VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 18.06.2014 - 12 B 1238/14 - asyl.net: M22435
https://www.asyl.net/rsdb/M22435
Leitsatz:

1. Nach der aktuellen Erkenntnismittellage ist die Beantwortung der Frage, ob das Asyl und Aufnahmeverfahren in Ungarn (noch) mit systemischen Mängeln behaftet ist, als offen anzusehen.

2. Vor diesem Hintergrund ist nach der vorzunehmenden Interessenabwägung von einer Überstellung nach Ungarn abzusehen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ungarn, Aufnahmebedingungen, Asylverfahren, Ungarn, Dublinverfahren, systemische Mängel, Inhaftierung,
Normen: AsylVfG § 34a, AsylVfG § 34a Abs. 1, AsylVfG § 26a,GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßgaben spricht bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und möglichen summarischen Prüfung einiges dafür, dass die Abschiebungsanordnung bezüglich Ungarns rechtswidrig ist, weil erhebliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in Ungarn nach wie vor (noch) systemische Mängel im Asyl- und Aufnahmeverfahren vorliegen. Die Beantwortung dieser Frage ist daher derzeit als offen anzusehen.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln ist davon auszugehen, dass solche Mängel bis Ende 2012 vorlagen.

Dem Bericht des UNHCR vom April 2012 (Ungarn als Asylland: Bericht zur Situation für Asylsuchende und Flüchtlinge in Ungarn) war zu entnehmen, dass Ungarn - seit 1989 der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten und fast alle übrigen einschlägigen Menschenrechtsübereinkommen ratifizierend - bisher noch keine offizielle Migrationspolitik entwickelt hatte. In dem Bericht ist weiter ausgeführt, die seit 2010 im Amt befindliche Regierung habe Angelegenheiten vor allem im Zusammenhang mit der Bekämpfung "illegaler" Migranten und des wahrgenommenen Missbrauchs des Asylsystems betrachtet. Änderungen des Asyl- und Ausländerrechts und der entsprechenden Durchführungsmaßnahmen seien weniger auf die Menschenrechte und die Schutzbedürfnisse von Asylsuchenden und Flüchtlingen als auf Sicherheits- und Strafverfolgungsziele ausgerichtet gewesen. So seien etwa weniger Mittel für offene Aufnahmeeinrichtungen oder Alternativen zur Haft bereitgestellt worden, als in die Neuausstattung und Ausweitung des Abschiebehaftsystems geflossen. Die Möglichkeiten für Inhaftierungen und die entsprechende Praxis sei ausgeweitet, der Zugang zum Asylverfahren aber gleichzeitig eingeschränkt worden. Ungarn habe auch vermehrt Personen in Länder zurückgeschickt, die es als sichere Asylländer betrachtet habe, wodurch das Risiko von indirektem Refoulement und Kettenabschiebung entstanden sei.

Der UNHCR, dessen Beurteilung - wie aufgeführt - eine besondere Bedeutung zukommt, hat in dem genannten Bericht eine Vielzahl von Empfehlungen für Bereiche ausgesprochen, in denen er eine Abweichung des ungarischen Rechts und der Rechtspraxis von der Genfer Flüchtlingskonvention festgestellt hatte. Diese betreffen insbesondere folgende Punkte:

- die Gewährleistung des Zugangs zum Hoheitsgebiet des Landes für Asylsuchende unter voller Achtung des Non-Refoulement-Grundsatzes gemäß internationalem Flüchtlingsrecht und internationalen menschenrechtlichen Verpflichtungen vor dem Hintergrund, dass Rückführungen in z.B. die Ukraine oder nach Serbien bei illegaler Einreise ohne vorherige Anhörung und ohne die Möglichkeit Asyl zu beantragen, erfolgt seien

- die Gewährleistung des uneingeschränkten Zugangs zum Asylverfahren, wie in den anwendbaren internationalen Standards vorgesehen, vor dem Hintergrund, dass der Zugang zu Asylverfahren für Inhaftierte (so auch für Dublin-Rückkehrer) problematisch sei

- die Bereitstellung der erforderlichen Mittel, um zu gewährleisten, dass die neu zuständigen Gerichte über das nötige Wissen und Referenzmaterial verfügen und entsprechend informiert urteilen können, vor dem Hintergrund, dass Richter und Richterinnen meist keine Experten für Asylangelegenheiten und nicht besonders geschult seien

- bedarfsgerechte und qualitätsgesicherte Aufnahmebedingungen zu schaffen, vor dem Hintergrund, dass seit 2010 eine verstärkte Praxis der Inhaftierung oft für sehr lange Zeit erfolge, die vorhandenen Aufnahmebedingungen und Dienstleistungen - wie hygienische Zustände und die medizinische Versorgung - nicht den internationalen Standards entsprächen

- die Entwicklung einer neuen Vorgehensweise bei Haftanordnung und Haftstandards, die den Grundsätzen der Rechtmäßigkeit, Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit entsprächen, eine wirksame gerichtliche Überprüfung sowie die Prüfung von Alternativen beinhalteten und menschenwürdige Haftbedingungen gewährleisten, vor dem Hintergrund, dass immer häufiger Verwaltungshaft allein wegen irregulärer Einreise zum Tragen komme und insbesondere in der Haft von gewalttätigen Übergriffen des Wachpersonals und dem systematischen Einsatz von Beruhigungsmitteln berichtet werde.

Weitere Empfehlungen ergingen zum Schutz von Kindern und zur Unterstützung von Personen nach Zuerkennung eines Schutzstatus.

Insbesondere die ungarische Praxis der Inhaftierung wurde in Urteilen des EGMR (vom 11. Januar 2011, Darvas ./. Ungarn, Nr. 19547/07 und vom 20. September 2011 Lopko und Toure ./. Ungarn, Nr. 10816/10) ausdrücklich für konventionswidrig erklärt.

Von weitreichenden Mängeln in den genannten Bereichen berichteten auch weitere NGO`s insbesondere Pro-Asyl (bordermonitoring ev., Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Bericht einer einjährigen Recherche bis Februar 2012, vom März 2012) und Hungary-Helsinki-Committee (HHC), Bericht über die Behandlung von Dublin-Rückkehrern in Ungarn, vom Dezember 2011).

Auf Druck der genannten Kritik verabschiedete Ungarn Ende 2012 eine umfassende Gesetzesänderung, um den europarechtlichen Vorgaben zu genügen (vgl. insbesondere die Darstellung der Gesetzeslage im Einzelnen: AIDA (Asylum Information Database) National Country-Report Hungary, vom 13. Dezember 2013). Ab dem 1. Januar 2013 soll danach insbesondere keine Inhaftierung von Schutzsuchenden mehr erfolgen, wenn diese unverzüglich nach ihrem Aufgriff einen Asylantrag stellen. Grundsätzlich sollen auch Dublin-Rückkehrer nicht mehr inhaftiert werden; ihnen wird eine Vollprüfung ihres Asyl (folge-) Antrages garantiert. Zum 1. Juli 2013 erfolgte eine weitere Gesetzesänderung im Bereich Asylhaft im Unterschied zur Abschiebehaft, die die Haftgründe im Einzelnen benennt (vgl. AIDA a.a.O. und Pro-Asyl: Ungarn: Flüchtlinge zwischen Haft und Obdachlosigkeit, Aktualisierung und Ergänzung des Berichts vom März 2012, vom Oktober 2013). Ungarn ist um die Umsetzung der gesetzlichen Garantien bemüht; insbesondere wurde die Kapazität offener Unterbringungsmöglichkeiten erhöht (vgl. Pro-Asyl, a.a.O., Bericht vom Oktober 2013; Bundesamt für Migration und Flüchtlinge an VG München vom 30. Dezember 2013; Europäisches Parlament, Stellungnahme vom 31. Oktober 2013).

Infolge dieser Veränderungen geht eine Vielzahl von Verwaltungsgerichten in ihren aktuellen Entscheidungen (vgl. nur OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 31. Mai 2013 - 4 L 169/12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 6. August 2013 - 12 S 675/13 -, juris; VG Hannover, Urteil vom 7. November 2013 - 2 A 4696/12 -, juris; Österreichischer Asylgerichtshof, Entscheidung vom 9. Juli 2013 - S 21 436096-1/2013 -, RIS) davon aus, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn nunmehr keine systemischen Mängel mehr aufwiesen. Auch der EGMR geht in seiner Entscheidung vom 6. Juni 2013 (Mohammed ./. Österreich, Nr. 2283/12 -, HUDOC) unter Bezugnahme auf die Gesetzesänderungen in seiner individuellen Prüfung nicht mehr von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Verletzung von Artikel 3 EMRK bei einer Überstellung des Beschwerdeführers nach Ungarn aus. Er führt hierzu u.a. aus, er beziehe sich auf die Angaben des UNHCR zur Änderung der ungarischen Rechtsvorschriften und der Rechtspraxis und stelle fest, dass es scheine, dass die Überstellten jetzt ausreichend Zugang zum Asylverfahren in Ungarn hätten und den Ausgang ihrer Verfahren in Ungarn abwarten könnten, vorausgesetzt, sie stellten sofort nach ihrer Rückkehr einen Asylantrag.

Diesen überwiegend prognostischen Einschätzungen vermag sich das Gericht derzeit nicht anzuschließen, denn nach dem ihm vorliegenden aktuellsten Erkenntnismitteln liegen deutliche Anhaltspunkte dafür vor, dass die Umsetzung der Gesetzesänderungen (noch) nicht in einem solchen Maße erfolgt ist, dass die bisherige Feststellung des Vorliegens systemischer Mängel nunmehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit unzutreffend ist.

Bereits in seinem Bericht vom Oktober 2013 äußerte Pro-Asyl (a.a.O.) Bedenken hinsichtlich einer Verschärfung der Inhaftierungspraxis aufgrund der Gesetzesänderung vom 1. Juli 2013 und wies auf Defizite bei der relativ kurzen Dauer von Unterbringung und Unterstützungsleistungen, bzgl. des Zugangs zur Gesundheitsversorgung und zu Arbeitsmöglichkeiten für Asylbewerber hin.

Im aktuellsten Bericht des Hungary-Helsinki-Committees vom Mai 2014 (Information Note on Asylum-Seekers in Detention and in Dublin Procedures in Hungary) finden sich diese Befürchtungen teilweise bestätigt. Mitarbeiter des HHC hatten im Februar 2014 die drei Asylhaftzentren in Ungarn besucht, Interviews mit der Leitung der Zentren, Sozialarbeitern, medizinischem Personal und 150 Häftlingen geführt und 107 Haftprüfungsentscheidungen analysiert. In dem Bericht ist u.a. ausgeführt, dass die Anordnung und Aufrechterhaltung von Asylhaft in Anwendung des neuen Gesetzes häufig und schematisch erfolge und nicht die Ausnahme darstelle; Anfang April 2014 seien 28 % aller Asylsuchenden mit anhängigen Verfahren und 42 % der männlichen Erstantragsteller mit laufenden Verfahren inhaftiert gewesen. In der Zeit vom 1. Juli 2013 bis 17. April 2014 seien insgesamt 2372 Personen inhaftiert gewesen. Weiterhin erfolge wegen eines Mangels an staatlich finanzierten Altersbestimmungsverfahren diesbezüglich nur ein sehr vereinfachtes Verfahren. Beobachtungen hätten ergeben, dass etliche Inhaftierte sehr jung ausgesehen hätten, d.h. trotz gesetzlichen Verbots auch mutmaßlich Minderjährige inhaftiert seien. Auch Frauen und Familien befänden sich trotz gesetzlichen Verbotes in Haft.

Die Analyse der Haftprüfungsentscheidungen habe ergeben, dass die Haftprüfungen - alle 60 Tage - uneffektiv seien, weil sie in der Regel keine individuelle Entscheidung darstellten, d.h. es fehle an der Berücksichtigung der individuellen Umstände im Einzelfall und an einer Begründung zur Gesetzmäßigkeit und Verhältnismäßigkeit. Auch fehlten Erwägungen zu Haftalternativen. Viele Entscheidungen seien fehlerhaft, weil die zuständigen Richter und Richterinnen nicht ausreichend qualifiziert seien. Hinzu komme, dass die gesetzlich bestellten Rechtsanwälte in den Haftprüfungsverfahren nur eine passive Rolle spielten. Sie kommunizierten nicht mit ihren Mandanten, hätten daher keinen Zugang zu deren individuellen Gründen und würden entsprechend im Verfahren auch keine Argumente zur Haftentlassung oder zur persönlichen Anhörung vorbringen. Diese Umstände habe auch der oberste Gerichtshof Ungarns (Curia) in seinen Entscheidungen vom 30. Mai und 23. September 2013 kritisiert. Derzeit arbeite eine Arbeitsgruppe der Curia an einer Studie über die praktische gerichtliche Haftprüfung, die eine öffentliche Analyse und nichtbindende Empfehlungen für Richter enthalten werde.

Darüber hinaus seien die Haftzentren nach wie vor zur Unterbringung besonders verletzlicher Personen schlecht ausgerüstet. Die Stimmung in den Zentren sei angespannt und bedrückend, da Möglichkeiten zu Aktivitäten zum Teil sehr begrenzt oder überhaupt nicht vorhanden seien.

Dublin-Rückkehrer, denen nunmehr vom Gesetz eine Vollprüfung ihres Asylantrages garantiert werde, hätten als Folgeantragsteller einschränkte Rechte bzgl. der Aufnahme und Arbeitsbedingungen. Sie würden grundsätzlich im Aufnahmezentren Ballassagyarmat untergebracht. Die Unterbringung sei jedoch auf 2 Monate begrenzt. Seit November 2013 hätten mehr und mehr Asylsuchende diese Frist ausgeschöpft und sähen sich dem Risiko von Obdachlosigkeit und Verarmung ausgesetzt. Der Zugang zum Arbeitsmarkt ist nahezu aussichtslos, da in Ungarn wegen der Erhöhung des Renteneintrittsalters und mangels Abwanderung von Bürgern - wie in Rumänien oder Bulgarien - kaum bis keine Arbeitsplätze für Migranten zur Verfügung stehen (vgl. Pro-Asyl, Bericht vom März 2012, a.a.O.). Das HHC sei beunruhigt über die Situation, dass Asylsuchende den Ausgang ihres Verfahrens auf der Straße im Zustand der Verarmung abwarten müssten, obwohl sie möglicherweise anzuerkennen seien und demnach Anspruch auf alle damit verbundenen Leistungen hätten. Zudem bestünden auch hier Zweifel an einem effektiven Rechtsschutz gegenüber Überstellungsentscheidungen. Die Rechtsmittelfrist von 3 Tagen sei extrem kurz, es sei keine Anhörung vorgesehen, der Rechtsbehelf habe keine aufschiebende Wirkung und es bestünden auch hier Defizite bei der Fachkenntnis der zuständigen Richter.

Vor diesem Hintergrund überwiegt das Aussetzungsinteresse des Antragstellers. Bliebe diesem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Klage versagt, wäre er der möglichen Gefahr ausgesetzt, über einen längeren Zeitraum lediglich infolge seines Status als Asylsuchender inhaftiert zu werden oder unterhalb seines Existenzminimums ohne ausreichend gesicherten Zugang zu Nahrung und Unterkunft leben zu müssen. Die damit verbundenen nicht auszuschließenden physischen und psychischen Beeinträchtigungen, auf die der Antragsteller hingewiesen hat und die grundrechtliche Positionen betreffen, wären im Falle einer erfolgreichen Klage und dem damit verbundenen Recht auf Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland auch nicht rückgängig zu machen. Diese Beeinträchtigungen des Antragstellers wiegen schwerer als - im Falle der Stattgabe des Antrages und späterer Klageabweisung - der Aufschub oder auch der Ausfall der Durchsetzung einer Überstellung in den an sich zuständigen Mitgliedstaat. Die grundsätzliche Wirksamkeit und Effektivität des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems wird durch eine sich im Nachhinein als falsch herausstellende Unterbindung einer Überstellung im Einzelfall nicht in Frage gestellt, zumal die Dublin-Verordnungen ein Recht zum jederzeitigen Selbsteintritt der Mitgliedstaaten vorsehen und eine gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung zur Überstellung nicht besteht (vgl. zu Letzteren: BVerfG, Beschluss vom 22. Dezember 2009, a.a.O.). [...]