VG Düsseldorf

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Zitieren als:
VG Düsseldorf, Urteil vom 11.11.2014 - 22 K 6836/13 (= ASYLMAGAZIN 4/2015, S. 133 ff.) - asyl.net: M22653
https://www.asyl.net/rsdb/M22653
Leitsatz:

Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Fall eines Rückkehrers aus dem syrischen Bürgerkrieg.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, Verlust des Freizügigkeitsrechts, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Islamisten, Syrien, Rückkehrer, Unionsbürger, tatsächliche und gegenwärtige Gefahr, Gefährdung der öffentlichen Ordnung, Wiederholungsgefahr, terroristische Vereinigung, Syrienrückkehrer,
Normen: FreizügG/EU § 1, FreizügG/EU § 6 Abs. 1, FreizügG/EU § 6 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers in Ziffer 1 des Bescheides ist in dem für die gerichtliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – 1 C 30/02 –, Rdn. 28 ff, BVerwGE 121, 297-315 und juris; OVG NRW, Urteil vom 14. März 2013 – 18 A 2263/08 –, Rdn. 26 m.w.N., juris) rechtswidrig und der Kläger hierdurch in seinen Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Die Verlustfeststellung findet ihre Rechtsgrundlage nicht in der hier allein als Ermächtigungsgrundlage in Betracht kommenden Regelung des § 6 FreizügG/EU.

Einreise und Aufenthalt des Klägers richten sich gemäß § 1 FreizügG/EU nach diesem Gesetz, da er als polnischer Staatsangehöriger seit dem Beitritt der Republik Polen zur Europäischen Union am 1. Mai 2004 Unionsbürger ist (vgl. Art. 20 Abs. 1 Satz 2 AEUV) und als solcher nach Maßgabe der in den Verträgen und in den Durchführungsvorschriften vorgesehenen Beschränkungen und Bedingungen freizügigkeitsberechtigt ist (vgl. Art. 20 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a), Satz 3, Art. 21 Abs. 1 AEUV). Hierzu zählt das Recht auf Einreise und Aufenthalt für einen Zeitraum bis zu drei Monaten, wobei der Unionsbürger lediglich im Besitz eines gültigen Personalausweises oder Reisepasses sein muss und ansonsten keine weiteren Bedingungen zu erfüllen oder Formalitäten zu erledigen braucht (vgl. Art. 6 der Richtlinie 2004/38/EG vom 29. April 2004 – UnionsbürgerRL -). Dieses Recht ist in § 2 Abs. 1 i.V.m. dessen Abs. 4 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 FreizügG/EU in nationales Recht umgesetzt worden.

Der Verlust des Rechtes aus § 2 Abs. 1 FreizügG/EU kann nach § 6 Abs. 1 S. 1 FreizügG/EU nur aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit festgestellt werden. Nach § 6 Abs. 2 Satz 2 FreizügG/EU dürfen hierfür nur solche Umstände berücksichtigt werden, die ein persönliches Verhalten des betreffenden Ausländers erkennen lassen, das eine gegenwärtige Gefährdung der öffentlichen Ordnung darstellt. Nach § 6 Abs. 2 Satz 3 FreizügG/EU muss es sich um eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung handeln, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – 1 C 30/02 –, Rdn. 16 ff, BVerwGE 121, 297-315 und juris).

Ferner darf die Verlustfeststellung nur auf der Grundlage einer Ermessensentscheidung erfolgen (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 – 1 C 30/02 –, Rdn. 16 ff, BVerwGE 121, 297-315 und juris; zum Fall eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen: BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 - 1 C 19.11 -, Rdn. 20 m.w.N., juris).

Unter bestimmten Voraussetzungen sind gemäß § 6 Abs. 4 und 5 FreizügG/EU weitere, gesteigerte Anforderungen an eine Verlustfeststellung zu beachten. Ob diese strengeren Anforderungen hier Anwendung finden, kann jedoch offen bleiben. Denn vorliegend sind bereits die materiell-rechtlichen Vorgaben des § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU nicht erfüllt, an denen jede Verlustfeststellung zu messen ist.

Jede Feststellung des Verlust der Freizügigkeit aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit oder Gesundheit setzt nach § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU, durch die die unionsrechtlichen Anforderungen nach Art. 27, 28 der UnionsbürgerRL in nationales Recht umgesetzt wurden, voraus, dass das persönliche Verhalten des Betroffenen eine tatsächliche und gegenwärtige Gefahr darstellt, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (vgl. EuGH, Urteil vom 22. Mai 2012, C-348/09, juris; BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30/02 -, Rdn. 21 ff m.w.N., BVerwGE 121, 297-315 und juris).

Hierfür genügt nicht schon die in jeder Gesetzesverletzung liegende Störung der öffentlichen Ordnung. Das persönliche Verhalten des Betroffenen muss vielmehr eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung begründen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt (BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30/02 -, Rdn. 24 m.w.N., BVerwGE 121, 297-315 und juris).

Zu den Grundinteressen der Gesellschaft gehört die Sicherung des friedlichen Zusammenlebens der Einwohner eines Staates unter Beachtung der geltenden Rechtsordnung, insbesondere in ihrer strafrechtlichen Ausprägung (vgl. zum Fall eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen: BVerwG, Urteil vom 10. Juli 2012 – 1 C 19.11 -, Rdn. 15, juris).

Nach diesen Maßstäben ist die Annahme der Beklagten nicht zu beanstanden, dass eine vom Kläger ausgehende Gefahr islamistisch motivierter Gewalttaten von erheblicher Intensität (womöglich unter Einsatz von Waffengewalt) ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt.

Es lässt sich jedoch nicht feststellen, dass das persönliche Verhalten des Klägers gegenwärtig (noch) eine tatsächliche und hinreichend schwere Gefährdung in diesem Sinne darstellt. Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefährdung der öffentlichen Ordnung besagt nicht, dass eine "gegenwärtige Gefahr" im Sinne des deutschen Polizeirechts vorliegen müsste, die voraussetzt, dass der Eintritt des Schadens sofort und nahezu mit Gewissheit zu erwarten ist. Es verlangt vielmehr eine hinreichende - unter Berücksichtigung der Verhältnismäßigkeit nach dem Ausmaß des möglichen Schadens und dem Grad der Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts differenzierende - Wahrscheinlichkeit, dass der Ausländer künftig die öffentliche Ordnung im Sinne der Art. 27, 28 der UnionsbürgerRL beeinträchtigen wird (vgl. BVerwG, Urteil vom 3. August 2004 - 1 C 30/02 -, Rdn. 26 m.w.N., BVerwGE 121, 297-315 und juris).

Für die Beurteilung der Gefahr kommt dem Rang des bedrohten Rechtsguts Bedeutung zu. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Bei bedrohten Rechtsgütern mit einer hervorgehobenen Bedeutung gelten demgemäß eher geringere Anforderungen. Im Hinblick auf die Bedeutung des Grundsatzes der Freizügigkeit sind an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierte hinreichende Wahrscheinlichkeit allerdings keine zu geringen Anforderungen zu stellen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 14. März 2013 – 18 A 2263/08 –, Rdn. 37, juris sowie in Bezug auf die Ausweisung eines assoziationsberechtigten türkischen Staatsangehörigen: BVerwG, Urteile vom 10. Juli 2012 – 1 C 19.11 -, Rdn. 16, juris und vom 4. Oktober 2012 – 1 C 13/11 –, Rdn. 18, juris).

Die befürchteten, vom Kläger ausgehenden Gewalttaten, die die Beklagte zu der streitgegenständlichen Verlustfeststellung veranlasst hat, richten sich gegen die besonders schutzwürdigen Rechtsgüter des Lebens und der körperlichen Unversehrtheit und wiegen daher besonders schwer. Zudem werden islamistisch motivierte Gewalttaten erfahrungsgemäß häufig mit der Absicht oder zumindest unter Inkaufnahme einer Vielzahl von Opfern begangen, um durch die Gewaltanwendung und Drohung mit weiterer Gewalt größtmöglichen gesellschaftlichen und politischen Druck auszuüben, wie beispielsweise durch Sprengstoffanschläge oder den Einsatz von Schusswaffen. Die Kammer verkennt auch nicht, dass die befürchteten Taten häufig im öffentlichen Raum begangen werden und gegen (viele) beliebige Opfer in der Zivilgesellschaft gerichtet sind, so dass die Präventionsmöglichkeiten sehr begrenzt sind. Insbesondere bestehen kaum Möglichkeiten, in Betracht kommende Tatorte zu sichern oder eventuellen Opfern erhöhten Schutz zu bieten. An den Grad der Wahrscheinlichkeit der Begehung solcher Taten durch den Kläger sind daher äußerst geringe Anforderungen zu stellen.

Für die Annahme einer Wahrscheinlichkeit, der Kläger werde Gewalttaten begehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren, genügt indes - auch bei den hier in Rede stehenden schwer wiegenden Rechtsgutsverletzungen - nicht, dass lediglich der durch bestimmte Tatsachen begründete Verdacht für das Vorliegen einer Gefahr besteht (anders etwa beim Passversagungstatbestand in § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG, vgl. hierzu OVG NRW, Beschluss vom 16. April 2014 - 19 B 59/14 -, juris).

Denn § 6 Abs. 1 bis 3 FreizügG/EU setzt tatbestandlich nicht nur – wie etwa § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG – voraus, dass "bestimmte Tatsachen die Annahme begründen", dass eine Gefahr besteht. Erforderlich ist vielmehr, dass eine tatsächliche gegenwärtige Gefahr besteht. Dafür muss der gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO zur Überzeugung des Gerichts feststehende Sachverhalt mit hinreichender Wahrscheinlichkeit den Schadenseintritt erwarten lassen.

Daran fehlt es hier. Feststellungen dazu, dass der Kläger bislang im Bundesgebiet religiös motivierte Straftaten begangen hat, liegen nicht vor. Soweit im Zusammenhang mit seiner polizeilichen Überprüfung vor einer Demonstration am 4. Mai 2012 gegen den Kläger strafrechtliche Ermittlungen eingeleitet wurden, sind diese gemäß § 170 Abs. 2 StPO, das heißt also mangels hinreichenden Tatverdachts, eingestellt worden. Zu einer etwaigen Beteiligung des Klägers an gewalttätigen Ausschreitungen von Salafisten am 5. Mai 2012 in ... liegen keine polizeilichen Erkenntnisse vor, die über das in der Presse veröffentlichte Foto eines - womöglich den Kläger darstellenden - Demonstranten mit einer erhobenen Latte in den Händen hinausgeht. Aus dem Pressefoto kann, selbst wenn es den Kläger darstellen und in räumlicher und zeitlicher Nähe mit den Ausschreitungen vom 5. Mai 2012 aufgenommen worden sein sollte, nicht auf eine Beteiligung des Klägers an einer Gewalttat geschlossen werden. Zwar kann die Latte oder Stange, die die Person in der Hand hält, durchaus als Waffe eingesetzt werden; ob sie als solche verwendet wurde, lässt das Foto aber nicht erkennen. Das Pressefoto hat – soweit ersichtlich – auch weder für sich genommen noch im Zusammenhang mit anderen polizeilichen Erkenntnissen über Vorkommnisse am 5. Mai 2012 Anlass zu polizeilichen Maßnahmen oder strafrechtlichen Ermittlungen gegen den Kläger gegeben. Die vorangegangenen Straftaten, wegen derer der Kläger am 4. August 2011 und am 1. Dezember 2011 zu einem zweiwöchigen Jugendarrest, zu 100 Arbeitsstunden, zur Teilnahme an einem Anti-Aggressionstraining sowie zu einer zur Bewährung ausgesetzten Einheitsjugendstrafe von sechs Monaten verurteilt wurde, hatten keinerlei erkennbaren religiösen oder politischen Hintergrund. Diese Straftaten sind vielmehr dem Bereich der einfachen Kriminalität zuzuordnen. Sie lassen auch unter Berücksichtigung der Tatbegehung sowie der bedrohten Rechtsgüter keinen Rückschluss darauf zu, der Kläger werde in Zukunft Straftaten von erheblichem Gewicht verüben.

Ferner kann nach Würdigung aller Umstände des vorliegenden Einzelfalles auch nicht aus dem Verhalten des Klägers im Ausland auf eine hinreichende gegenwärtige Gefahr geschlossen werden, er werde Gewalttaten im Bundesgebiet begehen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berühren. Zwar hat der Kläger mit der auf seinem freien Entschluss beruhenden Beteiligung am bewaffneten Kampf der islamistischen Verbände im syrischen Bürgerkrieg ab Ende 2012 oder Anfang 2013 bis Juni oder Juli 2013 gezeigt, dass er nicht vor dem Einsatz von Waffengewalt zurückschreckte, um seine (damaligen) religiösen und politischen Ziele zu verwirklichen. Diesem Kampf räumte er den Vorrang ein vor seinen Bindungen zu seinen in Deutschland lebenden Familienangehörigen (insbesondere Mutter und Bruder). Auch sonstige Bindungen im Bundesgebiet hielten ihn nicht von seiner Reise in das Kriegsgebiet und dem Einsatz von Waffen ab. Vielmehr war sein privates Umfeld geprägt von Anhängern salafistischer Überzeugungen, von denen jedenfalls einige die Bereitschaft des Klägers, sich an islamistisch motivierten Kampfhandlungen im Ausland zu beteiligen, förderten. Konkrete schulische oder berufliche Bezüge hatte der Kläger bei seiner Ausreise in Richtung Syrien Anfang Oktober 2012 ohnehin nicht mehr, nachdem er im Herbst 2010 den Besuch der Gesamtschule abgebrochen hatte und der kurze Besuch einer Schulwerkstatt beim ...-Bildungswerk im Jahr 2011 damit endete, dass er wegen Regelverstößen dieser Bildungsmaßnahme verwiesen wurde.

Gleichwohl vermag das Gericht eine hinreichende gegenwärtige Gefahr der Begehung von Gewalttaten durch den Kläger im Bundesgebiet nicht festzustellen. Das Gericht hat die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger sich nachhaltig von seinem früheren islamistischen Weltbild und seiner früheren Bereitschaft zur Gewaltanwendung gelöst hat. Bereits bei seiner Anhörung durch den Haftrichter am 8. August 2013 gab der Kläger an, ihm sei in Syrien klar geworden, dass er so nicht weiter leben wolle, sondern in Deutschland einen Schulabschluss und eine Ausbildung machen wolle; mit Salafisten habe er nichts mehr zu tun. Auch seine Mutter schilderte im August 2013 gegenüber der Ausländerbehörde der Beklagten, dass der Kläger ihr erklärt habe, er wolle nichts mehr mit seinem früheren Umfeld zu tun haben und dass sein Verhalten nach ihrem Eindruck auch - im Gegensatz zu früher - keine islamistischen Einflüsse mehr erkennen lasse; sie wolle ihm daher eine letzte Chance geben. In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger detailliert und nachvollziehbar erläutert, mit welcher Überzeugung er nach Syrien reiste und sich dort an Kampfhandlungen beteiligte, aber auch wie und warum er sich entschieden hat, diesen Kampf nicht mehr unterstützen zu wollen. Die Schilderung des Klägers ließ keine Tendenzen erkennen, seine frühere Zugehörigkeit zu salafistischen, extremistischen und zum Teil auch jihadistischen Kreisen zu verharmlosen oder in einem milderen Licht erscheinen zu lassen. Er hat auf die an ihn gerichteten Fragen zu seinen damaligen Kontaktpersonen und deren Einfluss auf ihn bereitwillig Auskunft gegeben. Seine Angaben zu seinen Erlebnissen im Bürgerkrieg,

beginnend mit seinem Weg zu der islamistischen Kampfeinheit Ansar Al-Sham in Syrien, seiner militärischen Ausbildung und Ausstattung, seiner Einsatzorte und Aufgaben waren detailliert und widerspruchsfrei. Bei der Schilderung des Kerngeschehens, das ihn zum Umdenken veranlasst hat, war deutlich erkennbar, wie sehr ihn diese Erlebnisse emotional bewegt haben (und noch bewegen) mit der Folge, dass sich sein Blick auf das eigene Leben nachhaltig veränderte. Es liegen keine Anhaltspunkte dafür vor, dass der Kläger Geschehnisse geschildert haben könnte, die er nicht persönlich erfahren hat. Dies gilt auch für seine Angaben zu seinem Austritt aus dem islamistischen Kampfverband und seiner Rückkehr nach Europa.

Das Gericht geht aufgrund des festgestellten Sachverhalts davon aus, dass der Kläger für sich persönlich den Einsatz von Gewalt zur Durchsetzung religiöser Ziele mittlerweile ablehnt, und zwar auf der Grundlage eigener intensiver Erfahrungen. Dagegen spricht auch nicht, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung wörtlich äußerte: "Ich habe gedacht, dass mein Krieg zu Hause ist." Diese Äußerung ist nicht etwa dahingehend zu verstehen, dass er den jihadistischen Krieg in Deutschland fortsetzen wolle. Vielmehr wollte der Kläger erkennbar zum Ausdruck bringen, dass er alle seine Anstrengungen darauf setzen wolle, ein geregeltes und den Erwartungen seiner Mutter entsprechendes Leben in Deutschland zu führen. Dies wird deutlich durch den Zusammenhang, in dem er diese Äußerung tätigte: "Da habe ich direkt nachgedacht. Ich habe an meine Familie gedacht. Ich habe daran gedacht, dass das nicht mein Krieg ist und ich habe mich gefragt, warum ich mein Leben verschwenden soll. Ich habe gedacht, dass mein Krieg zu Hause ist. Ich habe an meine Mutter gedacht, was sie für mich getan hat und dass sie zufrieden mit mir sein soll."

Das Gericht verkennt nicht, dass die Angaben des Klägers und sein nach außen erkennbares Verhalten seit seiner Rückkehr aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Europa taktisch geprägt sein könnten, um durch Täuschung Sicherheitsbedenken der zuständigen Behörden zu zerstreuen und letztlich islamistische motivierte Gewalttaten in Deutschland begehen zu können.

Ein rein taktisches Verhalten kann dem Kläger aber nicht unterstellt werden, solange keine Tatsachen festzustellen sind, die Zweifel an seiner Darstellung begründen. So liegt der Fall hier. Insbesondere vermögen die Behördenzeugnisse und Stellungnahmen des Bundesamtes für Verfassungsschutz, des Landesamtes für Verfassungsschutz und des Polizeipräsidiums ... keine durchgreifenden Zweifel am Vorbringen des Klägers oder aus anderen Gründen eine hinreichende gegenwärtige Wahrscheinlichkeit der Begehung von Gewalttaten durch den Kläger in Deutschland zu begründen. Der Umstand, dass eine Verfassungsschutzbehörde eine bestimmte Gefahrenprognose anstellt, ist noch kein Indiz dafür, dass diese Gefahr tatsächlich besteht. Vielmehr unterliegt auch diese behördliche Gefahreneinschätzung in vollem Umfang der gerichtlichen Überprüfung (OVG NRW, Beschluss vom 16. April 2014 – 19 B 29/14 – Rdn. 15, m.w.N., juris).

Ein Behördenzeugnis einer Verfassungsschutzbehörde, mit der diese ihre eigene Gefahrenprognose sowie gegebenenfalls die ihr zugrunde liegenden Feststellungen ihrer Mitarbeiter oder Informanten wiedergibt, ist lediglich Erkenntnisquelle, also Beweismittel, nicht aber Indiztatsache (vgl. zur Gefahrenprognose im Rahmen des § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG: OVG NRW, Beschluss vom 16. April 2014 – 19 B 29/14 – Rdn. 15, m.w.N., juris).

Dem Vorbringen des Klägers widersprechende Tatsachen, wie etwa Erkenntnisse über fortbestehende Kontakte des Klägers zu islamistischen Kreisen, Verlautbarungen des Klägers mit islamistischem oder jihadistischem Inhalt oder entsprechend motivierte Handlungen des Klägers lassen sich den Behördenzeugnissen und Stellungnahmen der Verfassungsschutz- und Polizeibehörden nicht entnehmen. Das Polizeipräsidium ... hat sich in seiner letzten Stellungnahme vom 16. September 2013 auf die Mitteilung beschränkt, es gebe hinsichtlich der Gefährlichkeit des Klägers "keine gegenteiligen Informationen". Im Behördenzeugnis des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 9. Oktober 2013 wird zwar auf Informationen verwiesen, die darauf hindeuteten, dass der Kläger seinen zuletzt nach außen präsentierten westlichen Lebensstil nur vortäusche, um aus dem Fokus der Sicherheitsbehörden zu geraten und deshalb anzunehmen sei, dass er sich nach wie vor nicht von seiner jihadistischen Einstellung distanziert habe. Die Informationen, auf die diese Einschätzung gestützt wird, werden jedoch nicht benannt. Die jüngste Stellungnahme des Bundesamtes für Verfassungsschutz vom 31. Oktober 2014 beinhaltet ebenfalls keine aktuellen Tatsachenfeststellungen, auf die sich eine gegenwärtige hinreichende Gefährlichkeit des Klägers stützen ließe. Dass der Kläger im Mai 2014 Kontakt zu dem von Herrn ... geleiteten Moscheeverein in ... gehabt habe, wird lediglich aufgrund einer Äußerung der Mutter des Klägers, dieser halte sich eventuell in ... auf, vermutet. Das Gericht vermag nicht festzustellen, dass der vermutete Kontakt tatsächlich oder mit hinreichender Wahrscheinlichkeit stattgefunden hat. Selbst wenn der Kläger sich in ... aufhielt, lässt dies den von der Verfassungsschutzbehörde vorgenommenen Rückschluss nicht zu. Denn der Kläger verfügte und verfügt nach seinen unwidersprochenen und glaubhaften Angaben über enge und bereits seit Jahren bestehende Kontakte zu Personen, die in ... wohnen und in keinem erkennbaren Zusammenhang mit dem dortigen Moscheeverein standen oder stehen. Schließlich konnten auch den behördlichen Auskünften des Mitarbeiters des Landesamtes für Verfassungsschutz in der mündlichen Verhandlung keine Tatsachen entnommen werden, die dem Vorbringen des Klägers widersprechen oder sonst geeignet sind, eine von ihm gegenwärtig ausgehende Gefahr der Begehung von Gewalttaten in Deutschland zu begründen. Zwar gab der Behördenvertreter an, Maßnahmen des Verfassungsschutzes hätten zu der Erkenntnis geführt, dass der Kläger nach seiner Rückkehr aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Deutschland und vor seiner Abschiebung nach Polen am 22. August 2013 Anschluss zu den Kreisen gesucht habe, zu denen er auch vorher Anschluss gehabt habe, und zwar auch zu Vertretern salafistischer Strömungen. Ergänzend gab er hierzu an: Es könne sich um Kontakte zu Personen gehandelt haben, die selbst keine starken Akteure im Rahmen extremistischer salafistischer Bestrebungen sind, hiermit jedoch im Zusammenhang stehen. Fakten, die eine für sich sprechende Verbindung des Klägers zu starken Akteuren salafistischer Bestrebungen belegen, könne er nicht nennen. Die Gefahreneinschätzung in Bezug auf den Kläger beruhe auf Vorfällen im Zusammenhang mit Syrienrückkehrern, die man auch jeden Tag in der Zeitung lesen könne. Die Bewertung dieser Sachverhalte löse beim Landesamt für Verfassungsschutz die höchste Alarmstufe aus. Diese Angaben lassen insgesamt erkennen, dass die Gefahreneinschätzung der Landesverfassungsschutzbehörde geprägt ist durch generelle Erfahrungswerte in Bezug auf Syrienrückkehrer. Abgesehen davon, dass der Kläger zu den Syrienrückkehrern zählt, lassen die Ausführungen hingegen keine Erkenntnisse zur aktuellen persönlichen Situation des Klägers, auf die sich eine gegenwärtige Gefahreneinschätzung stützen ließe, entnehmen.

Auch im Übrigen lassen sich keine Tatsachen feststellen, aus denen sich eine tatsächliche und gegenwärtige, vom Kläger ausgehende Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft schließen lassen.

Ist nach alledem die Feststellung des Verlusts des Freizügigkeitsrechts des Klägers in Ziffer 1 des streitgegenständlichen Bescheides aufzuheben, entfällt auch das Einreise- und Aufenthaltsverbot für die Bundesrepublik Deutschland nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU, auf das Ziffer 2 des Bescheides verweist.

Der vom Kläger hilfsweise beantragten gerichtlichen Überprüfung der Befristung dieses Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 7 Abs. 2 Satz 1 FreizügG/EU mit Bescheid vom 5. November 2014 bedarf es nicht. Denn diese Befristung wird durch den Erfolg des Hauptantrages in Bezug auf die Ziffern 1 und 2 des streitgegenständlichen Bescheides vom 10. Juli 2013 gegenstandslos. [...]