VG Frankfurt a.M.

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Zitieren als:
VG Frankfurt a.M., Urteil vom 25.11.2014 - 7 K 4055/14.F.A - asyl.net: M22566
https://www.asyl.net/rsdb/M22566
Leitsatz:

Die aktuellen Berichte zu Ungarn lassen darauf schließen, dass die Aufnahmebedingungen und das Asylsystem systemische Mängel aufweisen.

Schlagwörter: Ungarn, systemische Mängel, unmenschliche Behandlung, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Dublinverfahren, Inhaftierung, Aufnahmebedingungen,
Normen: GR-Charta Art. 4, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2 S. 2, RL 213/33/EU Art. 8,
Auszüge:

[...]

Die vorstehend zitierten Berichte über die Lage in Ungarn belegen wesentliche Gründe für die Annahme, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in Ungarn systemische Schwachstellen aufweisen, die die Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigen den Behandlung im Sinne des Art. 4 EU-GrRCh mit sich bringen. Selbst wenn man aber die Auskunftslage in der Folge des Berichts des UNHCR vom April 2012 nicht ausreichen lassen wollte, solche wesentlichen Gründe im Sinne des Art. 3 Abs. 2 Satz 2 Dublin-VO festzustellen, so ist sie doch jedenfalls auch nicht geeignet, festzustellen, dass die im April 2012 bestehenden systemischen Mängel inzwischen entfallen sind. Das Gericht folgt insoweit der Rechtsauffassung des Verwaltungsgerichts Freiburg, wonach die Überstellung von Asylbewerbern in einen anderen Mitgliedstaat, in dem das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen in der Vergangenheit systemische Mängel aufgewiesen haben, nur dann in Betracht kommt, wenn festgestellt werden kann, dass diese Mängel behoben sind. Für eine solche Feststellung reicht es nicht aus, dass die aktuelle Erkenntnismittellage weniger eindeutig ist als in der Vergangenheit (VG Freiburg, B. v. 07.03.2014 - A 5 K 93/14 -, Rn 14).

Das Gemeinsame Europäische Asylsystem (GEAS) einschließlich der Zuständigkeitsregelungen der Dublin-VO stützt sich auf die Annahme und auf das Vertrauen darauf, dass alle daran beteiligten Staaten nicht nur die Grundrechte beachten, sondern auch die Vorgaben des europäischen Rechts erfüllen, so dass es für den Schutz von Flüchtlingen und anderweitig Schutzbedürftigen im Prinzip gleichgültig ist, in welchem EU-Mitgliedstaat bzw. in welchem Vertragsstaat des Dublin-Vertrages ihnen der europarechtlich verbürgte Schutz gewährt wird. Dieses Vertrauen ist jedoch zerstört, wenn wesentliche Gründe für die Annahme sprechen, dass in einem der betroffenen Staaten systemische Mängel des Asylverfahrens oder der Aufnahmebedingungen vorliegen. Einmal zerstörtes Vertrauen kann man nur durch positive Nachweise der nunmehr wieder bestehenden Vertrauenswürdigkeit wiederherstellen und nicht durch bloßes Nichtwissen aufgrund einer vagen Auskunftslage. Gerichtliche Entscheidungen, die damit begründet sind, dass systemische Mängel nicht "ersichtlich" seien (vgl. VGH Mannheim, B. v. 06.08.2013 - 12 F 675/13), weil der UNHCR-Bericht vom April 2012 durch den vom Dezember 2012 modifiziert worden sei, entbehren daher einer tragfähigen Begründung.

Zu einem gegenteiligen Ergebnis führt auch nicht das Urteil des EGMR vom 03.07.2014 - 71932/12 -, "Mohammadi v. Austria". Der Gerichtshof stellt zunächst ausführlich die Informationsquellen dar, auf denen seine Einschätzung der Lage beruht. Darunter befinden sich im Wesentlichen die vorstehend berücksichtigten Berichte. Insbesondere stellt er die exzessive Praxis der Asylhaft und der unzulänglichen Haftbedingungen dar, wie sie in dem Bericht des HCC vom Mai 2014 dargestellt werden (Rn 36-42). Darüber hinaus stützt er sich auch noch auf den Bericht einer UN Arbeitsgruppe zur willkürlichen Haft, die diese Befunde bestätigt (Rn 44-45). Trotz dieser Feststellungen kommt der Gerichtshof zu der Einschätzung, dass keine wesentlichen Gründe für die Annahme sprächen, dass Asylsuchende in Ungarn einschließlich der Dublin-Rückkehrer der Gefahr einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung ausgesetzt seien. Dabei stellt er wesentlich darauf ab, dass die Gesetzgebung seit 2012 geändert worden sei und behauptet im Übrigen auch eine signifikante Änderung der Praxis, ohne dies näher zu begründen und ohne dass dies aus den von ihm selbst zitierten Lageberichten ersichtlich wäre (Rn 66). Der Gerichtshof erinnert sogar selbst an die seiner Bewertung diametral entgegenstehenden Darlegungen in den herangezogenen Berichten (Rn 68). Letztlich setzt er sich darüber mit dem Argument hinweg, der UNHCR habe für Ungarn im Unterschied zu Griechenland und Bulgarien nie die Empfehlung ausgesprochen, die Rückführung von Asylsuchenden in dieses Land zu unterlassen (Rn 69). Dabei widmet er dem Umstand keinerlei Beachtung, dass UNHCR an einer weiteren Zusammenarbeit mit der ungarischen Regierung interessiert ist, um den völker- und europarechtswidrigen Entwicklungen in diesem Land nach Möglichkeit entgegenzuwirken. Diese diplomatischen Gründe sprechen dafür, dass UNHCR trotz der eindeutigen Schilderung der Verhältnisse daraus keine Empfehlungen ableitet. Möglicherweise steht die allgemeine Zurückhaltung bei der Kritik der Zustände in Ungarn auch in einem unausgesprochenen Zusammenhang mit dem Bedürfnis der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten, die rechtsstaatswidrigen und demokratiefeindlichen Bestrebungen der ungarischen Regierung, in deren Kontext auch der Umgang mit dem Flüchtlingsrecht zu sehen ist, nicht besonders stark zu thematisieren, damit ein Verfahren nach Art. 7 EUV vermieden werden kann. Es sprechen jedenfalls sehr gute Gründe dafür, dass das erkennende Gericht seiner Entscheidung zwar die Faktenlage zugrunde legt, über die die ausgewerteten Berichte und Stellungnahmen informieren, die Bewertung derselben aber von einer eigenständigen Beurteilung abhängig macht und nicht fremde Bewertungen übernimmt, deren Maßstäbe nicht durchschaubar sind.

Es besteht somit die konkrete Gefahr, dass der Kläger nach seiner Rückkehr nach Ungarn inhaftiert wird, ohne dass die Haftgründe des Art. 8 RL 2013/33/EU vom 26.06.2013 über die Aufnahmebedingungen vorliegen, und dass er unmenschlichen und erniedrigenden Haftbedingungen ausgesetzt sein wird. Es besteht weiterhin die konkrete, in keiner Weise ausgeräumte Gefahr, dass er keinen Zugang zu einem fairen Asylverfahren und zu damit verbundenen Rechtsmitteln haben wird. [...]