VGH Bayern

Merkliste
Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 08.10.2014 - 10 C 13.1302 - asyl.net: M22443
https://www.asyl.net/rsdb/M22443
Leitsatz:

Die Ausländerbehörde kann von einer nachträglichen zeitlichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich absehen, wenn deren Geltungsdauer nur noch sechs Monate beträgt und keine gewichtigen Gründe für eine umgehende Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet vorliegen.

Schlagwörter: nachträgliche Befristung, Ermessen, öffentliches Interesse, eheliche Lebensgemeinschaft, Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen,
Normen: AufenthG § 7 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG kann die Ausländerbehörde die Geltungsdauer einer Aufenthaltserlaubnis nachträglich verkürzen, wenn eine für die Erteilung, die Verlängerung oder die Bestimmung der Geltungsdauer wesentliche Voraussetzung entfallen ist. Da die eheliche Lebensgemeinschaft zwischen dem Kläger und seiner Ehefrau im November 2011 beendet und damit die wesentliche Erteilungsvoraussetzung für den ehebezogenen Aufenthaltstitel des Klägers nach den zutreffenden Feststellungen des Verwaltungsgerichts entfallen war, konnte die Beklagte grundsätzlich nachträglich die Geltungsdauer dieser bis 16. August 2012 befristeten Aufenthaltserlaubnis verkürzen. § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG stellt es allerdings in das Ermessen der Ausländerbehörde, ob sie von der Möglichkeit der nachträglichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis Gebrauch machen oder den Ablauf der ursprünglichen Geltungsdauer abwarten will (vgl. BVerwG, U.v. 9.6.2009 – 1 C 11.08 – juris Rn. 12). Es handelt sich dabei nicht um ein intendiertes Ermessen oder eine Sollvorschrift. Das Ermessen ist in doppelter Weise auszuüben, nämlich ob die Geltungsdauer überhaupt nachträglich zeitlich verkürzt werden soll, und wenn ja, auf welchen Zeitpunkt zu verkürzen ist. Geboten ist dabei eine umfassende Ermessensausübung, wobei die eine Beendigung der Geltung der Aufenthaltserlaubnis rechtfertigenden öffentlichen Belange auf aufenthaltsrechtlich erhebliche Zwecke begrenzt sind (vgl. dazu eingehend Discher, a.a.O., Rn. 413 ff. m.w.N.).

Keine im Rahmen dieser von der Behörde anzustellenden Ermessenserwägungen beachtliche Frage ist, ob der Kläger trotz Beendigung der ehelichen Lebensgemeinschaft einen Anspruch auf Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis als eigenständiges Aufenthaltsrecht nach § 31 AufenthG oder auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis aus sonstigen Gründen, d.h. für einen neuen Aufenthaltszweck, hat (BVerwG, U.v. 9.6.2009 – 1 C 11.08 – juris Rn. 14). Demgemäß ist im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG nur noch das Interesse des Ausländers, bis zum Ablauf der ursprünglichen Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis in Deutschland zu bleiben, gegen das öffentliche Interesse an der Beendigung eines materiell rechtswidrig gewordenen Aufenthalts abzuwägen (BVerwG a.a.O. Rn. 15). Auch der verbleibenden Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis kann insoweit Bedeutung zukommen. So kann die Ausländerbehörde von einer nachträglichen zeitlichen Verkürzung der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis grundsätzlich absehen, wenn deren Geltungsdauer nur noch (bis zu) sechs Monate beträgt und keine gewichtigen Gründe für eine (umgehende) Entfernung des Ausländers aus dem Bundesgebiet vorliegen (vgl. Nr. 7.2.2.7 AVwV zum AufenthG).

Die Beklagte hat im angefochtenen Bescheid vom 4. April 2012 entscheidend darauf abgestellt, dass beim Kläger durch die Aufhebung der ehelichen Lebensgemeinschaft die Voraussetzungen seines Aufenthalts entfallen seien, er auch keinen anderweitigen Anspruch auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis besitze und die Verkürzung seiner Aufenthaltserlaubnis "daher im öffentlichen Interesse" liege.

Gründe dafür, warum die Beklagte im konkreten Fall ungeachtet des schon in relativ kurzer Zeit (ca. vier Monate) bevorstehenden Ablaufs der Geltungsdauer der Aufenthaltserlaubnis des Klägers und trotz seiner beiden weiter in Deutschland lebenden, 2010 und 2011 geborenen Kinder (auch wenn zu diesen im Entscheidungszeitpunkt keine "innige Bindung" bestanden haben sollte) die Geltungsdauer verkürzt hat, werden im streitbefangenen Bescheid nicht angeführt. Vielmehr wird hinsichtlich des öffentlichen Interesses an der Beendigung der Geltungsdauer des Aufenthaltstitels letztlich allein auf das schon von § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG tatbestandlich vorausgesetzte Entfallen des (bisherigen) Aufenthaltszwecks und – insoweit aber nicht mehr in einer dem Zweck des § 7 Abs. 2 Satz 2 AufenthG entsprechenden Weise (s.o.; BVerwG, U.v. 9.6.2009 – 1 C 11.08 – juris Rn. 14) – auf einen fehlenden Anspruch auf Verlängerung oder Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 31 AufenthG oder aus sonstigen Gründen abgestellt. Damit greifen die der angefochtenen Fristverkürzung zugrunde gelegten Ermessenserwägungen der Beklagten aber zu kurz, weil aufenthaltsrechtlich erhebliche Zwecke, die eine baldmögliche bzw. kurzfristige Aufenthaltsbeendigung beim Kläger erfordern könnten – wie zum Beispiel die gesetzgeberische Zielsetzung der Begrenzung des Zuzugs von Ausländern, das Fehlen von Regelerteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 AufenthG (insbesondere Ausweisungsgründe), Verschuldensgesichtspunkte etc. (vgl. dazu eingehend Discher, a.a.O., Rn. 413 ff. und 445 ff. m.w.N.) –, nicht in die Ermessensentscheidung einbezogen werden bzw. nicht erkennbar sind. [...]