OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 15.10.2014 - 6 B 1.14 - asyl.net: M22565
https://www.asyl.net/rsdb/M22565
Leitsatz:

Zur Frage des Vorliegens einer außergewöhnlichen Härte im Sinne des § 36 Abs. 2 Satz 1 AufenthG.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Sonstige Familienangehörige, außergewöhnliche Härte, Familiennachzug, Visum, nationales Visum, Familienzusammenführung, Krankheit, ältere Person, Pflegebedürftigkeit, Verpflichtungserklärung, Lebenshilfe, familiäre Lebenshilfe,
Normen: AufenthG § 36 Abs. 2 S. 1,
Auszüge:

[...]

Die so beschriebenen Voraussetzungen für eine außergewöhnliche Härte sind im Fall der Klägerin im maßgeblichen Zeitpunkt nicht erfüllt. Sie hat nicht belegt, dass sie mit der erforderlichen Dringlichkeit auf Lebenshilfe im Bundesgebiet durch ihre in T... lebende Tochter angewiesen ist.

Die Klägerin ist von dem Regionalarzt für Osteuropa und Zentralasien an der Deutschen Botschaft Moskau, Herrn Dr. S..., erstmals am 18. August 2011 untersucht und begutachtet worden. Dabei stellte er zusammenfassend fest, dass sie an einem schlecht eingestellten Bluthochdruck leide, eine Umstellung der Medikation in Russland allerdings möglich sei. Weiter leide sie an einer sensoneurinalen Schwerhörigkeit beidseitig, links sei sie mit einem Hörgerät versorgt, das Ergebnis ausreichend, eine Hörgeräteversorgung in Russland möglich. Eine Herzerkrankung sei vorhanden. Entsprechende Untersuchungen, auch Herzkatheter-Untersuchungen, könnten vor Ort in zumutbarer Weise organisiert werden. Die Pflegesituation zu Hause erscheine gut organisiert. Die Nachbarin der Klägerin kümmere sich, obwohl sie mit dieser nichts weiter zu tun habe. Es komme ein Pflegedienst zwei- bzw. dreimal pro Woche und unterstütze beim Einkauf. Die bestehenden Erkrankungen seien zum Teil schwerwiegend, eine entsprechende Pflege und Behandlung sei beim derzeitigen Gesundheitszustand aber noch in Russland möglich.

An diese Feststellungen knüpfte er bei seiner rund zwei Jahre später, am 18. Juli 2013 durchgeführten Untersuchung und Begutachtung an. In seiner Stellungnahme vom 8. August 2013 führt er aus, die wesentlichen Erkrankungsentitäten der Klägerin seien die koronare Herzerkrankung mit dem Bluthochdruck, die Gonarthrose beider Kniegelenke, eine generalisierte Osteoporose sowie die Einschränkungen des zentralen Nervensystems (Hören, Sehen, Merkfähigkeit, gegebenenfalls auch noch der Schwindel). Diese Erkrankungen seien bereits bei der Untersuchung im Jahr 2011 gewürdigt worden. Weiter führt er aus, die Klägerin habe der Untersuchung folgen und eigenständig das Gespräch mit ihm führen können. Am Stock sei sie ausreichend mobilisiert. Insgesamt habe er im Rahmen der Untersuchung und der ausführlichen Anamnese keine signifikante Verschlechterung des körperlichen Gesamtzustands der insgesamt sehr gepflegten Dame feststellen können. Der Sozialdienst als auch eine Krankenschwester würden die Klägerin jeweils dreimal in der Woche aufsuchen. Sie würde auch von Ärzten zu Hause aufgesucht werden, verlasse die Wohnung ungern, könne aber Einkäufe unter Inkaufnahme der damit verbundenen Umstände in Einzelfällen eigenständig erledigen. Der Autonomieverlust der Klägerin sei insgesamt altersentsprechend. Im Bereich der Mobilität sei sie überproportional eingeschränkt, ohne dabei völlig auf fremde Hilfe angewiesen zu sein. Intellektuell sei sie weit überdurchschnittlich über ihrem Alterskollektiv. Insofern müsse einem vorliegenden russischen Befund widersprochen werden. Die Kombination aus hoher geistiger Auffassungsgabe und damit verbundener Anspruchshaltung und partiell eingeschränkter Mobilität (z.B. Anspruch an Hygiene im Intimbereich) erscheine problematisch. Die Klägerin wünsche sich eine Pflege durch eine ihr persönlich bekannte und nahestehende Person. Sie vermisse die persönliche Bindung. Besonders bei der Intimhygiene sei ihr die fremde Hilfe unangenehm, vor allem da sie nicht ihren Ansprüchen entsprechend erbracht würde. Es gehe also insgesamt weniger um die Quantität der Betreuung, sondern vielmehr um den persönlichen Bezug und die liebevolle Pflege eines direkten Angehörigen.

Hiervon ausgehend kann nicht angenommen werden, dass die Klägerin in einer Art und Weise auf spezifische familiäre Hilfe angewiesen ist, die zur Vermeidung einer außergewöhnlichen Härte die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis zum Familiennachzug erforderlich machte. Die Klägerin leidet danach im Wesentlichen an körperlichen Einschränkungen und Erkrankungen, die durchaus als typisch für ihr Alter angesehen werden können. Diese führen zu den damit zwangsläufig verbundenen Einschränkungen bei der Bewältigung des Alltags, bewirken indessen keinen Autonomieverlust, der nicht durch die vor Ort zur Verfügung stehenden Unterstützungshandlungen Dritter oder durch technische Hilfsmittel so ausgeglichen werden könnte, dass die Verweigerung des Nachzugs unzumutbar erschiene.

Dass die letzte Begutachtung durch den Regionalarzt mittlerweile über ein Jahr zurückliegt, rechtfertigt keine andere Einschätzung. Eine erneute ärztliche Begutachtung erscheint im Hinblick auf den zur Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen gegenwärtigen Zeitpunkt entbehrlich. Den beiden Begutachtungen lässt sich entnehmen, dass sich der Gesundheitszustand und der Pflegebedarf der Klägerin im Laufe der zwischen den Untersuchungen vergangenen rund zwei Jahren nicht auf eine Weise verschlechtert hat, die über den normalen Alterungsprozess hinausginge. Der Senat nimmt deshalb an, dass der Zustand der Klägerin vorbehaltlich einer gewissen alterungsbedingt voranschreitenden Verschlechterung, in der Stellungnahme vom 8. August 2013 im Wesentlichen noch zutreffend beschrieben wird, zumal nicht ersichtlich oder vorgetragen ist, dass im Zeitraum seit der letzten Untersuchung bis zum Tag der mündlichen Verhandlung Ereignisse aufgetreten wären, die eine andere Einschätzung nahe legten.

Das gilt auch im Hinblick auf die Angaben betreffend einen Herzinfarkt in der Bescheinigung des Städtischen Klinischen Krankenhauses Nr. 11 vom 22. Juli 2014. Diese Angaben sind nicht ganz eindeutig. Darin heißt es zunächst, eine "Postinfarktkardiosklerose unbekannten Datums" könne nicht ausgeschlossen werden. Sodann wird - über die vorherige Aussage hinausgehend - das Vorliegen einer "Postinfarktkardiosklerose" angeführt, während in der Beschreibung der Diagnose dem Begriff "Postinfarktkardiosklerose" ein "?" beigefügt und damit die vorangehende Feststellung wieder relativiert ist. Geht man zu Gunsten der Klägerin davon aus, dass eine Postinfarktkardiosklerose unbekannten Datums vorliegt, ließe sich hieraus kein akuter, über das in den ärztlichen Untersuchungen festgestellte Maß hinausgehender pflegerischer oder medizinischer Betreuungsbedarf herleiten. Da die Postinfarktkardiosklerose unbekannten Datums ist, liegt sie schon einige Zeit, möglicherweise mehrere Jahre zurück. Da in demselben Untersuchungsbericht weiter angegeben wird, dass zum Zeitpunkt der Untersuchung kein Hinweis auf ein akutes Koronarsyndrom habe festgestellt werden können, steht aber jedenfalls fest, dass im Zeitpunkt der Untersuchung keine Hinweise auf einen akuten Herzinfarkt vorlagen. Im Übrigen bestätigt die Bescheinigung vom 22. Juli 2014 das bekannte Krankheitsbild der Klägerin.

Ohne Erfolg wendet die Klägerin ein, den in der vom 8. August 2013 geschilderten guten Eindruck bei der Untersuchung durch den Regionalarzt am 18. Juli 2013 habe sie nur deshalb hinterlassen, weil sie vor dem Besuch dort sehr aufgeregt gewesen sei und Medikamente eingenommen habe, die sie körperlich und geistig "fitter, wacher und aufnahmefähiger" hätten wirken lassen als sie normalerweise tatsächlich sei; das von dem Arzt festgestellte gepflegte äußere Erscheinungsbild rühre daher, dass die Tochter der Klägerin zu Besuch gewesen sei und für dieses Erscheinungsbild mit Sorge getragen habe. Es ist nicht ersichtlich oder geltend gemacht, dass es der Klägerin unzumutbar wäre, die von ihr im Vorfeld des Arztbesuches eingenommenen Präparate weiter einzunehmen, wenn dadurch ihre körperliche und geistige Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst wird. Aus dem gleichen Grund vermag auch die Bescheinigung des Ministeriums für Gesundheitswesen des Gebiets R... vom 6. April 2012, wonach bei der Klägerin eine mäßige Verlangsamung der psychischen Prozesse, eine ausgeprägte Störung der Aufmerksamkeit, eine ausgeprägte Verminderung des Denk-Gedächtnisses, leichte Verminderung der Erinnerung festgestellt wurde und das Denken verlangsamt und schwerfällig sei, keine abweichende Einschätzung zu rechtfertigen.

Soweit die Klägerin Gangunsicherheit geltend macht und angibt, bereits mehrfach gestürzt zu sein, ist ihr zuzumuten, sich der üblichen Hilfsmittel zu bedienen. Nach den Feststellungen des Regionalarztes ist sie bei Zuhilfenahme eines Stockes ausreichend mobilisiert, für die Mobilität und zur Vermeidung von Stürzen kann sie außerdem gegebenenfalls auf einen Rollator zurückgreifen.

Was die regelmäßige Einnahme der Medikamente anbelangt, die insbesondere im Hinblick auf den Bluthochdruck erforderlich erscheint, ist nicht ersichtlich, dass dieser Aspekt nicht durch flankierende Maßnahmen, wie den Gebrauch einer eine Eigen- wie auch eine Fremdkontrolle ermöglichenden Pillendose mit Fächern für jeden Tag der Woche sowie nötigenfalls flankierende Kontrolle durch den häuslichen Pflegedienst oder zur Not auch tägliche Erinnerungsanrufe durch die in Deutschland lebende Tochter in den Griff zu bekommen wäre.

Die von der Tochter der Klägerin erstmals in der mündlichen Verhandlung am 8. Oktober 2014 vorgetragene Inkontinenz der Klägerin rechtfertigt ebenfalls nicht die Annahme einer außergewöhnlichen Härte. Auch dieses Leiden kann durchaus als alterstypisch angesehen werden (in Alters- und Pflegeheimen seien altersbedingt 60 bis 78 Prozent der Frauen betroffen, vgl. Stichwort "Harninkontinenz im Alter"). Es ist dementsprechend auch ein Leiden, das typischerweise und regelmäßig von Pflegediensten gehandhabt wird und das nach Angaben im Ärzteblatt "mit den heute gegebenen Mitteln mit geringem Aufwand für Patienten und Ärzte erfolgreich zu behandeln" sein soll (Stichwort: "Schlussfolgerung"). Dass es die Klägerin als unangenehm empfindet, die Intimpflege durch einen Pflegedienst durchführen lassen zu müssen und die Pflege durch eine persönlich bekannte und nahestehende Person vorziehen würde, erscheint zwar nicht unverständlich, rechtfertigt für sich genommen aber nicht die Annahme einer außergewöhnlichen Härte. Insbesondere erscheint es auch nicht als "unwürdig", dass die Hilfe durch Pflegepersonal erbracht wird, zumal es sich um eine Pflegeleistung handelt, die - wie gesagt - typischerweise und regelmäßig den Pflegediensten obliegt. Dass die Klägerin anscheinend einen ungewöhnlich hohen Anspruch an Hygiene im Intimbereich hat, wie in der Stellungnahme des Regionalarztes vom 8. August 2013 anklingt, vermag an dieser Einschätzung nichts zu ändern.

Weiter geht der Senat davon aus, dass Klägerin die zur Bewältigung ihres Alltags erforderliche Unterstützung durch Dritte erhält oder zumindest erhalten kann. Der Regionalarzt war von der Beklagten gebeten worden, Angaben zur "Quantifizierung und Charakterisierung der angenommenen Hilfeleistungen durch Nachbarn und das Soziale Komplexzentrum der Städtischen Gemeinde" zu machen. Er traf hierzu keine eigenen Feststellungen, sondern legte eine Bescheinigung des Pflegedienstes bei, führte allerdings aus, dass vor allem im Vergleich zu den vielen anderen Fällen, die er in den letzten drei Jahren zu bewerten gehabt habe, der Umfang der staatlichen Hilfe bei der Klägerin weit überdurchschnittlich sei. In der beigefügten Bescheinigung des "Komplexzentrums für soziale Betreuung der Bevölkerung der Stadt R..." vom 16. Oktober 2012 wird dargelegt, dass die Klägerin dreimal wöchentlich durch einen Sozialarbeiter und dreimal wöchentlich durch einen medizinischen Mitarbeiter versorgt werde. Die Hilfe umfasse das Einkaufen von Lebensmitteln, die Nahrungszubereitung, das Geschirrspülen, das Wegbringen des Mülls, Wechsel der Gardinen (saisonbedingt), Fenster putzen (saisonbedingt), das Wischen der Wohnung und die Bezahlung der kommunalen Leistungen. Der sozialmedizinische Dienst helfe beim Duschen, beim Neubeziehen des Bettes, bei der Besorgung von Medikamenten, bei der Beobachtung des Gesundheitszustandes, beim Schneiden der Nägel an Händen und Füßen und gewährleiste Massage und Abreibung der Klägerin. Hinzu kommt, dass die Klägerin nach eigenen Angaben auch Unterstützung aus der Nachbarschaft erhält. Beispielsweise hat sie den Besuch beim Regionalarzt im August 2011 in Begleitung einer Nachbarin absolviert und angegeben, dass diese sich um sie kümmere.

Soweit die Klägerin mit Schriftsatz vom 25. Oktober 2013 ausführt, die bescheinigte Pflegesituation entspreche nicht mehr den aktuellen Gegebenheiten, weil die sie betreuende Krankenschwester im Winter 2012/2013 erkrankt und ihr nunmehr eine neue Krankenschwester zugewiesen sei, welche sie nur unregelmäßig ca. alle zehn Tage aufsuche und sie dann nur rasch abfertige, rechtfertigt das keine andere Einschätzung. Abgesehen davon, dass die vorgetragenen Einschränkungen der Pflegeleistungen nicht durch Vorlage entsprechender Bescheinigungen belegt sind und das Vorbringen insgesamt den Eindruck erweckt, als sei es interessengeleitet, rechtfertigt dies selbst dann keine andere Bewertung, wenn man es als zutreffend unterstellt. Denn erforderlichenfalls kann die der Klägerin zukommende Unterstützung durch finanzielle Zuwendungen ihrer Tochter bzw. ihres Schwiegersohnes, der zu ihren Gunsten eine Verpflichtungserklärung abgegeben hat und ein weit überdurchschnittliches Einkommen aufweist, ergänzt und damit weitere Pflegeleistungen "eingekauft" werden (vgl. zu diesem Aspekt: Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Urteil vom 19. Dezember 2011 - OVG 3 B 17.10 -, OVGE BE 32, 271 f., Rn. 28 bei juris a.E.). [...]