SG Kassel

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Zitieren als:
SG Kassel, Beschluss vom 09.05.2014 - S 6 AS 70/14 ER - asyl.net: M22395
https://www.asyl.net/rsdb/M22395
Leitsatz:

Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 – 5 FreizügG genannten Unionsbürger das Recht auf Freizügigkeit, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

Kommt es nach der gemeinsamen Einreise nach Deutschland zu einer Trennung (hier nach häuslicher Gewalt), nicht aber zu einer Scheidung, hängt ein eventueller SGB II-Leistungsanspruch der bisher nicht berufstätigen Ehefrau nicht davon ab, ob diese mit ihrem Ehemann eine Bedarfsgemeinschaft bildet.

Die Anrechnung fiktiven Einkommens im Bereich des SGB II widerspricht dem Bedarfsdeckungsgrundsatz. Ein Verweis auf noch nicht realisierte Unterhaltsansprüche ist unzulässig.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Familienangehörige, Unionsbürger, freizügigkeitsberechtigt, Trennung, eheliche Lebensgemeinschaft, häusliche Gewalt, Sozialleistungen, Bedarfsgemeinschaft, SGB II, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Getrenntleben,
Normen: FreizügG/EU § 3 Abs. 1, FreizügG/EU § 2 Abs. 2 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

Gemäß § 2 Abs. 1 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) haben Unionsbürger und ihre Familienangehörige das Recht auf Einreise und Aufenthalt nach Maßgabe dieses Gesetzes.

Unionsrechtlich freizügigkeitsberechtigt sind nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU unter anderem:

Nr. 1 Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer, zur Arbeitssuche oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen und gemäß

Nr. 6 Familienangehörige unter den Voraussetzungen der §§ 3 und 4 des FreizügG/EU.

Gemäß § 3 Abs. 1 FreizügG/EU haben Familienangehörige der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 – 5 genannten Unionsbürger das Recht nach § 2 Abs. 1 FreizügG/EU, wenn sie den Unionsbürger begleiten oder ihm nachziehen.

Familienangehörige i. S. d. § 3 Abs. 2 FreizügG/EU sind

der Ehegatte, der Lebenspartner und die Verwandten in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 bis 5 und 7 genannten Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner, die noch nicht 21. Jahre alt sind,

die Verwandten in aufsteigender und in absteigender Linie der in § 2 Abs. 2 Nr. 1 – 5 genannten Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner, denen diese Personen oder ihre Ehegatten oder Lebenspartner Unterhalt gewähren.

Im vorliegenden Fall ist die Antragstellerin zu 1) mit Herrn A. verheiratet, der als bulgarischer Staatsangehöriger in den Anwendungsbereich des § 2 FreizügG fällt und gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU als Unionsbürger, der sich als Arbeitnehmer in Deutschland aufhält, freizügigkeitsberechtigt ist. Die Antragstellerin zu 1) hat ihn bei der Einreise nach Deutschland begleitet und hat dementsprechend ein von Herrn A. abgeleitetes Freizügigkeitsrecht aus § 3 Abs. 1 und Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU. Ihr Aufenthaltsrecht leitet sich somit nicht ausschließlich aus § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU ab. Dies hat zur Folge, dass die Ausschlusstatbestände des § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II im Falle der Antragstellerin zu 1) nicht eingreifen.

Zunächst greift nicht der § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 SGB II ein, da die Antragstellerin zu 1) Ehefrau des Herrn A. ist, der in der Bundesrepublik Deutschland Arbeitnehmer ist. Sie hat bereits mehr als drei Monate in Deutschland ihren Aufenthalt.

Auch hat die Antragstellerin zu 1) nachvollziehbar dargelegt, dass sie sich nicht alleine zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland aufhält, sondern um ihren Ehemann zu begleiten. Damit greift auch nicht der Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 S.2 Nr. 2 SGB II ein.

Dass sich die Antragstellerin zu 1) von ihrem Ehemann inzwischen getrennt hat, nachdem sie mit der Antragstellerin zu 2) wegen häuslicher Gewalt in das Frauenhaus A-Stadt fliehen musste, hat zwar zur Folge, dass eine Bedarfsgemeinschaft nach § 7 Abs. 3 Nr. 3 a SGB II fraglich sein könnte, da nach dieser Vorschrift zur Bedarfsgemeinschaft als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person nur die nicht dauernd getrennt lebende Ehegattin oder der nicht dauernd getrennt lebende Ehegatte gehört. Im vorliegenden Fall ist es jedoch zunächst einmal nicht abzusehen, ob von einem dauernden Getrenntleben ausgegangen werden kann, wobei viel dafür sprechen dürfte, dass ein dauerndes Getrenntleben vorliegt. Allerdings spielt der Umstand, ob die Antragstellerin zu 1) mit ihrem Ehemann weiterhin eine Bedarfsgemeinschaft i. S. d. § 7 Abs. 3 Nr. 3 a SGB II bildet, für die Frage der Anspruchsberechtigung der Antragstellerin zu 1) nach dem SGB II nach Auffassung des Gerichts keine Rolle. Maßgeblich nach § 7 SGB II ist nämlich, ob die Antragstellerin zu 1) zum Kreis der Anspruchsberechtigten i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 1 SGB II gehört, was unstreitig der Fall ist und weiterhin, ob ein Ausschlusstatbestand nach § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB II eingreift, was im vorliegenden Fall nicht der Fall ist. Die Antragstellerin zu 1) hat somit als Ehefrau des Herrn A. einen eigenständigen SGB II-Anspruch.

Dass die Antragstellerin zu 1) möglicherweise einen Anspruch auf bedarfsdeckenden Unterhalt gegen ihren Ehemann haben könnte, steht einem Anordnungsanspruch nicht entgegen. Das Bundessozialgericht (BSG) hat in mehreren Entscheidungen (vgl. exemplarisch BSG, Urteil vom 22.08.2013 – B 14 AS 1/13 R) entschieden, dass die Anrechnung fiktiven Einkommens unzulässig. In der Rdnr. 35 der Entscheidung des BSG heißt es dazu:

"Die Verweigerung existenzsichernder Leistungen aufgrund einer unwiderleglichen Annahme, dass die Hilfebedürftigkeit bei einem bestimmten wirtschaftlichen Verhalten abzuwenden gewesen wäre, ist mit Art. 1 i. V. m. Art. 20 Grundgesetz nicht vereinbar (vgl. zuletzt BSGE 112, 229 = SozR 4-4200, § 11 Nr. 57, Rdnr. 14 unter Hinweis auf BVerfG, Beschluss vom 12.05.2005 - 1 BvR 569/05 -, NVwZ 2005, 927 = Breith 2005, 803 = juris Rdnr. 28). Zu berücksichtigendes Einkommen muss tatsächlich geeignet sein, Hilfebedürftigkeit zu beseitigen."

Dass die Antragstellerin zu 1) also einen entsprechenden Unterhaltsanspruch wird realisieren können, ändert an dem Umstand nichts, dass Hilfebedürftigkeit in der Zeit vorliegt, in der noch keine Unterhaltsleistung realisiert werden konnte, wobei zusätzlich noch zu berücksichtigen sein dürfte, dass das Einkommen des Ehemannes der Antragstellerin zu 1) in Höhe von monatlich 1.350 € nicht ausreichen dürfte, um dessen eigenen Unterhalt und den Unterhalt für die Antragstellerin zu 1) und 2) einschließlich zweier Wohnungen sowie einschließlich entsprechender sonstiger Leistungen, z. B. für den Betreuungsplatz der Antragstellerin zu 2), zu decken. Vor diesem Hintergrund dürfte viel dafür sprechen, dass auch nach der Realisierung von Unterhaltsansprüchen ein ungedeckter Bedarf verbleiben wird.

Die Antragstellerin zu 2) hat ebenfalls einen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. Zunächst hat die Bevollmächtigte der Antragstellerinnen mitgeteilt, dass keine Leistungen nach dem Unterhaltsvorschussgesetz geleistet werden; Kindergeld werde erst ab Mai 2014 gewährt, so dass eine entsprechende voll - ständige Anrechnung und Versagung von realisierbarem Unterhalt und Kindergeld vor Mai 2014 einer Anrechnung fiktiven Einkommens entsprechen würde, die – wie bereits ausgeführt wurde – unzulässig ist. Auch befindet sich die Antragstellerin zu 2) nicht zum Zwecke der Arbeitssuche in Deutschland i. S. d. § 7 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 SGB II, sondern hat ein von der Antragstellerin zu 1) abgeleitetes Aufenthaltsrecht. Die Antragstellerin gehört somit zum Kreis der Anspruchsberechtigten des § 7 SGB II. Sie ist insbesondere hilfebedürftig und hat somit einen eigenen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht. [...]