FG Saarland

Merkliste
Zitieren als:
FG Saarland, Urteil vom 28.02.2014 - 2 K 1014/13 - asyl.net: M22476
https://www.asyl.net/rsdb/M22476
Leitsatz:

Nach britischem Recht erhält die Mutter eines Kindes, die zusammen mit ihrem Ehemann und ihrem Kind in Deutschland wohnt und in England arbeitet, kein englisches Kindergeld ("child benefit"). Dem entsprechend besteht keine den Bezug von inländischem Kindergeld ausschließende Konkurrenzsituation, die nach den europarechtlichen Prioritätsregeln aufzulösen wäre.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Großbritannien, Kindergeld, child benefit, Konkurrenz, Konkurrenzsituation, Priorität, Prioritätsregeln, Unionsrecht, Anspruchskonkurrenz, Wohnsitz, gewöhnlicher Aufenthalt, Unionsbürger,
Normen: EStG § 62 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 63 Abs. 1 Nr. 1, EStG § 32 Abs. 1, EStG § 62,
Auszüge:

[...]

2.1. Nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. §§ 63 Abs. 1 Nr. 1, 32 Abs. 1 EStG hat u.a. für ein eigenes Kind mit Wohnsitz in einem Mitgliedstaat der EU – wie im Streitfall Großbritannien – Anspruch auf Kindergeld, wer einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat. Gemäß § 64 Abs. 1 und 2 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt.

Kindergeld wird allerdings nicht für ein Kind gezahlt, für das u.a. dem Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt werden bzw. bei entsprechender Antragstellung zu gewähren wären (§ 65 Abs. 1 Nr. 2 EStG). Insoweit scheidet nach den deutschen Vorschriften auch die Zahlung eines Differenzbetrags aus (vgl. § 65 Abs. 2 EStG Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes vom 30. September 2009, BStBl I 2009, 1030, in der Fassung vom 21. Dezember 2010, BStBl. 2011, 21; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 32. Aufl., § 65 Rz. 9). Die Regelung ist verfassungsgemäß (BFH vom 27. Oktober 2004 VIII R 104/01, BFH/NV 2005, 341).

Soweit die Beklagte geltend macht, diese Konkurrenzsituation läge im Fall des Klägers vor, deckt sich dies nicht mit den Erkenntnissen des Senats. Die vom Bundeszentralamt für Steuern erstellte Übersicht zum Familienleistungsausgleich vom 7. Dezember 2011 (BStBl. I 2012, 18, 38) besagt bereits, dass das "child benefit", also das britische Kindergeld "in der Regel" davon abhänge, dass sich das Kind im Vereinigten Königreich aufhalten müsse. Dies findet Bestätigung in der Internet-Präsenz der britischen Steuer- und Zollbehörde HM Revenue & Customs). Dort heißt es: "Generally, to get Child Benefit both you and your child must be physically present in the UK. But you'll still be able to get it if you're out of the country for short, temporary stays, like on holiday" (vgl. www.hmrc.gov.uk/childbenefit/start/who-qualifies newarrivals-uk.htm). Schließlich und endlich ist diese auf den Aufenthalt des Kindes abstellende Sichtweise auch Gegenstand des Bescheides vom 19. Dezember 2012 gegenüber der Ehefrau des Klägers (KiG, Bl. 45). Auch dort wird die Zahlung des Kindergeldes für N abgelehnt, weil sich N nicht in Großbritannien aufhalte.

Mithin ist nach den Feststellungen des Senats keine den Bezug inländischen Kindergeldes ausschließende Konkurrenzsituation gegeben.

2.2. Dem Kläger ist entgegen der Auffassung der Beklagten auch nicht etwa deshalb kein Kindergeld zu zahlen, weil das Kindergeld nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i. V. m. Art. 67, 68 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 und Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit vorrangig in England zu zahlen wäre.

Der Anwendungsbereich der in den genannten Verordnungen konzipierten Prioritätsregeln ist im Streitfall von vornherein nicht eröffnet, weil keine Anspruchskonkurrenz zwischen Ansprüchen auf Familienleistungen für das Kind in zwei Mitgliedstaaten der Europäischen Union besteht. Lediglich für den Fall einer solchen Anspruchskonkurrenz gelten die genannten Prioritätsregeln. Dies folgt bereits daraus, dass gem. Abs. 35 der Erwägungen, die der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zu Grunde liegen, ungerechtfertigte Doppelleistungen für den Fall des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats mit Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des Wohnmitgliedstaats der Familienangehörigen vermieden werden sollen. Dementsprechend regelt Art. 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004, welche Ansprüche maßgeblich sind, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind. Eine solche Situation besteht im Streitfall jedoch nicht, da lediglich Ansprüche des Klägers auf Kindergeld gem. §§ 62, 63 EStG bestehen und kein Anspruch auf Familienleistungen in England besteht.

Da von vornherein damit der Anwendungsbereich der Art. 67, 68 Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 nicht eröffnet ist, kommt es auf die nähere Ausgestaltung des Verfahrens in Art. 60 Abs. 1 Art. 60 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit nicht an.

Nach Auffassung des Senats wird es dem Sinn und Zweck der Regelungen in den genannten EU-Verordnungen, bei einem Zusammentreffen von Ansprüchen auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zur Vermeidung ungerechtfertigter Doppelleistungen festzulegen, welche Ansprüche vorrangig bestehen, nicht gerecht, wenn in einer Konstellation, in der lediglich ein Anspruch nach den Rechtsvorschriften Deutschlands besteht, ein weiterer Anspruch in einem weiteren EU-Staat konstruiert wird. Vielmehr spricht das Regelwerk dafür, nur einen Rechtsverlust des aus dem Ausland in die Bundesrepublik Deutschland zugewanderten Arbeitnehmers zu verhindern (ebenso Finanzgericht München vom 27. Oktober 2011 5 K 1145/11, EFG 2012, 255; Finanzgericht München vom 27. Oktober 2011 vom 5 K 1075/11, EFG 2012, 253; Finanzgericht München vom 27. Oktober 2011, 5 K 2614/10, EFG 2012, 249; Finanzgericht München vom 27. Oktober 2011, 5 K 3245/10, EFG 2012, 256; Finanzgericht München vom 21. November 2011, 5 K 2527/10, EFG 2012, 627; Niedersächsischen Finanzgericht vom 8. Dezember 2011, 16 K 291/11, EFG 2012, 849; Niedersächsischen Finanzgericht vom 15. Dezember 2011 3 K 155/11, juris; Finanzgericht Rheinland-Pfalz vom 14. Dezember 2011, 2 K 2085/10, EFG 2012, 716; Finanzgericht Rheinland-Pfalz vom 23.03.2011, 2 K 2248/10, EFG 2011, 1323; Finanzgericht Hamburg vom 31. Januar 2012, 1 K 204/11, EFG 2012, 1364; Finanzgericht Hamburg vom 10. Mai 2012, 1 K 19/11, juris; Finanzgericht Düsseldorf vom 9. Februar 2012, 16 K 1564/11 Kg, EFG 2012, 1369; Finanzgericht Düsseldorf vom 25. August 2012 10 K 2183/11 Kg, juris; Finanzgericht Düsseldorf vom 13. März 2013 15 K 2990/12, juris). [...]