VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 05.08.2014 - 10 BV 13.2020 - asyl.net: M22456
https://www.asyl.net/rsdb/M22456
Leitsatz:

"Freier Dienstleistungsverkehr" nach Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll des ARB ist dahin auszulegen ist, dass er nicht die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasst, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.

Schlagwörter: Stillhalteklausel, türkische Staatsangehörige, Dienstleistungsfreiheit, Dienstleistung, grenzüberschreitende Dienstleistungen, passive Dienstleistungsfreiheit, Visumspflicht, Visum, Visumsfreiheit, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: ZP Art. 41 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

2.2.1. Gemäß Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll werden die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen. Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs hat Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll unmittelbare Wirkung, da er eine klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel enthält, die eine Verpflichtung der Vertragsparteien begründet, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist. Folglich können sich türkische Staatsangehörige, auf die die Bestimmung anwendbar ist, vor den nationalen Gerichten auf die Rechte, die sie ihnen verleiht, berufen (EuGH, U.v. 19.2.2009 – Rs. C-228/06, Soysal u. Savatli / Bundesrepublik Deutschland – juris Rn. 45 m.w.N.; EuGH, U.v. 24.9.2013 – Rs. C-221/11, L. E. Demirkan / Bundesrepublik Deutschland – juris Rn. 38). Zwar ist die in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll enthaltene Stillhalteklausel nicht aus sich heraus geeignet, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts (materiell) ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen, und kann ihnen auch weder ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verschaffen. Die Stillhalteklausel verbietet jedoch allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die den Zweck oder die Wirkung haben, die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats restriktiveren Bedingungen als denen zu unterwerfen, die galten, als das Zusatzprotokoll in diesem Mitgliedstaat in Kraft trat. Aus dem Urteil Soysal u. Savatli ergibt sich, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger zu verlangen, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zuvor nicht verlangt wurde (EuGH, U.v. 19.2.2009 – Rs. C-228/06, Soysal u. Savatli / Bundesrepublik Deutschland – juris Rn. 47 ff.; U.v. 24.9.2013 – Rs. C-221/11, L. E. Demirkan / Bundesrepublik Deutschland – juris Rn. 39 ff.).

2.2.2. Die (Auslegungs-)Frage, ob die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll auch für türkische Staatsangehörige gilt, die – anders als in dem dem Urteil Soysal u. Savatli zugrunde liegenden Fall – keine grenzüberschreitenden Dienstleistungen erbringen, sondern sich in einen Mitgliedstaat begeben wollen, um dort Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, hat der Gerichtshof mit dem Urteil vom 24. September 2013 in der Rechtssache Demirkan dahingehend entschieden, dass der Begriff "freier Dienstleistungsverkehr" in dieser Bestimmung diese (passive Dienstleistungs-)Freiheit nicht umfasst. Die den unionsrechtlichen Vorschriften über den Binnenmarkt (hier insbesondere: Art. 56 ff. AEUV – früher: Art. 49 ff. EG) gegebene Auslegung könne nicht automatisch auf die Auslegung eines von der Union mit einem Drittstaat geschlossenen Abkommens übertragen werden, sofern dies nicht im Abkommen selbst ausdrücklich vorgesehen sei. Insoweit verpflichte die Verwendung des Verbs "sich leiten lassen" in Art. 14 des Assoziierungsabkommens (s. 64/733/EWG; ABl. 1964, Nr. 217, S. 3687) die Vertragsparteien nicht, die Vertragsbestimmungen über den freien Dienstleistungsverkehr oder die zu ihrer Durchführung erlassenen Bestimmungen als solche anzuwenden, sondern nur, sie als Inspirationsquelle für die Maßnahmen zu betrachten, die zur Erreichung der in diesem Abkommen festgelegten Ziele zu erlassen sind. Überdies hänge die Übertragung der Auslegung einer Vertragsbestimmung auf eine vergleichbar, ähnlich oder sogar übereinstimmend gefasste Bestimmung eines Abkommens zwischen der Union und einem Drittstaat insbesondere davon ab, welchen Zweck jede dieser Bestimmungen in ihrem jeweiligen Rahmen verfolge. Insoweit komme dem Vergleich der Ziele und des Kontexts des Abkommens einerseits und des Vertrags (EG bzw. AEUV) andererseits erhebliche Bedeutung zu (EuGH, U.v. 24.9.2013 a.a.O. Rn. 42 ff.).

Bei dem hinsichtlich Zweck und Kontext des Assoziierungsabkommens einerseits und des betreffenden Unionsrechtsakts (insbesondere Art. 56 AEUV) andererseits angestellten Vergleich (EuGH a.a.O. Rn. 48 ff.) kommt der Gerichtshof zu dem Ergebnis, dass insoweit grundlegende Unterschiede bestünden, weil das Assoziierungsabkommen (wie sein Zusatzprotokoll) einen ausschließlich wirtschaftlichen Zweck verfolge, während mit den wirtschaftlichen (Grund-)Freiheiten im Rahmen des Unionsrechts ein als Raum ohne Binnengrenzen konzipierter Binnenmarkt (s. Art. 3 Abs. 3 EUV) mit der Ermöglichung einer generellen Freizügigkeit für Unionsbürger (s. Art. 21 AEUV) geschaffen werden solle (EuGH a.a.O. Rn. 53 und 56). Aus dieser unterschiedlichen Zielsetzung leitet der Gerichtshof ab, dass die Stillhalteklausel in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll, sei es unter Anknüpfung an die Niederlassungsfreiheit oder den freien Dienstleistungsverkehr, nur im Zusammenhang mit der Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt betreffen könne (EuGH a.a.O. Rn. 53).

Als zweites Argument für dieses Auslegungsergebnis zieht der Gerichtshof auch den zeitlichen Kontext dieser Bestimmungen heran. Da der Gerichtshof erst 1984 im Urteil Luisi und Carbone klargestellt habe, dass der freie Dienstleistungsverkehr im Sinne des Vertrags (EWG bzw. jetzt AEUV) auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasse, gebe es keinen Anhaltspunkt dafür, dass die Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens und des Zusatzprotokolls bei deren Unterzeichnung davon ausgegangen seien, dass der freie Dienstleistungsverkehr auch die passive Dienstleistungsfreiheit umfasse (EuGH a.a.O. Rn. 57 ff.). Auch die Übung der Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens biete im Übrigen keine Anhaltspunkte für das Gegenteil, da auf beiden Seiten nach dem Inkrafttreten des Zusatzprotokolls teilweise eine Visumpflicht für touristische Aufenthalte eingeführt worden sei (EuGH a.a.O. Rn. 61).

Unter Berücksichtigung dieser Umstände hat der Gerichtshof auf die erste Vorlagefrage geantwortet, dass der Begriff "freier Dienstleistungsverkehr" in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er nicht die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasst, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen.

2.2.3. Unabhängig davon, inwieweit das Urteil des Gerichtshofs vom 24. September 2013 in der Rechtssache Demirkan (Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV) über die Auslegung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll Bindungswirkung erga omnes und damit auch im vorliegenden Verfahren entfaltet mit der Folge, dass der Verwaltungsgerichtshof Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll in dieser vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung anwenden muss (vgl. dazu Ehricke in Streinz, EUV/AEUV, Kommentar, 2. Aufl. 2012, AEUV Art. 267 Rn. 69 ff.; Karpenstein in Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union, Stand: 52. Ergänzungslieferung 2014, AEUV Art. 267 Rn. 104 ff. jeweils m.w.N ), ergeben sich für den Senat weder Zweifel hinsichtlich der vom Gerichtshof vorgenommenen Auslegung des Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll noch insbesondere der Übertragbarkeit der Auslegung (auch) auf die Konstellation der Klägerin. Die von Klägerseite im Berufungsverfahren insoweit geltend gemachten Einwände greifen nicht durch. Für die durch die Klägerin hilfsweise beantragte Aussetzung des Verfahrens und ein erneutes Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV besteht daher keine Veranlassung.

Der Einwand, der Gerichtshof habe in der Vorabentscheidung vom 24. September 2013 noch nicht ausreichend differenziert zwischen der Frage der Visumfreiheit bei nur gelegentlichem Empfang von Dienstleistungen im Fall Demirkan und einem Fall wie dem der Klägerin, bei der die Einreise erkennbar ausschließlich zum Zweck des Dienstleistungsempfangs erfolgen solle, vermag solche Zweifel nicht zu begründen. Denn die dem Gerichtshof gemäß Art. 267 Abs. 1 Buchst. a AEUV durch das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vorgelegte Frage über die Auslegung des Begriffs "freier Dienstleistungsverkehr" in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ist ebenso klar und eindeutig wie die Beantwortung dieser Vorlagefrage durch den Gerichtshof, der festgestellt hat, dass dieser Begriff nicht die Freiheit türkischer Staatsangehöriger umfasst, sich als Dienstleistungsempfänger in einen Mitgliedstaat zu begeben, um dort eine Dienstleistung in Anspruch zu nehmen. Der Gerichtshof differenziert in seiner Entscheidung gerade nicht danach, ob die Inanspruchnahme einer Dienstleistung – wie im Ausgangsfall Demirkan – bei Gelegenheit eines Familienbesuchs erfolgen soll oder – wie die Klägerin für sich geltend macht – die Inanspruchnahme der Dienstleistung das alleinige Ziel der (Ein-)Reise in den Mitgliedstaat bildet. Als Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit, wie sie der Gerichtshof für die Anwendung der Stillhalteklausel auf die Voraussetzungen für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten und ihren dortigen Aufenthalt als erforderlich ansieht (EuGH a.a.O. Rn. 55), ist danach gerade nicht der bloße Empfang von Dienstleistungen im Mitgliedstaat im Sinne der passiven Dienstleistungsfreiheit des Art. 56 AEUV zu bewerten. Demgemäß bestand für den Gerichtshof auch keine Notwendigkeit mehr, auf die zweite Vorlagefrage in der Rechtssache Demirkan einzugehen, bei der es um die Frage eines Finalitätskriteriums bei einer unterstellten zulässigen Berufung auf den Schutz der passiven Dienstleistungsfreiheit auch im Rahmen von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ging. Dass dem Gerichtshof die Bandbreite möglicher Fallgestaltungen im Vorabentscheidungsverfahren Demirkan durchaus bewusst war, ergibt sich – worauf der Vertreter des öffentlichen Interesses in der mündlichen Verhandlung zu Recht hingewiesen hat – schon aus den diesbezüglichen umfangreichen Ausführungen und Erläuterungen des Generalanwalts V. (auch) zur zweiten Vorlagefrage in dessen Schlussanträgen vom 11. April 2013 in der Rechtssache Demirkan (dort Rn. 73 ff.).

Nicht durchgreifend ist auch der weitere Hinweis der Klägerin, zum Zeitpunkt des Abschlusses des Assoziierungsabkommens sei die passive Dienstleistungsfreiheit gemeinschaftsrechtlich bereits anerkannt gewesen, was insbesondere in der Richtlinie 64/221/EWG des Rates vom 25. Februar 1964 zur Koordinierung der Sondervorschriften für die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern, soweit sie aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit gerechtfertigt sind (ABl. Nr. 56 S. 845), sowie der Richtlinie 73/148/EWG des Rates vom 21. Mai 1973 zur Aufhebung der Reise- und Aufenthaltsbeschränkungen für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten innerhalb der Gemeinschaft auf dem Gebiet der Niederlassung und des Dienstleistungsverkehrs (ABl. Nr. L 172 S.14) zum Ausdruck komme; dort sei jeweils auch der Aufenthaltszweck der Entgegennahme von Dienstleistungen ausdrücklich aufgeführt. Denn zum einen hat der Gerichtshof bei seiner Entscheidung in der Rechtssache Demirkan und der Auslegung des Begriffs des "freien Dienstleistungsverkehrs" in Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll ganz entscheidend auf die unterschiedliche Zielsetzung des Assoziierungsabkommens und des Vertrags (EG bzw. AEUV) und erst in zweiter Linie auf den zeitlichen Kontext dieser Bestimmungen und seine Klarstellung der Gewährleistung der passiven Dienstleistungsfreiheit im Urteil Luisi und Carbone im Jahr 1984 abgestellt. Im Übrigen hat der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen vom 11. April 2013 in der Rechtssache Demirkan ausführlich dargelegt, dass der Inhalt der Dienstleistungsfreiheit und der Begriff des freien Dienstleistungsverkehrs und insbesondere die Erstreckung der Dienstleistungsfreiheit auf die passive Dienstleistungsfreiheit zum Zeitpunkt des Abschlusses des Assoziierungsabkommens "alles andere als unumstritten" und unklar war (dort Rn. 55 ff.). Die Folgerung der Klägerin, die Vertragsparteien des Assoziierungsabkommens und des Zusatzprotokolls seien damals davon ausgegangen, dass der freie Dienstleistungsverkehr auch die passive Dienstleistungsfreiheit mit umfasst, ist daher lediglich eine vom Gerichtshof mit guten Gründen verworfene Mutmaßung. [...]