In der Türkei kommt es immer noch zu so genannten "Ehrenmorden", das heißt insbesondere zu der Ermordung von Frauen und Mädchen die eines sogenannten "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer sexuellen Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes auch vergewaltigten Frauen ein. Dementsprechend droht der Betroffenen bei einer Rückkehr eine Verfolgung dessen Grund die Geschlechtszugehörigkeit darstellt.
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Nach Auffassung des Gerichts liegt im Falle der Klägerin zu 1) bei ihrer Rückkehr eine tatsächliche Gefahr der Verfolgung ("real risk", s.o.) in Gestalt einer geschlechtsspezifischen Verfolgung bzw. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe durch ihre Verwandten sowie die Mitglieder der Dorfgemeinschaft vor.
Die Klägerin zu 1) macht als Fluchtgrund geltend, dass sie wegen einer vorgenommenen Abtreibung als Alleinstehende befürchten muss, Opfer eines Ehrenmordes durch ihre Verwandtschaft oder Mitglieder ihrer Dorfgemeinschaft zu werden.
Das Vorbringen der Klägerin zu 1) ist nach Überzeugung des Gerichts glaubhaft. Sie hat in der mündlichen Verhandlung glaubwürdig und in Übereinstimmung mit der Schilderung bei der Beklagten die Umstände angegeben, die zu ihrer Flucht geführt haben. Dass sie nicht imstande war, alle Einzelheiten zu wiederholen, resultierte aus ihrer stark verunsicherten Konstitution. So musste sie während der kompletten Verhandlung mit den Tränen kämpfen und suchte Halt durch ihre Begleitung in Gestalt ihrer Betreuerin. Auch die Angaben der Zeugin ..., die die Klägerinnen nunmehr seit über drei Jahren begleitet, bestätigen den Eindruck, den das Gericht von der Klägerin zu 1) hat. So ist diese u.a. nicht in der Lage, alleine vor die Tür, z.B. zum Einkaufen, zu gehen. Ihre persönliche Betroffenheit sowie versuchte Verdrängung des Erlebten waren in der Sitzung deutlich zu spüren. Die mit ihrer Flucht verbundene Ungewissheit und ihre tiefsitzenden Ängste vor der Rache ihrer Verwandten oder anderer Mitglieder der Dorfgemeinschaft konnte die Klägerin zu 1) dem Gericht überzeugend vermitteln, ohne dass auch nur im Ansatz der Eindruck entstand, die Klägerin zu 1) täusche diese Gefühle sowie ihren insgesamt schlechten psychischen Zustand nur vor. Die Klägerin zu 1) machte zudem einen eher einfach strukturierten Eindruck Sie hat auch keine Ausbildung. Auch dies spricht dafür, dass sie von selbst Erlebtem und nicht von für das Asylverfahren zurechtgelegten Geschehensabläufen berichtete.
Im Übrigen decken sich die Schilderungen der Klägerin zu 1) und ihre ernst zu nehmende Befürchtung, Opfer eines Ehrenmordes zu werden, mit den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen über Ehrenmorde in der Türkei. Nach dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 15.07.2014 (Stand: Mai 2014) kommt es in der Türkei immer noch zu so genannten "Ehrenmorden", d.h. insbesondere zu der Ermordung von Frauen oder Mädchen, die eines sog. "schamlosen Verhaltens" aufgrund einer (sexuellen) Beziehung vor der Eheschließung bzw. eines "Verbrechens in der Ehe" verdächtigt werden. Dies schließt nach diesem aktuellen Lagebericht auch vergewaltigte Frauen ein. Die Klägerin zu 1) stammt zudem, wie sie glaubhaft vorgetragen hat, aus dem Osten der Türkei.
Das Gericht ist deshalb davon überzeugt, dass sich das von der Klägerin zu 1) geschilderte Geschehen tatsächlich so abgespielt hat und sie mit ihren Töchtern vorverfolgt ausgereist ist. Die o.g. Beweiserleichterung begründet die in diesem Fall nicht widerlegte tatsächliche Vermutung dafür, dass sie im Fall einer Rückkehr in das Heimatland erneut von einer Verfolgung bedroht ist. Stichhaltige Gründe, die diese Vermutung entkräften, liegen nicht vor.
Die der Klägerin zu 1) bei einer Rückkehr drohende Verfolgungshandlung knüpft an den Verfolgungsgrund der Geschlechtszugehörigkeit und die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe - alleinstehende Frauen aus Familien sowie einer Dorfgemeinschaft, deren traditionelles Selbstverständnis uneheliche Schwangerschaften als Schande ansehen, die die Ehre der Familie bzw. des Dorfes beschmutzt - an (§ 3b Abs. 1 Ziff. 4 AsylVfG), durch die ihr Leben, zumindest aber ihre körperliche Unversehrtheit und Freiheit aktuell bedroht ist.
Die der Klägerin in der Türkei drohende Verfolgung geht von nichtstaatlichen Akteuren i.S. des § 3c Ziff. 3 AsylVfG aus. Zu diesen nichtstaatlichen Akteuren zählen auch Einzelpersonen wie Verwandte oder Mitglieder des Dorfes der Klägerinnen.
Für die Klägerin zu 1) besteht auch keine inländische Fluchtalternative i.S.d. § 3e AsylVfG. Ein ausreichender Schutz der Klägerin zu 1) - insbesondere in ihrer bereits hier in Deutschland vorliegenden Konstitution - vor ihrer Familie und den Mitgliedern der Dorfgemeinschaft ist bei einer Rückkehr nicht gewährleistet. Der türkische Staat wäre jedenfalls nicht effektiv in der Lage, die Klägerin zu 1) vor Verfolgung zu schützen. Das Gericht ist der Überzeugung, dass es der Familie der Klägerin zu 1) gelingen wird, die Klägerin zu 1) ausfindig zu machen. Sie muss sich, insbesondere da sie bei einer (theoretischen) Rückkehr den Lebensunterhalt für sich und die Kinder sicherstellen müsste, bei amtlichen Stellen melden und registrieren lassen. Darüber hinaus wird sie ohne Unterstützung Bekannter oder Freunde voraussichtlich nicht in der Lage sein, das Existenzminimum zu sichern. Darauf hat auch die Beklagte im Rahmen ihrer Feststellung eines Abschiebungshindernisses gem. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG bereits abgestellt. Dies bedeutet, dass sie nachvollziehbare "Spuren" hinterlassen muss. Angesichts der fortgeschrittenen Vernetzung der Gesellschaft auch in der Türkei und zahlreicher Möglichkeiten, u.a. auch gegen Bezahlung an amtliche Daten und Informationen zu gelangen, ist es voraussichtlich nur eine Frage der Zeit, bis die Familie der Klägerin zu 1) ihren Aufenthaltsort ausfindig machen würde (vgl. auch: VG Augsburg, Urt. v. 19.07.2012, Au 6 K 12.30123, juris).
Aufgrund des Umstandes, dass die Klägerinnen zu 2) und 3) nach dem glaubhaften Vortrag der Klägerin zu 1) ebenfalls mit verschleppt und eingesperrt wurden, ist auch in ihrem Fall von dem Vorliegen einer Vorverfolgung aus o.g. Gründen auszugehen. Aus Gründen der Sippenhaft nimmt das Gericht daher auch in dem Falle der Töchter die Flüchtlingseigenschaft gem. § 60 Abs. 1 AufenthG i.V.m. § 3 AsylVfG an. [...]