VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 08.10.2014 - 7 K 2430/14.F.A (ASYLMAGAZIN 12/2014, S. 427 f.) - asyl.net: M22465
https://www.asyl.net/rsdb/M22465
Leitsatz:

Die Tötung der Eltern eines Minderjährigen, die für ihn die Personensorge ausüben, ist auch dann als eine "gegen Kinder gerichtete" Handlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG anzusehen, wenn die Täter nicht gezielt das Kind treffen wollten, sondern dessen Verwaisung bloß in Kauf genommen haben. Denn auch darin zeigt sich die Missachtung des besonderen Schutz- und Fürsorgeanspruchs, den minderjährige Kinder menschenrechtlich genießen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Tötung, Verfolgungshandlung, minderjährig, Kind, Kinder, Eltern, Recht auf Zusammenleben mit den Eltern, gegen Kinder gerichtete Handlungen, Volljährigkeit, Asylrelevanz, politische Überzeugung, politische Verfolgung, Afghanistan, Berufsgruppe,
Normen: UN-KRK Art. 9, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylVfG § 3a, AsylVfG § 3b,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Das Vorbringen des Klägers ist in vollem Umfang glaubhaft. Zweifel an seiner persönlichen Glaubwürdigkeit bestehen nicht. Der Kläger befindet sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb seines Heimatlandes und kann dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen. Er hat nach der Überzeugung des Gerichts noch vor Verlassen Afghanistans Verfolgung wegen der politischen Überzeugung erlitten. Die Verfolgungshandlung bestand in der Tötung seiner beiden Eltern. Darin liegt eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylVfG. Denn dadurch wurde der damals noch minderjährige Kläger in seinem Recht auf Zusammenleben mit den Eltern (Art. 9 UN Kinderrechtskonvention) und damit auch in seinem Recht auf Familien- und Privatleben (Art. 8 EMRK, Art. 16 UN Kinder-Konvention) schwerwiegend verletzt. Dass es sich bei diesen Menschenrechten um solche handelt, die grundlegend im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG (= Art. 9 Abs. 1 Nr. 1 QRL) sind, ergibt sich nach dem Beispielskatalog in § 3a Abs. 2 AsylVfG aus Nr. 6, wonach "Handlungen, die gegen Kinder gerichtet sind", als Verfolgungshandlungen zu bewerten sind.

Die Tötung der Eltern eines Minderjährigen, die für ihn die Personensorge ausüben, ist auch dann als eine "gegen Kinder gerichtete" Handlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Abs. 2 Nr. 6 AsylVfG anzusehen, wenn die Täter nicht gezielt das Kind treffen wollten, sondern dessen Verwaisung bloß in Kauf genommen haben. Denn auch darin zeigt sich die Missachtung des besonderen Schutz- und Fürsorgeanspruchs, den minderjährige Kinder menschenrechtlich genießen.

Es spricht eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür, dass die beschriebene Verfolgungshandlung auch aus einem Verfolgungsgrund im Sinne des § 3b AsylVfG erfolgte, nämlich wegen der politischen Überzeugung, die für die Verfolger maßgeblich waren. Es ist nämlich davon auszugehen, dass es sich bei den bewaffneten und vermummten Gestalten, die den Bus anhielten und die Eltern des Klägers aussteigen ließen, nicht um gewöhnliche Kriminelle gehandelt hat, die allein aus Gewinnabsicht gehandelt haben. Dafür spricht nicht nur ihr demonstratives und provokantes Auftreten, sondern auch der Umstand, dass sie sich ihre Opfer nicht wahllos gegriffen, sondern eine gezielte Auswahl getroffen haben. Dafür spricht auch, dass es ihnen offenbar nicht darum ging, die Fahrgäste des Busses auszuplündern. Denn ein solches Motiv würde nicht erklären, warum sie nur einige wenige Personen aussteigen ließen und warum sie keinerlei fremde Güter an sich genommen haben.

Der Kläger ist zwar nicht in der Lage zu erklären, warum seine Eltern verfolgt wurden und sich genötigt sahen, das Land zu verlassen. Diese Unkenntnis erklärt sich einfach daraus, dass die Eltern ihr minderjähriges Kind darüber nicht aufgeklärt haben. Dass die Verfolgungsmotive politischer Natur waren, liegt aber schon allein deshalb nahe, weil die Mutter des Klägers als Lehrerin an einer staatlichen Schule arbeitete. Eine solche Tätigkeit verstößt in zweierlei Hinsicht gegen die politischen Vorstellungen der Taliban und anderer gewalttätiger politischer Gruppen in Afghanistan. Zum einen werden die staatlichen Schulen als Einrichtungen des Staates betrachtet, die mit den Ungläubigen kooperieren und daher als feindliche Einrichtungen betrachtet werden. Zum anderen bekämpfen diese Gruppen auch eine öffentliche Berufsausübung von Frauen, insbesondere in herausragenden und anspruchsvollen Berufen, wie es der Beruf der Lehrerin darstellt.

Der Verfolgungsakteur ist nicht mit Sicherheit zu identifizieren. Der Kläger spricht nur von bewaffneten und vermummten Personen. Es ist aber naheliegend, dass es sich dabei um die Taliban und damit um einen nichtstaatlichen Verfolgungsakteur gehandelt hat.

Der Kläger konnte und kann dagegen den Schutz des afghanischen Staates nicht in Anspruch nehmen, weil dieser über die Taliban keinerlei wirksame Kontrolle ausübt.

Da der Kläger Vorverfolgung erlitten hat, ist nach Art. 4 Abs. 4 QRL davon auszugehen, dass er im Falle seiner Rückkehr erneut Verfolgung erleiden wird, denn es sprechen keine stichhaltigen Gründe gegen diese Annahme. Zwar ist der Kläger inzwischen volljährig geworden, so dass er schon allein deshalb keine "gegen Kinder" gerichteten Verfolgungshandlungen mehr befürchten muss. Das schließt aber nicht hinreichend sicher aus, dass er gleichwohl in den Fokus derer gerät, die schon seine Eltern verfolgt haben. Eine inländische Fluchtalternative steht ihm zur Abwendung dieser Gefahr nicht zur Verfügung. [...]