VG Würzburg

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Zitieren als:
VG Würzburg, Urteil vom 12.01.2015 - W 7 K 14.30075 - asyl.net: M22624
https://www.asyl.net/rsdb/M22624
Leitsatz:

Mitglieder und Sympathisanten zahlreicher Oppositionsparteien, wie z.B. Musavat sind im Alltag in Aserbaidschan Benachteiligungen ausgesetzt, die in Einzelfällen ein solches Maß erreichen können, dass von staatlicher Repression gesprochen werden kann. Die Repressionen betreffen insbesondere solche Sympathisanten, die sich öffentlich, z.B. bei nicht genehmigten Kundgebungen, zu oppositionellen Parteien oder regierungskritischen Positionen bekennen.

Schlagwörter: Aserbaidschan, Müsavat, Musavat, Musavat-Partei, Jugendorganisation, Auswärtiges Amt, Opposition, Oppositionspartei,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 1, AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben hat der Kläger eine begründete Flucht vor Verfolgung zur vollen Überzeugung des Gerichts glaubhaft gemacht. Der Kläger hat aufgrund seines zahlreiche Einzelheiten enthaltenden und im Wesentlichen widerspruchsfreien Vorbringens glaubhaft gemacht, dass er über viele Jahr für die Jugendorganisation der Musavat-Partei tätig war und aufgrund dieser Tätigkeit mehrmals von der Polizei festgenommen und verurteilt wurde. Dem steht auch die durch das Bundesamt eingeholte Auskunft der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland Baku vom 11. Dezember 2013 sowie die diese ergänzende Stellungnahme des Auswärtigen Amtes vom 3. April 2014 nicht entgegen. Zwar wird in der ergänzenden Stellungnahme vom 3. April 2014 angegeben, die vom Kläger vorgelegte Parteibescheinigung vom Januar 2014 entspreche nicht dem offiziellen Schreiben der Partei. Worin sich diese unterscheiden bzw. wie genau offizielle Schreiben der Partei aussehen, wird allerdings nicht ausgeführt. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch, dass die zunächst vorgelegte einfache Mitgliedsbescheinigung im Gerichtsverfahren noch ergänzt wurde durch eine erläuternde Bescheinigung vom 10. Juli 2014, die der stellvertretende Vorsitzende der Musavat-Partei ausgestellt hat. Hierin wird die Tätigkeit des Klägers genauer beschrieben. Anhaltspunkte, dass es sich dabei um eine Fälschung handeln könnte, sind für das Gericht nicht ersichtlich.

Dem glaubwürdigen Vorbringen des Klägers steht auch nicht die Tatsache entgegen, dass er nach der Auskunft der Botschaft Baku sowie der ergänzenden Stellungnahme nicht auf der Liste der inhaftierten Personen in Aserbaidschan geführt wird. Zum einen ist aus der Auskunft nicht ersichtlich, wo und von wem diese Liste geführt wird, so dass nicht automatisch von einer Vollständigkeit ausgegangen werden kann bzw. vom Gericht automatisch zugrunde gelegt werden kann. Angesichts der Benachteiligungen, die Mitglieder von Oppositionsparteien in Aserbaidschan unterliegen (siehe unten), ist nicht auszuschließen, dass gerade politisch motivierte Verurteilungen nicht unbedingt auf offiziellen Listen zu finden sind.

Der Kläger konnte in der mündlichen Verhandlung das Gericht aufgrund des Detailreichtums seiner Schilderungen davon überzeugen, dass er das von ihm behauptete Verfolgungsschicksal tatsächlich erlitten hat. Sowohl bei den Demonstrationen und der anschließenden Verhaftung und Verurteilung im Januar 2009 als auch April 2011 konnte er schon Maßnahmen der Partei im Vorfeld der Demonstrationen benennen. Er konnte Zeit und Art des Ablaufs der Demonstrationen und die genauen Umstände der Festnahme schildern. Gleiches gilt für die Demonstration am 19. Juni 2010. Der Kläger hat die strategischen Überlegungen, die Demonstration an verschiedenen Orten in Baku abzuhalten und seine Familie mitzunehmen, genau geschildert. Auch die Umstände, wie er einer Festnahme entgehen bzw. sich losreißen und untertauchen konnte, hat der Kläger glaubhaft geschildert.

Die Angaben des Klägers werden auch durch die Auskunftslage gestützt. Aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschieberelevante Lage in der Republik Aserbaidschan vom 14. Februar 2014 wird dargelegt, dass die Betätigungsmöglichkeiten der politischen Opposition spürbar eingeschränkt sind. Danach können Mitglieder und Sympathisanten zahlreicher Oppositionsparteien, wie z.B. Musavat, im Alltag Benachteiligungen ausgesetzt seien, die in Einzelfällen ein solches Maß erreichen können, dass von staatlicher Repression gesprochen werden kann. Die Repressionen betreffen insbesondere solche Sympathisanten, die sich öffentlich, z.B. bei nicht genehmigten Kundgebungen, zu oppositionellen Parteien oder regierungskritischen Positionen bekennen. Es wird auch dargestellt, dass die Versammlungsfreiheit zahlreichen Beschränkungen unterworfen ist. So werden z.B. Versammlungen in der Innenstadt von Baku i.d.R. verboten und die Veranstalter werden auf außerhalb des Stadtzentrums liegende Plätze verwiesen, die nicht geeignet sind, eine hohe Außenwirkung zu erzielen. Sofern regierungskritische Kundgebungen unangemeldet durchgeführt werden, werden diese von der Polizei notfalls unter Anwendung unmittelbaren Zwangs aufgelöst.

Aus diesen Gesamtumständen, insbesondere der Schilderung des Klägers in der mündlichen Verhandlung und insbesondere auch der Tatsache, dass die Familie Aserbaidschan in unmittelbaren zeitlichen Zusammenhang mit der Demonstration am 19. Juni 2011 verlassen hat, ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass der Kläger Verfolgungshandlungen i.S. von § 3a Abs. 1 und 2 AsylVfG ausgesetzt war. Die Verfolgungshandlungen erfolgten aufgrund der politischen Überzeugung des Klägers i.S.v. § 3b Abs. 1, 5 AsylVfG, so dass auch die nach § 3a Abs. 3 AsylVfG erforderliche Verknüpfung zwischen Verfolgungshandlung und Verfolgungsgründen besteht. Zwar bestehen ernsthafte Zweifel daran, dass der Kläger das Land tatsächlich auf dem Luftweg verlassen hat. Insbesondere erscheint wenig überzeugend, dass ein Mann mit Bildungsniveau des Klägers nicht mitbekommen haben soll, in welchem Land der EU er zwischengelandet ist. Auch erscheint wenig überzeugend, dass der Kläger nicht erkannt hat, von welcher Botschaft er ein Visum ausgestellt bekommen hat. Auch wenn er dies an dem Gebäude nicht gesehen haben will, so hätte dies doch zumindest auf dem Visum selbst vermerkt sein müssen. Es liegt daher nahe, dass der Kläger und seine Familie Aserbaidschan tatsächlich auf dem Landweg verlassen haben. Dies ist aber im Rahmen der Flüchtlingsanerkennung ohne Belang, zumal an der politischen Verfolgung vor der Ausreise keine Zweifel bestehen.

Da der Kläger somit vorverfolgt ausgereist ist, ist dies gemäß Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über die Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf Internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (RL 2011/95/EU), die die sog. Qualifikationsrichtlinie (RL 2004/83/EG) abgelöst hat, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht vor Verfolgung begründet ist, bzw. dass der Schutzsuchende tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Schutzsuchende erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Für solche Gründe ist im vorliegenden Fall aber nichts ersichtlich.

Im Gegenteil spricht das in der Verhandlung übergebenen Unterlagen belegte exilpolitische Engagement des Klägers dafür, dass der Kläger einer Rückkehr nach Aserbaidschan tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden. Der Kläger hat daher Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylVfG. [...]