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VG Stade

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Zitieren als:
VG Stade, Beschluss vom 14.07.2014 - 1 B 862/14 - asyl.net: M22433
https://www.asyl.net/rsdb/M22433
Leitsatz:

Keine systemischen Schwachstellen/ Mängel in Ungarn nach aktueller Auskunftslage.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Ungarn, systemische Mängel, Inhaftierung, Dublin-Rückkehrer, Dublinverfahren,
Normen: VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung dieser Grundsätze kann das Gericht nicht erkennen, dass die ungarische Asylhaftpraxis systematisch die Grenzen des europäischen Rechts überschreitet, wenn – entsprechend der Auskunft des UNHCR – Dublin-Rückkehrer regelmäßig inhaftiert werden, weil die Behörden davon ausgehen, dass sie die Bescheidung ihres Asylantrages nicht in Ungarn abwarten, sondern sich durch erneute Ausreise dem ungarischen Asylverfahren entziehen werden. Dass die ungarischen Behörden für Dublin-Rückkehrer, die bereits einmal aus Ungarn geflohen sind, eine Fluchtgefahr annehmen, erscheint nicht willkürlich, sondern naheliegend. Das Gericht kann auch nicht erkennen, dass die Behörden insoweit Gebrauch von den im ungarischen nationalen Recht geregelten "überschießenden" Haftgründen – deren Europarechtskonformität durchaus angezweifelt werden kann – machen, wonach eine Inhaftierung schon bei einem "Verzögern" oder "Behindern" des Asylverfahrens angeordnet werden kann (vgl. Art. 31/A Buchst. c des ungarischen Asylgesetzes, vgl. VG Düsseldorf a.a.O, Rn. 106).

Dass für Dublin-Rückkehrer regelmäßig ein Fluchtgrund angenommen wird, lässt nicht darauf schließen, dass die gem. Art. 8 Abs. 2 AufnahmeRL erforderliche Einzelfallprüfung der Haftanordnung grundsätzlich nicht erfolgt. Im oben genannten National Country Report Hungary (aida) wird vielmehr ausgeführt, dass alleinstehende Frauen und Familien mit Kindern tatsächlich nicht in Asylhaft genommen würden, obwohl dies rechtlich möglich sei (a.a.O., S. 9). Eine solche Differenzierung belegt, dass tatsächlich Umstände des Einzelfalls bei der Haftanordnung berücksichtigt werden. Die Anforderungen, die an eine solche Einzelfallprüfung zu stellen sind, müssen auch dem Umstand Rechnung tragen, dass die Wiederaufnahme der Dublin-Rückkehrer rein zahlenmäßig ein Massengeschäft ist, welches für die Verwaltung handhabbar bleiben muss. So ist es zwar aus rechtsstaatlichen Gründen wünschenswert, dass sich eine vorangegangene Einzelfallprüfung auch in der schriftlichen Haftanordnung konkret niederschlägt, vom europäischen Recht ist dies jedoch nicht eindeutig gefordert. Art. 9 Abs. 2 Satz 2 AufnahmeRL sieht lediglich vor, dass die sachlichen und rechtlichen Gründe in der Haftanordnung angegeben werden. Dass die Haftanordnung den Haftgrund "Fluchtgefahr" nicht – auch nicht in standardisierter Form – benennt, kann das Gericht der Auskunft des UNHCR nicht klar entnehmen (vgl. dort Antwort auf Frage 3, erster Spiegelstrich:

"Der Begründungsteil [der Haftanordnung] führt keine konkreten Gründe aus, aus denen es im Falle des konkreten Asylbewerbers nötig und sachgerecht ist, Asylhaft anzuordnen. Auch fehlen Informationen dazu, warum genau im konkreten Falle die Haft erforderliches Mittel ist, um die Verfügbarkeit des Asylbewerbers während des Verfahrens sicherzustellen.").

Der Umstand, dass bei Dublin-Rückkehrern regelmäßig eine standardisierte Verlängerung der Haftzeit um 60 Tage erfolgt und dies im Ergebnis häufig zu einer Haftdauer von insgesamt vier bis fünf Monaten führt (vgl. National Country Report Hungary, aida, a.a.O., S. 51 u. 49), steht nicht in klarem Widerspruch zu den europäischen Vorgaben, namentlich zu Art. 9 Abs. 1 AufnahmeRL. Hiernach wird ein Antragsteller für den kürzest möglichen Zeitraum und nur so lange in Haft genommen, wie ein Haftgrund vorliegt. Es erscheint nicht grundsätzlich unvertretbar, bei Dublin-Rückkehrern anzunehmen, dass der Haftgrund der Fluchtgefahr fortlaufend gegeben ist.

Auch dafür, dass in Ungarn der in Art. 9 Abs. 3 AufnahmeRL ausgeformte europäische Mindeststandard eines effektiven Rechtsschutzes gegen die Haftanordnung unterschritten wird, bestehen keine belastbaren Anhaltspunkte. Das VG Düsseldorf führt hierzu aus:

"Die Überprüfung der Haftanordnungen erfolgt vielmehr im Rahmen einer automatischen gerichtlichen Haftüberprüfung erstmals nach 72 Stunden, anschließend dann - weil die Behörden regelmäßig die Verlängerung der Haft um jeweils weitere 60 Tage beantragen - in einem 60-Tage-Rhythmus. Die zuständigen Gerichte setzen dabei die Überprüfungstermine im Halbstundentakt und regelmäßig für Gruppen von 5 bis 15 Inhaftierte gleichzeitig an, so dass für jeden Fall nur wenige Minuten zur Verfügung stehen, vgl. auch aida-report, a.a.O., S. 57; Auskunft des UNHCR an das Verwaltungsgericht Düsseldorf vom 9. Mai 2014 zu Frage 7, S. 7.", VG Düsseldorf, a.a.O., Rn. 68.

Zudem steht dem Asylbewerber zumindest formal der Rechtsbehelf der objection zu Verfügung (vgl. Auskunft des UNHCR an VG Düsseldorf vom 09. Mai 2014 zu Frage 7). Das Gericht verkennt nicht, dass die Erfolgsquote dieser Rechtsbehelfe nach den vorliegenden Auskünften minimal ist und dass das Verfahren – auch hinsichtlich der verwendeten Sprache – dringend rechtsstaatlicher Verbesserungen bedarf. Hieraus lässt sich jedoch nicht folgern, dass das ungarische Verfahren den europäischen Asylstandards generell nicht genügt.

Ebenso wenig kann das Gericht den aktuellen Auskünften entnehmen, dass die Haftbedingungen in Ungarn systemisch eine unmenschliche, erniedrigende Behandlung der Dublin-Rückkehrer darstellen. Die im Bericht des Helsinki Komitees genannten Einzelfälle ("Information Note", Hungarian Helsinki Committee, a.a.O., S. 18) ebenso wie der von der Antragstellerin angeführte "Bericht über den Besuch in der Haftanstalt in Nyírbátor (Ungarn)" von Marc Speer (Bericht vom 10. März 2014, abrufbar unter bordermonitoring. eu/files/2012/03/Besuch-Nyirbator.pdf), in dem das Einzelschicksal eines pakistanischen Asylbewerbers geschildert wird, lassen insoweit keine Rückschlüsse zu. Der Auskunft des UNHCR lässt sich entnehmen, dass die Behandlung der Inhaftierten durch die Aufsichtskräfte problematisch bleibt, dies jedoch in einem geringeren Ausmaß als zuvor (Auskunft des UNHCR an VG Düsseldorf vom 09. Mai 2014 zu Frage 4, S. 5). Gegenüber der Situation, die der Entscheidung des EuGH vom 10. Dezember 2013 (a.a.O.) zugrunde lag, dürfte sich die Situation demnach eher verbessert haben, auch wenn insbesondere die fehlende klare Abgrenzung der Asyl- zur Strafhaft weiter kritikwürdig bleibt.

Schließlich kann die Antragstellerin eine Verpflichtung der Antragsgegnerin zum Selbsteintritt bzw. ein Absehen von der Abschiebung nach Ungarn nach Art. 3 Abs. 2 Dublin III-VO auch nicht im Hinblick auf eine etwaige bestehende Erkrankung beanspruchen. Als behandlungsbedürftige Asylsuchende würde sie wie eine ungarische Staatsangehörige behandelt, die ärztlicher Betreuung bzw. Überwachung bedarf (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 28. März 2014 – W 1 S 14.30143 –, juris, Rn. 26). Die Antragstellerin hat als alleinstehende Frau nach der Auskunftslage auch als Dublin-Rückkehrerin keine Inhaftierung zu fürchten, so dass sie nicht auf die medizinische Behandlung in einer Haftanstalt verwiesen wäre. Aus der aktuellen Auskunft des UNHCR (Auskunft des UNHCR an VG Düsseldorf vom 09. Mai 2014 zu Frage 4, S. 3) ergibt sich überdies, dass für eine medizinische Bedingung der Inhaftierten grundsätzlich gesorgt ist, wenn auch Zweifel an der Qualität der Behandlung geäußert werden.

Demnach ist die Abschiebung der Antragstellerin nach Ungarn rechtlich zulässig. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse, die die Antragsgegnerin im Verfahren nach § 34a AsylVfG selbst zu berücksichtigen hat, sind nicht ersichtlich. Zwar trägt die Antragstellerin vor, sie sei krank und es bedürfe einer weiteren Abklärung ihres Gesundheitszustandes. Das vorgelegte Attest beschreibt zwar ein Symptom ("rez. Synkopen"), stellt im Übrigen aber lediglich fest, dass zur Abklärung weitere Untersuchungen erforderlich seien. Eine Reiseunfähigkeit, die der Abschiebung entgegenstünde, ist weder konkret vorgetragen noch ärztlich bescheinigt. [...]