VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Beschluss vom 27.11.2014 - 4 L 867/14.A - asyl.net: M22491
https://www.asyl.net/rsdb/M22491
Leitsatz:

Auch nach der Bestimmung Serbiens zum sicheren Herkunftsland bestehen mit Blick auf die geänderten serbischen Ausreisebestimmungen und ihre Anwendung ernstliche Zweifel an der Ablehnung von Asylanträgen von Roma aus Serbien als offensichtlich unbegründet.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: sicherer Herkunftsstaat, Serbien, offensichtlich unbegründet, Roma, ernstliche Zweifel, Beurteilungsspielraum des Gesetzgebers, Bundestag, Bundesrat, Verfassungsmäßigkeit, Ausreisefreiheit, Ausreisebestimmungen,
Normen: AsylVfG § 36 Abs. 4 S. 1, AsylVfG § 29a Abs. 1, AsylVfG § 36, AsylVfG § 29a, AsylVfG § 30 Abs. 1, AsylVfG § 30,
Auszüge:

[...] Es sprechen derzeit erhebliche Gründe dafür, dass die Entscheidungen des Bundesamtes keinen Bestand haben werden. Die Bescheide des Bundesamtes beruhen maßgeblich auf der Prämisse, dass den Antragstellern als Zugehörige der Volksgruppe der Roma im Falle ihrer Rückkehr nach Serbien offensichtlich keine im asylrechtlichen Verfahren relevanten Nachteile drohen. An dieser Einschätzung bestehen ernstliche Zweifel.

1. Nach § 29a Abs. 1 AsylVfG ist der Asylantrag eines Ausländers aus einem Staat im Sinne des Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG (sicherer Herkunftsstaat) als offensichtlich unbegründet abzulehnen, es sei denn, die vom Ausländer angegebenen Tatsachen und Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht. Serbien ist seit dem am 6. November 2014 in Kraft getretenen Art. 1 Nr. 2 des Gesetzes zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsstaaten und zur Erleichterung des Arbeitsmarktzugangs für Asylbewerber und geduldete Ausländer vom 31. Oktober 2014 ein sicherer Herkunftsstaat.

Es bedarf der Klärung im anhängigen Klageverfahren, ob die Asylanträge der Antragsteller auf dieser gesetzlichen Grundlage als offensichtlich unbegründet abzulehnen sind. Nach dem derzeitigen Erkenntnisstand ist offen, ob eventuell Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes vom 31. Oktober 2014 bestehen, die eine Vorlage an das Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG erfordern.

a) Bei der Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat besteht die Aufgabe des Gesetzgebers darin, sich anhand der von Art. 16a Abs. 3 Satz 1 GG vorgegebenen Prüfkriterien aus einer Vielzahl von einzelnen Faktoren ein Gesamturteil über die für politische Verfolgung bedeutsamen Verhältnisse in dem jeweiligen Staat zu bilden (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1507/93, 2 BvR 1508/93 -, juris, Rdn. 79).

Nach der im Gesetzentwurf der Bundesregierung vom 26. Mai 2014, BT-Drs. 18/1528, gegebenen Begründung für die Bestimmung Serbiens zum sicheren Herkunftsstaat besteht der den Prüfungsumfang des vorliegenden Eilverfahrens sprengende Klärungsbedarf, ob der Gesetzgeber seiner Aufgabe in vollem Umfang nachgekommen ist. Denn es ist nach der Begründung nicht hinreichend erkennbar, welches Gewicht der Gesetzgeber bei seiner Entscheidung den geänderten serbischen Ausreisebestimmungen und ihrer Anwendung insbesondere auf Volkszugehörige der Roma gegeben hat.

Nach den Angaben der Zeugin Dr. X. in dem beim VG Stuttgart anhängig gewesenen Verfahren A 11 K 5036/13 zielen die geltenden serbischen Ausreise- und Grenzkontrollbestimmungen unter anderem darauf, den Volkszugehörigen der Roma die Ausreise aus Serbien zu erschweren oder unmöglich zu machen; diese Zielrichtung werde auch in der Praxis umgesetzt. Diese Aussage entspricht den Ausführungen der Zeugin im Rahmen der öffentlichen Anhörung im Innenausschuss des Deutschen Bundestages am 23. Juni 2014 und in ihrer dem Innenausschuss vorgelegten Stellungnahme vom 18. Juni 2014 zum Gesetzentwurf. Die Ausführungen der Zeugin und ihre Stellungnahme sind in dem Protokoll-Nr. 18/15 des Innenausschusses des Bundestags wiedergegeben.

Angesichts der Angaben der Zeugin im Gesetzgebungsverfahren mag davon ausgegangen werden, dass der Gesetzgeber die in der Gesetzesbegründung nicht angesprochenen Ausreisebeschränkungen in den Blick genommen hat. Welche Relevanz er den Ausreisebeschränkungen zugemessen hat, lässt sich aber der Gesetzesbegründung selbst nicht entnehmen. Ob sich dieser Aspekt den weiteren Gesetzesmaterialien entnehmen lässt, ist im laufenden Klageverfahren zu klären.

Derzeit kann auch nicht davon ausgegangen werden, dass die von der Zeugin Dr. X. angeführten Ausreisebeschränkungen für das Gesamturteil des Gesetzgebers bei der Bestimmung Serbiens zum sicheren Herkunftsstaat von vornherein unberücksichtigt bleiben können oder kein Gewicht haben.

Die Angaben der Zeugin in dem damaligen Klageverfahren waren für das VG Stuttgart unter anderem im Urteil vom 25. März 2014 – A 11 K 5036/13 –, juris, Anlass, die Antragsgegnerin zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft von Roma aus Serbien zu verpflichten. Über die zugelassene Berufung der Antragsgegnerin – A 6 S 1260/14 - hat der VGH Baden-Württemberg noch nicht entschieden.

Die Kammer hat die Angaben der Zeugin Dr. X. zum Anlass genommen, eine Beweisaufnahme zur Situation unter anderem der Roma in Serbien anzuordnen. Die Beweisaufnahme ist noch nicht abgeschlossen. Die mit Beweisbeschluss vom 22. Mai 2014 – 4 K 802/13. A – eingeholte Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 1. Juli 2014 ist unergiebig. Denn das Auswärtige Amt geht auf die tatsächliche Zielrichtung der Praxis der serbischen Grenzbehörden sowie der Aufklärungskampagnen über die Voraussetzungen der visafreien Einreise in das Schengengebiet und die "Problematik" der missbräuchlichen Asylantragstellung nicht ein. Es erschöpft sich vielmehr darin, die Befugnis der serbischen Grenzpolizei darzustellen und auf serbische Aufklärungskampagnen über die visafreie Ausreise in das Schengengebiet und die Problematik einer missbräuchlichen Asylantragstellung hinzuweisen. Ebenso unergiebig ist die weitere Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 3. September 2014. Danach kann das Auswärtige Amt weder eine verbindliche Aussage dazu treffen, mit welcher Absicht die aktuellen serbischen Ausreisebeschränkungen beschlossen worden sind, noch wie diese Bestimmungen zur Anwendung gelangen. Das von der Kammer mit weiterem Beweisbeschluss vom 18. August 2014 - 4 K 802/13 - außerdem angeforderte Gutachten der Schweizerischen Flüchtlingshilfe liegt noch nicht vor.

Angesichts der auch nach den der Kammer vorliegenden Gesetzesmaterialien derzeit nicht geklärten Relevanz der Ausreisebeschränkungen in Serbien besteht kein hinreichender Anlass das im Verfahren 4 K 802/13.A laufende Beweisverfahren abzubrechen. Nur ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch das Bundesamt weder in dem hier streitgegenständlichen Bescheid noch in anderen der Kammer bekanntgewordenen Bescheiden, mit denen es trotz der laufenden Beweisaufnahme im Verfahren 4 K 802/13.A Asylanträge von Volkszugehörigen der Roma aus Serbien als offensichtlich unbegründet abgelehnt hat, zur Relevanz der Ausreisebeschränkungen in Serbien näher Stellung genommen hat.

b) Bei seinem abschließenden Urteil des Gesetzgebers über die Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat kann zur Abrundung und Kontrolle des gefundenen Ergebnisses auch die Quote der Anerkennung von Asylbewerbern aus dem jeweiligen Land die Rolle eines Indizes spielen. Dabei sind die Entscheidungen des Bundesamtes wie die Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zu berücksichtigen; ferner kann ein Vergleich mit den Anerkennungsquoten anderer europäischer Staaten hilfreich sein (BVerfG, Urteil vom 14. Mai 1996 – 2 BvR 1507/93, 2 BvR 1508/93 -, a.a.O.).

Auch insoweit bedarf der Klärung im Klageverfahren, ob der Gesetzgeber diese Anforderungen hinreichend beachtet hat.

Von seinem Entscheidungsspielraum, die Anerkennungsquoten als Indiz zu berücksichtigen, hat der Gesetzgeber nach der Gesetzesbegründung Gebrauch gemacht. Denn er hat die Anerkennungsquoten auf der Grundlage der Entscheidungen des Bundesamtes berücksichtigt, BT-Drs. 18/1528, S. 9. Es ist allerdings zweifelhaft, ob allein die Berücksichtigung dieser Anerkennungsquoten ein hinreichend aussagekräftiges Indiz darstellt. Diese Zweifel ergeben sich aus der fehlenden Berücksichtigung der Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte.

Die weiteren Gesetzesmaterialen, soweit sie der Kammer vorliegen, lassen ebenfalls nicht erkennen, dass der Gesetzgeber die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte hinreichend neben der Entscheidungspraxis des Bundesamtes berücksichtigt hat. Die in dem Protokoll-Nr. 18/15 des Innenausschusses des Bundestags wiedergegebene schriftliche Stellungnahme des Präsidenten des Bundesamtes gibt kein zutreffendes Bild über die Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte. Die dort enthaltene Aussage, das VG Stuttgart habe "kürzlich eine Sonderrolle" eingenommen, indem es zwei Asylklagen entsprochen habe, trifft so nicht zu. Zum einen hat das VG Stuttgart nach einer von der beschließenden Kammer eingeholten telefonischen Auskunft nicht nur in zwei, sondern in mehreren Fällen den Asylklagen stattgegeben. Darüber hinaus bleibt in der Stellungnahme des Präsidenten des Bundesamtes unerwähnt, dass die beschließende Kammer bereits im Mai 2014 eine Beweisaufnahme zur Situation unter anderem der Roma in Serbien beschlossen hat und diese Beweisaufnahme noch nicht abgeschlossen ist. Darüber hinaus bleibt unerwähnt, dass die beschließende Kammer mit Blick auf die laufende Beweisaufnahme in einer Vielzahl von Fällen den Eilanträgen von Roma gegen die Ablehnung ihrer Asylanträge als offensichtlich unbegründet entsprochen hat. Dass die in der Stellungnahme des Präsidenten des Bundesamtes nicht enthaltenen, aber wesentlichen Informationen zur Entscheidungspraxis der Verwaltungsgerichte im weiteren Gesetzgebungsverfahren dem Bundestag und Bundesrat mitgeteilt worden sind, ist nach den der Kammer vorliegenden Gesetzesmaterialien nicht ersichtlich. Da diese unvollständig sind, besteht auch insoweit ein im Hauptsacheverfahren zu deckender Klärungsbedarf.

Offen bleiben kann, ob sich der Gesetzgeber bei der Bestimmung eines Staates zum sicheren Herkunftsstaat auf eine Berücksichtigung nur der Entscheidungspraxis des Bundesamtes beschränken darf, wenn die verwaltungsgerichtliche Entscheidungspraxis nicht wesentlich von derjenigen des Bundesamtes abweicht. Ein solcher Fall liegt in Bezug auf Asylbewerber aus Serbien aus den dargelegten Gründen nicht vor. [...]