VG Trier

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Zitieren als:
VG Trier, Urteil vom 08.10.2014 - 5 K 1324/13.TR - asyl.net: M22557
https://www.asyl.net/rsdb/M22557
Leitsatz:

Allein wegen der kurdischen Volkszugehörigkeit droht keine Gefahr der Verfolgung durch den "Islamischen Staat" im Nordirak.

Schlagwörter: Irak, Nordirak, Kurden, Gruppenverfolgung, nichtstaatliche Verfolgung, ISIS, Islamischer Staat, IS, Bagdad, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1, AsylVfG § 3, AsylVfG § 4,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieser Grundsätze besteht auch unter Berücksichtigung der seit dem 10. Juni 2014 in den nördlichen Provinzen des Irak eingetretenen veränderten Sicherheitslage kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Insoweit käme mit Blick darauf, dass hinsichtlich des Klägers keine zu berücksichtigende individuelle Verfolgungsgefahr besteht, allein eine an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung durch die IS-Milizen in Betracht, die im Ergebnis indes nicht festgestellt werden kann. Denn zum einen besteht zur Überzeugung des erkennenden Gerichts seitens der IS-Kämpfer keine systematische, allein an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung. Hierzu hat die Kammer im Urteil vom 3. September 2014 - 5 K 869/13.TR - ausgeführt:

"(a) Angesichts der aktuellen Lage in den nördlichen Provinzen des Irak durch die am 10. Juni 2014 aus Syrien in den Irak eingedrungenen bewaffneten Kampftruppen der Dschihadistengruppe, ist in Bezug auf den Kläger, der nunmehr erstmals angibt, Kurde sunnitischen Glaubens zu sein, eine an die Volkszugehörigkeit anknüpfende Verfolgung (§ 3 Abs. 1 AsylVfG) durch die IS-Truppen als nichtstaatliche Akteure (§ 3c AsylVfG) in die Prüfung einzubeziehen. Denn die Dschihadistengruppe, die durch massenhafte Vertreibung, willkürlicher Tötungen, Gewaltanwendung oder durch bedrohungsbedingten Zwang zur Aufgabe des eigenen Glaubens (zum Vorgehen vgl. nur faz.net vom 7. August 2014, "Massenflucht vor Terror des Islamischen Staats", abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/irak-massenflucht-vor-terror-des-islamischen-staats/3086269.html und Spiegel online vom 19. August 2014, IS-Kriegstaktik: "Sturmattacken wie im siebten Jahrhundert", abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-die-kriegstaktik-der-is-a-986826.html (jeweils zuletzt abgerufen am 05.09.2014)) erhebliche Gebiete im Nordirak unter ihre Kontrolle gebracht hat (vgl. Spiegel online, Landkarte zum Stand 14. August 2014, abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/bild-986826-738148.html (zuletzt abgerufen am 05.09.2014)), sollen nach Medienberichten in den eroberten Gebieten nicht allein gegen Andersgläubige vorgehen, sondern verfolgen nach Angaben von Amnesty International das Ziel, "alle Spuren von Nicht-Arabern und nicht-sunnitischen Milizen zu beseitigen" (vgl. faz.net vom 2. September 2014, "Amnesty wirft IS systematische ethnische Säuberung vor", abrufbar unter: www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/nordirak-amnesty-wirft-is-systematische-ethnische-saeuberung-vor/3130856.html (zuletzt abgerufen am 05.09.2014)). Insoweit würden nach Presseberichten auch und gerade die Kurden im Nordirak, die sich dem IS und dessen radikaler Auslegung des sunnitischen Islams unterordnen sollen, durch die Ausbreitung der Dschihadisten bedroht (vgl. Spiegel online vom 5. August 2014, "Vorstoß von 'Islamischer Staat' im Nordirak: Dschihadisten drohen Kurden mit Terrorherrschaft", abrufbar unter: www.spiegel.de/politik/ausland/islamischer-staat-im-irak-kurden-werden-von-dschihadisten-bedroht-a-984472.html (zuletzt abgerufen am 05.09.2014)).

(b) Allerdings ergeben sich trotz derartiger Presseberichte, in denen unter anderem allgemein von ethnischen Säuberungen die Rede ist, keine Hinweise darauf, dass eine Verfolgung durch die IS-Truppen allein an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpft. Vielmehr ergibt sich aus den genannten Berichten, dass die Dschihadisten vor allem gegen "Andersgläubige" vorgehen und deshalb Yeziden, Christen und Schuten (faz.net vom 2. September 2014, "Amnesty wirft IS 'systematische ethnische Säuberung' vor", a.a.O.; Spiegel online vom 5. August 2014, "Vorstoß von 'Islamischer Staat' im Nordirak: Dschihadisten drohen Kurden mit Terrorherrschaft", a.a.O.) aufgrund ihrer Religion in den betroffenen Gebieten verfolgt werden bzw. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind. Auch Amnesty International formuliert zwar allgemein ein systematisches Vorgehen der I5-Truppen gegen alle "Nicht-Araber" und alle "Nicht-Sunnitischen Muslime" (vgl. Amnesty International vom 2. September 2014, "Ethic cleansing on a historic scale", S.4, abrufbar unter: www.amnesty.org/en/library/asset/[...] (zuletzt abgerufen am 08.09.2014)). Die zusammengetragenen Berichte zeigen jedoch, dass die menschenverachtenden Übergriffe vor allem gegen religiöse Minderheiten gerichtet sind (vgl. Amnesty International vom 2. September 2014, a.a.O., S. 7 ff.).

Die Kammer verkennt nicht, dass allein schon Unberechenbarkeit und Brutalität des Vorgehens der 1S-Kämpfer auch diejenigen in den betroffenen Gebieten in die Flucht treibt, die nicht der besonderen Gefahr der dokumentierten religiösen Verfolgung ausgesetzt sind. Fehlt es bei den Flüchtenden jedoch an einer Verknüpfung zwischen den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylVfG genannten Verfolgungsgründen und den Verfolgungshandlungen (vgl. § 3a Abs. 3 AsylVfG), weil ein gezieltes Vorgehen gegen sunnitische Kurden nicht ersichtlich ist, handelt es sich nicht um ein Frage des Flüchtlingsschutzes und eine allein an die Gruppenzugehörigkeit als sunnitischer Kurde anknüpfende Flüchtlingsanerkennung scheidet aus."

Daran hält die Kammer fest. Zum anderen fehlt es an einer begründeten Furcht des Klägers vor einer Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylVfG in Anknüpfung an eine Bedrohung durch 1S-Truppen auch deshalb, weil diese Bagdad - die Herkunftsregion des Klägers - bislang nicht erobern konnten und aktuell auch nicht ersichtlich ist, dass Bagdad in absehbarer Zeit von den Dschihadisten eingenommen werden könnte (vgl. dazu Innenministerium Vereinigtes Königreich (UK Home Office) vom 22. August 2014, "Country Information and Guidance Iraq: The security situation in the 'contested' areas of Iraq", abrufbar unter: www.ecoi.net/file upload/[...] (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2014): Danach ist beispielsweise gemäß Ziffer 1.3.46 Bagdad als Fluchtalternative für Flüchtlinge aus von IS besetzten Gebiete zu prüfen; nach Ziffer 1.3.47 wird eine Rückkehr nach Bagdad generell nicht für unzumutbar gehalten; vgl. auch Ziffern 1.3.4, 1.3.40 und 1.3.41). [...]

(3) Auch ein Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylVfG besteht nicht.

Der Kläger stammt aus Bagdad. Aufgrund der hohen Zahl von Vorfällen mit Todesopfern und verwundeten in Bagdad ist dort - auch wenn die Anfang Juni 2014 in den Irak eingedrungenen bewaffneten Kämpfer der Dschihadistengruppe Islamischer Staat (IS oder 1SIS, auch Islamischer Staat in der Levante genannt) die Hauptstadt bislang nicht erobern konnte (s.o.) - von einem innerstaatlichen bewaffneten Konflikt auszugehen.

Allein im Juli 2014 gab es in Bagdad 1.035 zivile Opfer (415 Tote, 620 Verletzte; vgl. Bundesamt, Briefing Notes vom 4. August 2014, abrufbar unter: [...] (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2014)).

Nach Zählungen der britischen Nichtregierungsorganisation Iraq Body Count gab es im Zeitraum vom 1. August 2014 bis 1. Oktober 2014 in Bagdad insgesamt 674 zivile Todesopfer (vgl. iraqbodycount.org, "Recent Events" (zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2014)); Angaben über Verletzte sind dort nicht verfügbar. Von diesen Opfern sind nach Presseberichten 182 Menschen bei Bombenanschlägen in schiitischen Stadtviertel und auf schiitische Einrichtungen getötet und weitere 379 Menschen verletzt worden (vgl. AFP - Agence France-Press - vom 1. Oktober 2014, "Baghdad suicide car bombing kills at least 14", abrufbar unter: [...]; RFE/RL - Radio Free Europe/Radio Liberty - vom 30. September 2014, "Car Bombs, Mortars Kill 25 In Baghdad", abrufbar unter: [...]; RFE/RL vom 23. September 2014, "Baghdad Car Bomb Kills At Least 14 People", abrufbar unter: [...]; AFP vom 19. September 2014, "Iraq bombings kill at least 22", abrufbar unter: http:/lwww.ecoi.net/local link/286652/419400 de.html (dort auch zu Anschlägen mit 28 Toten und 60 Verletzten am 18. September 2014); AFP vom 10. September 2014, "Blasts kill 19 as Kerry visits Iraq capital", abrufbar unter: [...]; BBC News vom 4. September 2014, "Iraq crisis: Two bombs kill at least 20 in Baghdad", abrufbar unter: [...]; AFP vom 26. August 2014, "Car bomb kills 15 at busy Baghdad intersection: officials", abrufbar unter: [...]; RFE/RL vom 23. August 2014, "Wave Of Bombings Hits Iraq", abrufbar unter: [...]; RFE/RL vom 6. August 2014, "Deadly Car Bombs Hit Baghdad Shi'ite Districts", abrufbar unter: [...]; AFP vom 1. August 2014, "Baghdad blasts kill 10: police", abrufbar unter: [...] (jeweils zuletzt abgerufen am 6. Oktober 2014)).

Die dadurch begründete Gefahrendichte genügt indes nicht, um für den Kläger, der in seiner Person keine gefahrenerhöhenden Umstände aufweist, eine erhebliche individuelle Bedrohung im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG zu begründen.

Ob eine Zivilperson, die wie der Kläger keine individuellen gefahrerhöhenden Umstände aufweist, einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt ist, bestimmt sich danach, ob eine so hohe Gefahrendichte gegeben ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet mit einer ernsthaften individuellen Gefahr konfrontiert wäre. Hierzu sind Feststellungen zur bestehenden Gefahrendichte erforderlich, die jedenfalls auch eine annäherungsweise quantitative Ermittlung des Tötungs- und Verletzungsrisikos umfassen und auf deren Grundlage eine wertende Gesamtbetrachtung einer aus der allgemeinen Gefahrenlage abgeleiteten individuellen Betroffenheit zu ziehen ist.

Die vorgenannten Zahlen zum Tötungs- und Verletzungsrisiko sind danach zunächst in Verhältnis zu setzen mit der Bevölkerungszahl in Bagdad, die nach Schätzungen aus dem Jahr 2011 bei etwas über 6 Mio. liegt (vgl. Central Intelligence Agency, The World Factbook, Iraq, abrufbar unter: [...] (zuletzt abgerufen am 8. Oktober 2014)). Rechnet man danach die Zahl der getöteten Zivilisten in den drei Monaten vom 1. Juli 2014 bis 1. Oktober 2014 auf ein Jahr hoch, ergibt sich eine Anzahl von gerundet 4.350 Todesopfern. Hinsichtlich der Anzahl Verletzter ist die Ausgangszahl teilweise zu schätzen, weil lediglich für den Monat Juli 2014 und die gesondert erwähnten Bombenanschläge ein Verhältnis von etwa 1:1,5 bzw. 1:2 bekannt ist. Das erkennende Gericht legt hier zugunsten des Klägers das Verhältnis von 1:2 zugrunde und geht deshalb auf das Jahr gerechnet von 8.700 Verletzten in Bagdad aus. Daraus folgt ein statistisches Risiko in Bagdad als Zivilperson getötet oder verletzt zu werden von 0,22 %. Diese Zahl ist vorliegend jedoch wertend zu korrigieren, da eine Vielzahl der zuletzt erfassten Übergriffe auf die Zivilbevölkerung - insbesondere diejenigen mit vielen Toten bei Bombenanschlägen - gegen Schiiten gerichtet waren und vermutlich im Zusammenhang mit dem Erstarken der sunnitischen IS-Truppen stehen. Diese Bedrohung besteht für den Kläger, der selbst sunnitischen Glaubens ist und dementsprechend nicht in ein schiitisches Wohnviertel zurückkehren würde, nicht. Rechnet man die nach Presseberichten ausschließlich gegen Schiiten gerichteten Bombenanschläge heraus (vgl. dazu oben), ohne auch die sonstigen Opferzahlen in Ansehung der aktuellen Anschlagstendenzen zu korrigieren, besteht auf ein Jahr bezogen ein statistisches Risiko in Bagdad als Zivilperson getötet oder verletzt zu werden von etwa 0,16 %.

In die wertende Gesamtbetrachtung ist weiter die Würdigung der medizinischen Versorgungslage in dem jeweiligen Gebiet, von deren Qualität und Erreichbarkeit die Schwere eingetretener körperlicher Verletzungen mit Blick auf die den Opfern dauerhaft verbleibenden Verletzungsfolgen abhängen kann, einzubeziehen (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris). Dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 7. Oktober 2013 zufolge ist die medizinische Versorgungssituation im Irak angespannt. Mit Blick auf Bagdad ist ausgeführt, dass die Krankenhäuser dort nur mit deutlich eingeschränkten Kapazitäten arbeiteten (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrechtliche Lage in der Republik Irak vom 7. Oktober 2013 - Gz. 508-516.8013 -, S. 27). Ausgehend davon ist anzunehmen, dass eine Versorgung von Verletzungsopfern wenn auch nicht ideal so doch zumindest grundsätzlich möglich ist.

Auch unter wertender Berücksichtigung dieser Versorgungslage ist die ermittelte statistische Gefahrendichte nicht geeignet, eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine ernsthafte, individuell verdichtete Bedrohung des Klägers zu begründen. Das Bundesverwaltungsgericht sieht bei einer statistischen Wahrscheinlichkeit getötet oder verletzt zu werden von 0,12 % die Schwelle eines für jedermann drohenden individuellen Schadens so weit entfernt, dass sich etwaige Mängel in der Würdigung der medizinischen Versorgungslage im Ergebnis nicht auswirken könnten (vgl. BVerwG, Urteil vom 17. November 2011 - 10 C 13.10 -, juris). Ausgehend davon genügen die hier ermittelten Wahrscheinlichkeiten von 0,16 % oder auch 0,22 %, die ebenfalls weit entfernt von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit liegen, nicht aus, um unter Einbeziehung einer vorhandenen, allerdings nur mit deutlichen Einschränkungen funktionierenden medizinischen Versorgung eine von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylVfG vorausgesetzte Individualisierung der Bedrohung des Lebens oder der körperlichen Unversehrtheit anzunehmen. [...]