VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 25.06.2014 - W 6 K 14.30320 - asyl.net: M22464
https://www.asyl.net/rsdb/M22464
Leitsatz:

Eine Person, die vor der iranischen Botschaft eine regimekritische Rede hält, muss damit rechnen, bei Rückkehr in den Iran verfolgt zu werden.

Wird der Antrag auf Asyl im Gerichtsverfahren zurückgenommen, der Antrag auf Flüchtlingsschutz jedoch aufrechterhalten, fällt die Rücknahme kostenrechtlich gem. § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO nicht ins Gewicht.

Schlagwörter: Iran, Anwerbeversuch, Anwerbung, Exilpolitik, Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen, Behörden, Roboter, Geheimdienst, Kurden, Flüchtlingsprotest, Medien, Klagerücknahme, Kosten, Verfahrenskosten, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe,
Normen: AsylVfG § 3, VwGO § 155 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Vorgaben ist das Gericht unter Zugrundelegung des klägerischen Vorbringens sowie der verfahrensgegenständlichen Erkenntnisquellen und insbesondere der eigens eingeholten sachverständigen Stellungnahmen des Auswärtigen Amtes vom 26. März 2014, des Deutschen Orient-Institutes vom 19. Februar 2013 sowie von Amnesty International vom 20. März 2014 überzeugt, dass dem Kläger im Falle einer Rückkehr in den Iran staatliche Verfolgungsmaßnahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dies folgt angesichts der konkreten Umständen des Einzelfalls gerade aus einer Zusammenschau der Vorfluchtaktivitäten sowie der exilpolitischen Aktivitäten des Klägers.

Der in der mündlichen Verhandlung einen ehrlichen und glaubwürdigen Eindruck hinterlassende Kläger hat glaubhaft geschildert, dass er aufgrund der Entwicklung eines Kampfroboters schon im Iran in den Fokus der iranischen Sicherheitskräfte geraten ist, nachdem er eine Zusammenarbeit verweigert hatte. Er hat weiter von entsprechenden Maßnahmen der iranischen Sicherheitskräfte gegen ihn berichtet sowie von wiederholten Nachfragen der Sicherheitskräfte bei seinem Vater. Die eingeholten Auskünfte sprechen im Ergebnis nicht gegen die Darstellung des Klägers, sondern stützen sie in der Sache. So bestätigt das Auswärtige Amt in seiner Auskunft vom 26. März 2014, dass Roboterwettbewerbe, wie vom Kläger beschrieben, im Iran tatsächlich stattfinden und dass im Einzelfall repressive Maßnahmen im Fall der Verweigerung der Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen nicht ausgeschlossen werden können. Weiter bestätigt das Auswärtige Amt, dass Ladungen zur Anhörung bei Geheimdiensten grundsätzlich mündlich erfolgen. Auch dem Deutschen Orient-Institut sind laut Auskunft vom 19. Februar 2013 die vom Kläger erwähnten Wettbewerbe bekannt, ebenso mögliche Anwerbeversuche sowie Berichte über Repressionen bei Ablehnung eines Anwerbeversuches. Auch sonst wird das vom Kläger beschriebene Vorgehen der Sicherheitskräfte als nicht unwahrscheinlich bezeichnet. Gleichermaßen hält Amnesty International in seiner Auskunft vom 20. März 2014 Anwerbeversuche in der vom Kläger geschilderten Art für denkbar und realistisch.

Entscheidend für die Bejahung einer bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohenden Verfolgungsgefahr sprechen die von dem Kläger an den Tag gelegten exilpolitischen Aktivitäten.

Nach der Rechtsprechung ist maßgeblich für eine beachtlich wahrscheinliche Verfolgungsgefahr darauf abzustellen, ob die im Asylverfahren geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten als untergeordnete Handlungen eingestuft werden, die dem Betreffenden nicht als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner in Erscheinung treten lassen, oder nicht. Die Gefahr politischer Verfolgung wegen exilpolitischer Aktivitäten ist anzunehmen, wenn ein iranischer Bürger bei seinen Aktivitäten besonders hervortritt und sein gesamtes Verhalten den iranischen Stellen als ernsthaften, auf die Verhältnisse im Iran hineinwirkenden Regimegegner erscheinen lässt (vgl. etwa BayVGH, B.v. 29.7.2013 – 14 ZB 13.30084 – juris; B.v. 25.1.2013 – 14 ZB 12.30326 – juris; B.v. 15.1.2013 – 14 ZB 12.30220 – juris; B.v. 7.12.2012 – 14 ZB 12.30385 – juris; sowie etwa VG Würzburg, U.v. 19.12.2012 – W 6 K 12.30171 – beck-online, BeckRS 2013, 45668; vgl. auch VG Regensburg, U.v. 30.4.2013 – RO 4 K 12.30373 – AuAS 2013, 153). Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts greifen auch bei der Verwirklichung subjektiver Nachfluchttatbestände im Rahmen des Erstverfahrens keine Einschränkungen im Hinblick auf § 28 AsylVfG. Für die hier relevante Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft müssen die exilpolitischen Aktivitäten nicht einmal auf einer festen, bereits im Herkunftsland erkennbar betätigten Überzeugung beruhen (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27/07 – BVerwGE 133, 31).

Ausgehend von der Rechtsprechung, die auf der aktuellen Erkenntnislage beruht, begründen die vom Kläger geltend gemachten exilpolitischen Aktivitäten unter Würdigung der Gesamtumstände seines Einzelfalles eine beachtliche Verfolgungsgefahr. Der Kläger hat sich nach Überzeugung des Gerichts in exponierter Weise exilpolitisch engagiert, die ihn aus dem Kreis der standardmäßig exilpolitisch Aktiven heraushebt und dem iranischen Staat als ernsthaften Regimegegner erscheinen lässt, so dass wegen der von ihm ausgehenden Gefahr ein Verfolgungsinteresses seitens des iranischen Staates besteht (vgl. auch HessVGH, U.v. 21.9.2011 – 6 A 1005/10.A – EzAR-NF 63 Nr. 4). Wie das Gericht schon entschieden hat, reicht für diese Annahme nicht allein die Teilnahme am Hungerstreik im Jahr 2012 in Würzburg aus. Denn das erkennende Gericht ist ebenso wie das Verwaltungsgericht Regensburg (vgl. U.v. 21.8.2012 – RO 4 K 12.30081) nicht von einer beachtlichen Verfolgungsgefahr für jeden Teilnehmer am Hungerstreik gleichermaßen überzeugt (vgl. VG Würzburg, U.v. 19.12.2012 – W 6 K 12.30071 – beck-online, BeckRS 2013, 45668; Ue.v. 14.11.2012 – W 6 K 12.30072 und W 6 K 12.30073 – juris). Vielmehr ist der Einzelfall zu betrachten.

Gerade beim Kläger spielt eine entscheidende Rolle, dass er schon aufgrund seiner Vorfluchtaktivitäten in den Fokus der iranischen Sicherheitsbehörden geraten ist. Darüber hinaus hat der Kläger nicht nur am Hungerstreik, sondern auch an einen Marsch nach Berlin teilgenommen. Zudem hat er eine regimekritische Rede vor der iranischen Botschaft gehalten. Darüber hinaus verstärken die Beziehungen des Klägers als Kurden zu den exilpolitischen kurdischen Parteien das Verfolgungsinteresse des iranischen Staates.

Aufgrund der gesamten exilpolitischen Aktivitäten des Klägers, liegt – auch angesichts des großen Medienechos – auf der Hand, dass der Kläger erkennbar und identifizierbar derart in die Öffentlichkeit getreten ist, dass er mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit von den iranischen Behörden und Sicherheitskräften erkannt und identifiziert ist, zumal er in den Medien auch wiederholt ausdrücklich abgebildet und namentlich erwähnt ist. Die eingeholten Auskünfte belegen diese Einschätzung ebenso wie eine daraus resultierende Verfolgungsgefahr.

Das Deutsche Orient-Institut betont in seiner Auskunft vom 19. Februar 2013 ausdrücklich, dass man davon ausgehen kann, dass die Nachfluchtaktivitäten des Klägers vor Ort registriert worden und dem iranischen Staat bekannt sind. Darüber hinaus sieht es ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates als wahrscheinlich an. Gleiches gilt für repressive Maßnahmen gegen den Kläger nach Rückkehr in den Iran. Dazu tragen die öffentlichen Kundgebungen und Ansprachen des Klägers bei, in denen er sich kritisch bis ablehnend gegenüber der iranischen Regierung geäußert hat. Zur Überzeugung des Gerichts wird das Verfolgungsinteresse nach der vorliegenden Auskunft des Deutschen Orient-Instituts gerade sowohl dadurch verstärkt, dass der Kläger vor der iranischen Botschaft in Berlin eine regimekritische Rede gehalten hat, als auch dadurch, dass er Bilder des Revolutionsführers Ayatollah Khomeini sowie von Ayatollah Khamenei ausdruckte und anlässlich einer Demonstration in Würzburg öffentlich zerriss. Hinzu kommt der Film ..., welcher im iranischen Fernsehen gezeigt wurde und laut der Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 26. März 2014 das Leben der iranischen Flüchtlinge in Europa und die verborgene Wahrheit hinter diesen Geschichten zeigen soll. Das Deutsche Orient-Institut vermerkt in seiner Auskunft vom 19. Februar 2013 dazu, dass im Falle der Ausstrahlung des Filmes ein besonderes Interesse des iranischen Staates an der Person des Klägers wahrscheinlich ist. Es führt weiter aus, dass die Protesthandlungen des Klägers als Gefährdung des iranischen Staates, als Kollaboration mit ausländischen Mächten, Spionage, moralische Korruption oder ähnlichem ausgelegt werden und mit drastischen Strafen geahndet werden können. Dabei ist die Verfolgung einzelner nicht selten willkürlich. Dies gilt gerade auch angesichts der Kritik am Revolutionsführer, die ebenfalls ein besonderes Verfolgungsinteresse begründet.

Auch Amnesty International betont in der eingeholten Auskunft vom 20. März 2014, dass aufgrund des Hungerstreiks und des öffentlichen Echos einschließlich der namentlichen Nennung und Abbildung des Klägers sehr wahrscheinlich ist, dass die iranischen Behörden Kenntnis davon erlangt haben. Hinzu kommt, dass der Kläger an einer Protestveranstaltung am 10. Dezember 2012 vor der iranischen Botschaft teilgenommen und eine regierungskritische Rede auf Persisch gehalten hat. Amnesty International weist in seiner Auskunft weiter darauf hin, dass die Legalresidentur des iranischen Geheimdienstes in der iranischen Botschaft angesiedelt ist, so dass davon auszugehen ist, dass die Identität von Exiliranern und Exiliranerinnen, die sich so exponieren und wie der Kläger vor der Botschaft demonstrieren, ausfindig gemacht wird. Dadurch besteht das Risiko, dass der Kläger bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgungen und Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt werden könnte. Amnesty International betont ebenso wie das Deutsche Orient-Institut, dass ein verstärktes Interesse iranischer Behörden dadurch anzunehmen ist, dass der Film über den Hungerstreik im iranischen Fernsehen gezeigt wurde, da Fernsehkanäle dort im Iran unter staatlicher Kontrolle sind. Amnesty International resümiert: Zusammengenommen mit dem Sachvortrag, der Kläger habe vor seiner Ausreise aus dem Iran eine Mitarbeit in einem militärischen Projekt des Verteidigungsministeriums verweigert, könnte dies aus der Sicht der iranischen Behörden auf eine schon länger existierende oppositionelle Haltung schließen lassen. In der Gesamtschau der Nachflucht- und Vorfluchtaktivitäten sind nach Einschätzung von Amnesty International repressive Maßnahmen der iranischen Behörden bei Rückkehr des Klägers wahrscheinlich.

Zusammengefasst ist sowohl nach der eingeholten Auskunft von Amnesty International vom 20. März 2014 als auch nach der eingeholten Auskunft vom Deutschen Orient-Institut vom 19. Februar 2013 als wahrscheinlich einzustufen, dass der Kläger bei den iranischen Sicherheitskräften bekannt ist und dass ein Verfolgungsinteresse des iranischen Staates besteht. Das Auswärtige Amt erklärt in seiner Auskunft vom 26. März 2014 immerhin, dass eine Gefährdung des Klägers im Falle einer Rückkehr nicht ausgeschlossen werden kann.

Nach alledem kann dem Kläger nicht zugemutet werden, in den Iran zurück zu kehren, weil er andernfalls mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Gefahr politischer Verfolgung unterläge. Auch wenn – wie bereits erwähnt – allein die Teilnahme am Hungerstreik 2012 in Würzburg für die Bejahung einer beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit nicht ausreicht, ist eine solche Verfolgungsgefahr hingegen in der Person des Klägers nach Überzeugung des Gerichts zweifelsfrei anzunehmen. Gerade aus der Zusammenschau seiner Vorfluchtaktivitäten und dem Umstand, dass er schon im Iran negativ ins Blickfeld der iranischen Sicherheitsbehörden gelangt ist, weil er nicht mit diesen zusammengearbeitet hat, sowie angesichts der über die Teilnahme am Hungerstreik hinausgehenden Nachfluchtaktivitäten sind im konkreten Einzelfall des Klägers die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach Überzeugung des Gerichts gesamtwürdigend zu bejahen.

Nach alledem ist dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylVfG zuzuerkennen und der angefochtene Bundesamtsbescheid insoweit in seinen Nummern 2 bis 4 aufzuheben. Über die hilfsweise gestellten Anträge zum subsidiären Schutz (§ 4 AsylVfG) bzw. zu den nationalen Abschiebungsverboten (§ 60 Abs. 5 und 7 AufenthG) war nicht zu entscheiden (vgl. § 31 Abs. 3 Satz 2 AsylVfG).

Neben der Aufhebung der entsprechenden Antragsablehnung im Bundesamtsbescheid sind auch die verfügte Abschiebungsandrohung sowie die Ausreisefristbestimmung rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge erlässt nach § 34 Abs. 1 AsylVfG i.V.m. § 59 und § 60 Abs. 10 AufenthG die Abschiebungsandrohung insbesondere nur, wenn der Ausländer nicht als Asylberechtigter anerkannt und ihm die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt wird. Umgekehrt darf im Fall der Flüchtlingszuerkennung eine Abschiebungsandrohung nicht ergehen. Letzteres ist im gerichtlichen Verfahren – wenn auch noch nicht rechtskräftig – festgestellt.

Zur Klarstellung wird im Hinblick auf die zunächst erhobene und nach Klagerücknahme und Abtrennung im gesonderten Verfahren W 6 K 14.30401 eingestellte Asylklage betreffend die Anerkennung der Kläger als Asylberechtigte darauf hingewiesen, dass das Gericht in der Sache eine entsprechende Anwendung von § 155 Abs. 1 Satz 3 VwGO für angemessen hält, da der zurückgenommene Teil der Klage durch die weitgehende Angleichung des Flüchtlingsstatus an des Rechtsstellung des Asylberechtigten kostenmäßig nicht ins Gewicht fällt (HessVGH, U.v. 21.9.2011 – 6 S 1005/10.A – EzAR-NF 63 Nr. 4; VG Würzburg, B.v. 12.9.2011 – W 6 M 11.30245 – juris). [...]