VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Beschluss vom 11.12.2014 - 9 B 428/14 MD - asyl.net: M22607
https://www.asyl.net/rsdb/M22607
Leitsatz:

Die Lage für zurückgeführte Flüchtlinge in Bulgarien ist prekär. Für besonders schutzbedürftige Personen ist die Situation nicht mehr hinnehmbar, da ein menschenwürdiges Leben für sie nicht gewährleistet scheint.

Schlagwörter: Bulgarien, Dublinverfahren, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, subsidiärer Schutz, anerkannter Flüchtling, Flüchtlingsanerkennung, besonders schutzbedürftig, Kinder, Kleinkinder, minderjährig,
Normen: EMRK Art. 3, RL 2011/95/EU Art. 20 Abs. 3, AsylVfG § 26a, AsylVfG § 27a, AsylVfG § 34a,
Auszüge:

[...]

b. Für eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung von subsidiär Schutzberechtigten in Bulgarien im Sinne von Art. 3 EMRK ist nichts ersichtlich. Der Inhalt des internationalen Flüchtlingsschutzes wird unionsrechtlich vorgegeben durch die Regelungen in Art. 20 bis 35 der Richtlinie 2011/95/EU. So gelten einheitliche Vorgaben etwa für die Erteilung des Aufenthaltstitels (Art. 24) und der Reisedokumente (Art. 25 Abs. 1). Einem anerkannten Schutzberechtigten stehen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung (Art. 26), zur Bildung (Art. 27), zum Erhalt von Sozialhilfeleistungen (Art. 29) und medizinischer Versorgung (Art. 30) dieselben Rechte wie den jeweiligen Staatsangehörigen zu (VG Düsseldorf, Beschluss vom 17. Juli 2014 - 17 L 1018/14.A -, juris).

Im Hinblick auf Bulgarien ist zwar festzustellen, dass die Lebensbedingungen (auch) für Personen mit zuerkannter Flüchtlingseigenschaft bzw. subsidiärem Schutzstatus dort nach den gegebenen Erkenntnissen prekär sind. Weder ist aber eine Verletzung der in Art. 26 ff. der Richtlinie 2011/95/EU vorgesehenen Gleichbehandlungsgebote erkennbar noch herrschen in Bulgarien derart handgreiflich eklatante Missstände, die die Annahme rechtfertigten, anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte würden einer erniedrigenden oder unmenschlichen Behandlung ausgesetzt und den Antragstellern müsste unabweisbar Schutz gewährt werden. Eine solche Behandlung muss vielmehr ein Mindestmaß an Schwere erreichen, um als unmenschlich oder erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK zu gelten. Dieses Mindestmaß erreichen die Verhältnisse, denen anerkannte Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigte in Bulgarien ausgesetzt sind, nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht. Der UNHCR schildert in seinem Bericht "Current Situation of Asylum in Bulgaria" zwar Schwierigkeiten anerkannter Flüchtlinge bzw. subsidiär Schutzberechtigter in Bulgarien (vgl. UNHCR Observations on the Current Situation of Asylum in Bulgaria, Stand: April 2014, Ziff. 2.7.). So bestünde eine bis zu zweimonatige Lücke bei der Gesundheitsversorgung in der Zeit zwischen Anerkennung als Flüchtlinge oder subsidiär Schutzberechtigte aufgrund der Änderung ihres Status im System. Sie hätten außerdem - wie die bulgarischen Staatsangehörigen auch - einen monatlichen Beitrag von umgerechnet 8,70 Euro für die Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung zu zahlen, von der indes Medikamente und psychologische Betreuung nicht eingeschlossen seien. Berichtet wird außerdem von Schwierigkeiten, eine gesicherte Beschäftigung zu erlangen. Neben der schwierigen wirtschaftlichen Situation seien einige strukturelle Hindernisse wie etwa die fehlende Anerkennung von Vorkenntnissen zu überwinden. Es fehle an gezielter Unterstützung. Außerdem mangele es an angemessenem und bezahlbarem Unterkünften, was eine Integration erschwere. Ohne externe Unterstützung bei der Suche nach geeigneten Unterkünften seien die Statusinhaber auf die weitere Unterbringung in Aufnahmeeinrichtungen angewiesen, wo sie kaum Möglichkeit zur Integration in die bulgarische Gesellschaft hätten. Auch die für eine erfolgreiche Integration erforderliche Bildung der Schutzberechtigten, insbesondere der Kinder, sei verbesserungswürdig. Zwar hätten die Statusinhaber - wie Asylsuchende - unter 18 Jahren nach bulgarischem Recht im gleichen Maße Zugang zu Bildung wie bulgarische Staatsbürger. Voraussetzung für den Antritt des Schulbesuchs sei jedoch die erfolgreiche Teilnahme an einem SAR-Sprachkurs, der nur in einer Aufnahmeeinrichtung vorgehalten werde. In den übrigen Einrichtungen würden informelle Sprachkursen erteilt, die vom UNHCR finanziert und von der Caritas durchgeführt würden. Deren Anerkennung sei derzeit noch nicht sichergestellt.

Die aufgezeigten Defizite lassen nicht den Schluss zu, dass eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung vorliegt, zumal der UNHCR die Bemühungen Bulgariens an der Einrichtung eines neuen Integrationsprogramms begrüßt und zur raschen Umsetzung des Programms, insbesondere im Hinblick auf den Zugang zu Bildung, Unterkunft und Lebensunterhalt aufruft. Art. 3 EMRK verpflichtet die Konventionsstaaten nicht etwa dazu, Schutzberechtigte finanziell zu unterstützen, um ihnen einen gewissen Lebensstandard einschließlich bestimmter Standards medizinischer Versorgung zu ermöglichen (vgl. EGMR, Urteil vom 21.01.2011 - 30969/09 -, juris dort Rdnr. 249). Generell reicht die drohende Zurückweisung in ein Land, in dem die eigene wirtschaftliche Situation schlechter sein wird als in dem ausweisenden Vertragsstaat nicht aus, die Schwelle der unmenschlichen Behandlung, wie sie von Art. 3 EMRK verboten wird, zu überschreiten (vgl. EGMR, Beschluss vom 2.04.2013 - 27725/10 -, juris). Art. 3 EMRK ist im Kern ein Abwehrrecht gegen unwürdiges Staatsverhalten im Sinne eines strukturellen Versagens bei dem durch ihn zu gewährenden angemessenen materiellen Mindestniveau und weniger ein individuelles Leistungsrecht einzelner Antragsteller auf bestimmte materielle Lebens- und Sozialbedingungen selbst (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.04.2013 - 17 L 660/13.A -, juris Rn. 43, m.w.N.; VG Düsseldorf, Beschluss vom 04.11.2014 - 17 L 2342/14.A -, juris). Anerkannte Flüchtlinge in Bulgarien müssen sich nach alledem auf den dort für alle bulgarischen Staatsangehörigen geltenden Versorgungsstandard verweisen lassen, auch wenn dieser dem hiesigen Niveau nicht entspricht (zu Italien: VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 - 17 L 1018/14.A -, juris, m.w.N.). Dass einem anerkannten Flüchtling in Bulgarien hinsichtlich Aufenthalts, Freizügigkeit, Zugang zu Arbeit und medizinischer Versorgung nicht dieselben Rechte wie bulgarischen Staatsangehörigen zustehen, ist weder vorgetragen noch ersichtlich.

c. Die Antragsteller gehören jedoch unter Berücksichtigung des Alters der Antragsteller zu 2. und 3. (vier und ein Jahr) zu einer besonders schutzbedürftigen Personengruppe, was dem Erlass der Abschiebungsanordnung entgegensteht. Ungeachtet der vorstehenden Ausführungen kann es im Einzelfall aus individuellen, in der Person der Antragsteller liegenden Gründen - wenn auch nur vorübergehend - geboten sein, von Überstellungen in den anderen Mitgliedstaat abzusehen. Anhaltspunkt für das Vorliegen eines solchen Ausnahmefalls kann geben, ob es sich bei einer der Antragsteller um eine Person mit besonderen Bedürfnissen gemäß Art. 20 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU handelt und diese nach einer Einzelfallprüfung (Art. 20 Abs. 4 Richtlinie 2011/95/EU) entsprechend einzustufen ist (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 17.07.2014 - 17 L 1018/14.A -, juris). Auf die Beachtlichkeit dieser Besonderheiten haben sowohl der EGMR (v. 04.11.2014, - 29217/12, juris) als auch das BVerfG (B. v. 17.09.2014, 2 BvR 732/14 und 939/14, juris) ausdrücklich hingewiesen.

Für die Personengruppen, denen die Antragsteller angehören, bestehen nach der aktuellen Auskunftslage (s. o. UNHCR-Bericht von April 2014) greifbare Anhaltspunkte dafür, dass ihre Rückkehr zu Rechtsgutbeeinträchtigungen im oben angeführten Sinne führen würde. Denn wie bereits oben ausgeführt, wird die Lage für zurückgeführte Flüchtlinge bereits im Allgemeinen als prekär eingeschätzt. Da Gegenstand dieser Betrachtung der "durchschnittliche" Flüchtling sein dürfte, stellt sich die Lage für die besonders schutzbedürftigen Personen eben gerade als nicht mehr hinnehmbar dar.

Denn sie sind dann eben nicht mehr in der gleichen Weise in der Lage, aus eigener Kraft die Voraussetzungen für die Teilhabe an den Leistungen des aufnehmenden Staates zu schaffen, was nach Auffassung des Gerichts jedoch von der Auskunftslage vorausgesetzt wird. Allein das Verschaffen einer gesicherten Unterkunft, mag auch der Zugang zum Wohnungsmarkt generell bestehen, sowie die Teilhabe an Sozialleistungen - von der Arbeitsaufnahme ganz zu schweigen - dürfte für diesen Personenkreis nach der Auskunftslage zu solchen - derzeit unüberbrückbaren - Problemen führen, die ein menschenwürdiges Leben nicht gewährleisten.

Zur Sicherstellung effektiven Rechtsschutzes ist wegen des vielfältigen und nicht ausschließlich in der Sphäre der Antragsgegnerin liegenden Maßnahmenbündels, das eine zureichende Abstimmung/Zusicherung mit den er bulgarischen Behörden voraussetzt, notwendig und erforderlich, die Ablehnung nicht lediglich mit einem Maßnahmengebot i.S.d. § 80 Abs. 5 Satz 4 VwGO zu verbinden, sondern vor der beabsichtigen Abschiebung deren Durchführung und Überwachung (insbesondere durch Garantien der bulgarischen Behörden) einzufordern. Das bisherige Vorbringen der Antragsgegnerin zugrunde gelegt, ist nämlich nicht erkennbar, dass sie bereits geeignete Maßnahmen in Zusammenarbeit mit den bulgarischen Behörden eingeleitet hat, zumal sie sich der besonderen Schutzbedürftigkeit der Personengruppe nicht hinreichend bewusst war. [...]