VG Meiningen

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Zitieren als:
VG Meiningen, Urteil vom 20.11.2014 - 8 K 20119/13 Me (= ASYLMAGAZIN 1-2/2015, S. 19 f.) - asyl.net: M22524
https://www.asyl.net/rsdb/M22524
Leitsatz:

Es ist nicht auszuschließen, dass die Taliban unter bestimmten Voraussetzungen eine Person auch landesweit in Afghanistan verfolgen und sie in Kabul finden. Eine Person, die für die ISAF gearbeitet hat, ist für die Taliban von besonderer Bedeutung und wird voraussichtlich in ganz Afghanistan von ihnen gesucht.

Schlagwörter: Afghanistan, ISAF, allgemeine Sicherheitslage, Sicherheitslage, Kabul, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, landesweite Verfolgung, Schutzfähigkeit, politische Verfolgung,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Der Kläger hat überzeugend, widerspruchsfrei - auch zu seinen Angaben beim Bundesamt - und in sich stimmig erzählt, dass er und seine Brüder von den Taliban bedroht wurden, weil sein Bruder für die ISAF und er selbst für die Deutschen - wo er auch seine Ausbildung zum Elektriker gemacht habe, und für die Amerikaner, zuletzt in einem von den Amerikanern finanzierten Gefängnis für Drogenkriminelle, gearbeitet habe. Seinen Vortrag konnte der Kläger teilweise auch mit den von ihm vorgelegten Dokumenten verifizieren. Der Kläger hatte mit seinen Geschwistern bereits in den vergangenen Jahren mehrfach den Wohnort gewechselt. Die Bedrohungen hörten aber nicht auf. Vor seiner Ausreise wurde dann sein älterer Bruder von den Taliban entführt. Der Kläger befürchtet, dass sein Bruder auch getötet wurde. Aus Angst selbst entführt und getötet zu werden, flohen der Kläger und sein jüngerer Bruder aus Afghanistan.

Soweit sein Vortrag beim Bundesamt noch Fragen offen gelassen hat, konnte der Kläger zu diesen in der mündlichen Verhandlung überzeugende Antworten geben. Auf das Gericht danach befragt, warum er einige der Angaben, die er seinem Rechtsanwalt gegenüber und bei Gericht in der mündlichen Verhandlung gemacht hat, nicht bereits beim Bundesamt gemacht habe, gibt dieser an, dass man ihm dort gesagt habe, dass man ihn später - nach der Vorlage der von ihm angekündigten Dokumente - nochmals ausführlicher befragen würde, was allerdings so nicht erfolgt ist. Der Kläger erzählte auch in der mündlichen Verhandlung zunächst nicht von sich aus, sondern erst auf konkrete Nachfragen.

Der Kläger war insgesamt glaubwürdig, sein Vortrag, der sich im Übrigen mit den Angaben des Bruders in dessen Asylverfahren deckt, glaubhaft. Ein Teil seiner Aussagen, insbesondere hinsichtlich der beruflichen Tätigkeiten der Geschwister, konnte der Kläger auch mit Dokumenten belegen.

Der afghanische Staat ist nicht willens und in der Lage, den Kläger vor den Taliban wirksam zu schützen. Insoweit wird auf die allgemeine Sicherheitslage in Afghanistan - insbesondere auch in Kabul Bezug genommen.

Die Verfolgungshandlungen knüpfen im Fall des Klägers auch an einen Verfolgungsgrund an, nämlich den der politischen Überzeugung. Ob der Kläger tatsächlich ein Gegner der Taliban ist oder nicht, ist unbeachtlich. Jedenfalls ist er für die Taliban jemand, der mit den Feinden, den Amerikanern, arbeitet. Von den Taliban wird damit eine vermeintliche politische Einstellung des Klägers unterstellt, vor allem, da er sich ihnen gegenüber auch schon im Kundus geweigert hatte, für sie zu spionieren.

Der Kläger war damit bereits Opfer von Verfolgungshandlungen wegen seiner politischen Einstellung, da ihm mit dem Tod gedroht worden war. Durch die Anwendung physischer Gewalt bis hin zu seiner Tötung wäre eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte des Klägers bewirkt worden. Der Kläger ist mithin vorverfolgt ausgereist. Ihm droht im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan erneut eine Verfolgung. Er müsste mit einer Tötung durch die Taliban rechnen.

Auch bei der Annahme einer Vorverfolgung kommt die Gewährung von Flüchtlingsschutz nur in Betracht, wenn dem Asylsuchenden nicht die Möglichkeit internen Schutzes nach § 3e AsylVfG offensteht. Danach wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil des Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylVfG hat (§ 3e Abs. 1 Nr. 1) und er sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und von ihm vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylVfG).

Dem Kläger wäre es möglich, von Deutschland aus nach Kabul sicher und legal zu reisen. Er dürfte sich dort auch legal aufhalten, er würde dort mithin "aufgenommen" werden. Unabhängig davon, dass in seinem Fall - ausgehend von der allgemeinen aktuellen Versorgungslage in Afghanistan - nicht davon auszugehen sein dürfte, dass er in der Lage ist, sich eine ausreichende Lebensgrundlage zu erwirtschaften, dürfte er in Kabul vor den Taliban nicht sicher sein.

Im Fall des Klägers lässt sich nicht mit der erforderlichen Sicherheit bejahen, dass er in Kabul vor einer Verfolgung durch die Taliban sicher wäre. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Taliban unter bestimmten Voraussetzungen eine Person auch landesweit in Afghanistan verfolgt und sie auch in Kabul finden würde (vgl. auch Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update - Die aktuelle Sicherheitslage v. 03.09.2012, S. 21). Hiervon geht das Gericht auch im Fall des Klägers aus, da er für die Anhänger der Taliban von besonderer Bedeutung ist und voraussichtlich in ganz Afghanistan namentlich von den Taliban gesucht wird. [...]