisfrei, wenn sie zum Zeitpunkt der Einreise einen gültigen Pass hatten.
Ein schützwürdiges Interesse für die rückwirkende Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG besteht nicht, weil für die Voraussetzung der Erteilung einer Niederlassungserlaubnis dem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis die Zeiten gleich stehen, in denen der Ausländer vom Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis befreit war.
(Leitsätze des Einsenders)
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Der Europäische Gerichtshof hat in seinem Urteil vom 10.07.2014 - C-138/13 - in der Rechtssache Dogan gegen die Bundesrepublik Deutschland entschieden, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen in Bezug auf die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit dahingehend auszulegen sei, dass diese Stillhalteklausel auch für nachzugswillige Familienangehörige eines bereits im Inland niedergelassenen türkischen Selbstständigen gelte. Ausdrücklich hebt der EuGH hervor, die Klägerin wolle nicht einreisen, um dort vom freien Dienstleistungsverkehr oder der Niederlassungsfreiheit Gebrauch zu machen, sondern um zu ihrem Ehemann zu ziehen und mit ihm ein Familienleben zu führen. Die Situation des Ehemannes, der Geschäftsführer einer GmbH sei, falle unter die Niederlassungsfreiheit. Eine die Voraussetzungen für eine erstmalige Aufnahme der Ehefrau verschärfende Regelung stelle eine "neue Beschränkung" der Ausübung der Niederlassungsfreiheit i.S.v. Art. 41 Abs. 1 ZP dar. Eine solche Beschränkung sei verboten, wenn sie nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt und geeignet sei, die Erreichung des legitimen Ziels zu erreichen, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgehe.
Diese neue Rechtsprechung lässt sich nach Auffassung der Kammer auf das Verständnis der Stand-Still-Klausel des Art. 13 ARB Nr. 1/80 EWG/Türkei übertragen. Sie führt dazu, dass im Fall des Klägers, der den Zuzug zu seinem in Deutschland als Arbeitnehmer lebenden Vater begehrte, die Einreise- und Aufenthaltsvoraussetzungen für unter 16-jährige Kinder aus der Türkei zugrunde zu legen sind, die nach dem AuslG 1965 und der dazu ergangenen Durchführungsverordnung galten. Nach § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG 1965 bedurften Ausländer, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet hatten, keiner Aufenthaltserlaubnis für die Einreise und den Aufenthalt. Zwar bedurften nach § 1 Abs. 2 Nr. 1 DVAuslG 1965 vom 10.09.1965 Staatsangehörige der Türkei, die Inhaber von Nationalpässen waren, keiner Aufenthaltserlaubnis, wenn sie sich nicht länger als drei Monate Im Geltungsbereich des AuslG aufhalten und keine Erwerbstätigkeit ausüben wollten. Diese Regelung stand jedoch neben derjenigen in § 2 Abs. 2 Nr. 1 AuslG und beseitigte diese Spezialregelung für unter 16jährige nicht. Allerdings sah § 3 Abs. 1 Satz 1 AuslG 1965 vor, dass sich Ausländer, die in den Geltungsbereich des Gesetzes einreisten und sich darin aufhielten, durch einen Pass ausweisen mussten. Der Kläger war im Passbesitz, so dass auf die Visumnotwendigkeit verzichtet werden musste. Das Visumverlangen wäre eine verbotene Beschränkung, die nicht durch einen zwingenden Grund des Allgemeininteresses gerechtfertigt wäre. Sie wäre nicht im Rechtssinn geeignet, das legitime Ziel (Familienzusammenführung) zu erreichen.
Mithin war auch der Aufenthalt des Klägers seit seiner Einreise bis zur Erreichung des 16. Lebensjahres aufenthaltserlaubnisfrei.
Ob daraus jedoch, wie der Kläger meint, auch ein Recht entstanden ist, eine Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG zu erhalten, weil ihm damit ein Aufenthaltsrecht "nach dem Assoziationsabkommen EWG/Türkei" zustand und somit der Wortlaut des § 4 Abs. 5 AufenthG erfüllt ist, kann in der vorliegenden Entscheidung offenbleiben. Der Kläger hat jedenfalls kein Rechtsschutzbedürfnis hinsichtlich einer solchen Verpflichtung der Beklagten zur rückwirkenden Aufenthaltserlaubniserteilung.
Ein Ausländer kann die Erteilung eines Aufenthaltstitels für einen in der Vergangenheit liegenden Zeitraum beanspruchen, wenn er daran ein schutzwürdiges Interesse hat (BVerwG, Urt. v. 09.06.2009 - 1 C 7.08 - InfAuslR 2009, 378).
Der Besitz einer Aufenthaltserlaubnis über fünf Jahre ist gem. § 9 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG u.a. Voraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis. Dem Besitz einer Aufenthaltserlaubnis stehen in diesem Zusammenhang jedoch Zeiten gleich, in denen der Ausländer vom Erfordernis der Aufenthaltserlaubnis befreit war (vgl. Hailbronner, § 9 AufenthG Rn. 13). Da der Kläger, wie dargelegt, bis zu seinem 16. Lebensjahr keiner Aufenthaltserlaubnis bedurfte, ist die Ausstellung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 4 Abs. 5 AufenthG, die noch dazu nicht konstitutiv, sondern nur deklaratorisch wirkt und das schon aufgrund des Assoziationsrechts bestehende Aufenthaltsrecht lediglich dokumentiert, nicht erforderlich, um die Erfüllung der Voraussetzungen für die Niederlassungserlaubnis zu belegen. [...]