VGH Hessen

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Zitieren als:
VGH Hessen, Urteil vom 04.09.2014 - 8 A 2434/11.A - asyl.net: M22387
https://www.asyl.net/rsdb/M22387
Leitsatz:

1. Afghanische Staatsangehörige sind bei einer Rückkehr in die Provinz Herat derzeit im Allgemeinen keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG ausgesetzt.

2. Der Amtsermittlungsgrundsatz verpflichtet das Gericht nicht zu weiterer Sachaufklärung, wenn der Asylbewerber die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, die sein Verfolgungsschicksal belegen sollen, nicht in sich stimmig und widerspruchsfrei vorgetragen hat.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Herat, Amtsermittlung, Amtsermittlungsgrundsatz, erhebliche individuelle Gefahr, Gefahr für Leib und Leben, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 4 Abs. 1 Nr. 3, AsylVfG § 4, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 2,
Auszüge:

[...]

II. Ein Anspruch auf die Feststellung eines unionsrechtlichen Abschiebungsverbotes nach § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG (bislang: § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG) scheidet ebenfalls aus.

Nach dieser Vorschrift ist von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abzusehen, wenn er dort als Angehöriger der Zivilbevölkerung einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ausgesetzt wäre. Voraussetzung für die Zuerkennung eines solchen Abschiebungsverbotes ist ein internationaler oder innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, aufgrund dessen der Ausländer einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt ist. Dabei kommt es wesentlich darauf an, ob sich die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgehende - und damit allgemeine – Gefahr in der Person des Ausländers so verdichtet hat, dass sie für ihn eine erhebliche individuelle Gefahr im Sinn von § 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylVfG darstellt. Eine derartige Individualisierung kann sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung sowohl aus gefahrerhöhenden Umständen in der Person des Betroffenen als auch aus einem besonders hohen Gefahrenniveau ergeben. Zu den sich bei einem hohen Niveau willkürlicher Gewalt für die Zivilbevölkerung aus gefahrerhöhenden Umständen, die in der Person des Betroffenen eine derartige Individualisierung ergeben können, gehören in erster Linie persönliche Umstände, die den Antragsteller von der allgemeinen, ungezielten Gewalt stärker betroffen erscheinen lassen, etwa weil er von Berufs wegen – z.B. als Arzt oder Journalist – gezwungen ist, sich nahe der Gefahrenquelle aufzuhalten. Möglich sind aber auch solche persönlichen Umstände, aufgrund derer der Antragsteller als Zivilperson zusätzlich der Gefahr gezielter Gewaltakte – etwa wegen seiner religiösen oder ethnischen Zugehörigkeit – ausgesetzt ist, sofern deswegen nicht bereits die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft in Betracht kommt. Fehlen derartige individuelle gefahrerhöhende Umstände, so kann eine Individualisierung der allgemeinen Gefahr ausnahmsweise auch bei einer außergewöhnlichen Situation eintreten, die durch einen so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13/10 –, juris Rdnrn. 17 f. unter Bezugnahme auf das Urteil des EuGH vom 17. Februar 2009 – Rs. C-465/07, Elgafaji –, juris). Für die Prognose, ob der Kläger bei Rückkehr nach Afghanistan einer erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben infolge willkürlicher Gewalt ausgesetzt ist, ist auf die tatsächlichen Verhältnisse in seiner Herkunftsregion abzustellen. Denn dort hat er zuletzt gelebt, so dass die Annahme gerechtfertigt ist, dass er dorthin zurückkehren wird (BVerwG, Urteil vom 14. Juli 2009 – 10 C 9.08 –, juris Rdnr. 17). In jedem Fall erfordert die Annahme einer erheblichen individuellen Gefahr, dass dem Betroffenen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein Schaden an den Rechtsgütern Leib oder Leben droht. Ob die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllt sind, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden (BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 –, juris Rdnr. 19f).

a) Gemessen an diesen Grundsätzen ist der Kläger in seiner Heimat – das Vorliegen einer allgemeinen Gefahr aufgrund eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts unterstellt – als Angehöriger der Zivilbevölkerung jedenfalls keiner erheblichen individuellen Gefahr für Leib oder Leben ausgesetzt. Er stammt nach eigenen Angaben aus der Provinz Herat und hat zuletzt in der Stadt Herat gelebt, so dass davon auszugehen ist, dass er dorthin zurückkehren würde. Individuelle gefahrerhöhende Umstände, die ihn stärker als andere von der allgemeinen, ungezielten Gewalt betroffen erscheinen lassen, sind angesichts seiner in sich nicht stimmigen Schilderungen nicht ersichtlich.

b) Darüber hinaus ist die Situation in Herat aber auch nicht von einem so hohen Gefahrengrad gekennzeichnet, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre.

Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat dazu in seinem Urteil vom 15. März 2013 - 13a B 12.30292 und 13a B 12.30325 - (juris, Rdnrn. 18 ff.) an Hand der von UNAMA vorgelegten Statistiken (Annual Report 2012 von UNAMA für 2012) hinsichtlich der landesweit getöteten und verletzten Zivilpersonen und der von ANSO dokumentierten, auf die einzelnen Provinzen bezogenen Zwischenfälle und Anschläge (Quarterly Data Report Q.4 2012 von Januar 2013) eine lediglich im Promillebereich liegende Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Anschlags zu werden, ermittelt. Nach UNAMA ergab sich daraus für 2012 im Vergleich zu 2011 landesweit ein Rückgang der Zahl getöteter Zivilisten um 12 %, verbunden mit einem leichten Anstieg der verletzten Zivilpersonen (S. 1). Die Gefahrendichte lag damit im Promillebereich. Wird demgegenüber die von ANSO übermittelte Anzahl der Anschläge von Regierungsgegnern (AOG Initiated Attacks) – ungeachtet der Tatsache, dass nicht jeder dieser Anschläge zu Toten und Verletzten geführt hat – der Berechnung zugrunde gelegt, liegt – ausgehend von insgesamt 299 "attacks" im Jahre 2012 – die Wahrscheinlichkeit eines Anschlags bei 0,02 %. Geht man demgegenüber von der Gesamtzahl der Zwischenfälle für Herat im Jahr 2012 aus, die sowohl Nichtregierungsorganisationen (NGO incidents), bewaffnete Regierungsgegner (AOG OPS), internationale Streitkräfte (IMF OPS), afghanische Streitkräfte (ANSF OPS) und allgemeine Kriminalität ("crime") umfasst, ergibt sich bei Zugrundelegung aller 892 "incidents" eine Gefahrendichte von 0,05 %. Diese liegt ebenfalls noch im Promillebereich und deutlich unter dem vom Bundesverwaltungsgericht als noch zu gering angesetzten Risiko von 0,12 % (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 – 10 C 13.10 –, juris, Rdnr. 23).

Für 2013 ist zwar eine Verschlechterung der Situation zu verzeichnen; gleichwohl ergibt sich aus den dem Senat vorliegenden Unterlagen keine derart relevante Steigerung der Opferzahlen, dass dort nunmehr von eine konkreten Gefährdung jeder Zivilperson allein auf Grund ihrer Anwesenheit in Herat auszugehen wäre. Der UNAMA Annual Report 2013 vom 8. Februar 2014 (S. 1) verzeichnet landesweit 8.615 zivile Opfer – 2.959 tote und 5.656 verletzte Zivilisten – und damit einen Anstieg der Anzahl getöteter Zivilisten um 7 % und der verletzten Zivilisten um 17 % sowie einen Anstieg von 14 % bezogen auf die Gesamtzahl der Opfer. Ein Bericht von ANSO über die Entwicklung der Zwischenfälle im Jahr 2013, bezogen auf die einzelnen Provinzen liegt derzeit noch nicht vor. Geht man jedoch davon aus, dass auch in Herat eine ähnliche Steigerung zu verzeichnen ist, ergibt sich eine Gefahrendichte von 0,056 %. Selbst wenn man für Herat von einer Steigerung um 50% und damit von 1343 toten Zivilisten ausgeht, ergibt sich eine Gefahrendichte von 0,07%, die immer noch deutlich unter dem vom Bundesverwaltungsgericht als zu gering angenommenen Risiko von 0,12 % liegt (vgl. dazu auch Bay. VGH Beschluss vom 13. Dezember 2013 – 13a ZB 13.30304 –, juris und Beschluss vom 23. April 2014 – 13a ZB 14.30095 -, juris).

Das vorausgesetzt sieht der Senat – ebenso wie der Bayerische Verwaltungsgerichtshof – diese Überlegungen trotz der ihnen naturgemäß innewohnenden Unsicherheiten als realistische Basis für die im Hinblick auf das Vorliegen einer auf Grund eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts vorzunehmende Risikoabschätzung an und kommt im Rahmen der nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vorzunehmenden Gesamtbewertung zu der Überzeugung, dass die Gefahrendichte in Herat jedenfalls noch kein so hohes Niveau erreicht hat, dass von einer konkreten Gefährdung eines jeden sich dort aufhaltenden Zivilisten auszugehen wäre. [...]