VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 07.11.2014 - 5a K 421/14.A - asyl.net: M22683
https://www.asyl.net/rsdb/M22683
Leitsatz:

Nach der Auskunftslage geht das Gericht davon aus, dass afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Fahrer, Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiten, bedroht und angegriffen werden.

Zudem sind Afghanen, die mit dem internationalen Militär oder Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, proklamiertes Ziel der Taliban und immer wieder Opfer von Anschlägen.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Berufsgruppe, Fahrer, Dolmetscher, Afghanistan, Taliban, nichtstaatliche Verfolgung, ISAF, internationale Streitkräfte, Militär, Militärcamp,
Normen: AsylVfG § 3, AsylVfG § 3 Abs. 1, Aufenthg § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Ausgehend von diesen Grundsätzen steht dem Kläger im entscheidungserheblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach §§ 3 Abs. 1 und 4 AsylVfG zu. Das Vorbringen des Klägers hinsichtlich seiner individuellen Bedrohung ist insgesamt glaubhaft. Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner Tätigkeit in einem Militärcamp in L. in das Visier der Taliban geraten ist und von diesen bedroht wurde. Der Kläger konnte glaubhaft schildern, dass er für ein Unternehmen gearbeitet hat, das in einem Militärcamp in L. Bautätigkeiten durchführte. Er war dort ein einfacher Arbeiter, der vorwiegend elektrische Arbeiten durchführte. Dass er dort arbeitete, ist den Gruppierungen der Taliban sowohl in H., dem Wohnort seiner Tante, als auch in L. selbst bekannt geworden, was der Kläger spätestens erfahren hat, als seine Tante ihm telefonisch mitteilte, dass sein Onkel unter Druck gesetzt worden ist, um herauszufinden, wo sich der Kläger aufhält.

Der Vortrag des Klägers wird bekräftigt durch die Vorlage eines Ausweises, das neben einem Foto des Klägers die Namen der Unternehmen "..., Design Engineering Construction" sowie "... Engineering Co Ltd" aufweist. Nach den Erkenntnissen des Gerichts handelt es sich bei dem ersten Unternehmen um ein Bauunternehmen mit Sitz in den Vereinigten Staaten. Bei dem zweiten Unternehmen handelt es sich ebenfalls um ein Bauunternehmen, allerdings in afghanischer und britischer Trägerschaft. Die Abkürzung ... steht dabei für "... System Provider Construction". Es erscheint damit plausibel, dass der Kläger in der mündlichen Verhandlung auf Vorhalt des Gerichts zu dem auf dem Aufweis ersichtlichen Firmennamen in Abweichung zu dem von dem Kläger vorgetragenen Firmennamen erklärte, er habe die Firma, für die er gearbeitet habe, nur unter dem Namen ... gekannt. Auch im Übrigen liegen keine Anhaltspunkte vor, die die Echtheit des Ausweises in Zweifel ziehen.

Sofern das Bundesamt die Aussage des Klägers aufgrund teilweiser Widersprüche hinsichtlich der Schilderungen zu den Umständen, die zu der Ausweisung aus dem Iran geführt haben, insgesamt als unglaubhaft einschätzt, kann dem nicht gefolgt werden. Der Kläger vermochte in der mündlichen Verhandlung ein in sich schlüssiges Bild von den Geschehnissen nach seiner Rückkehr nach Afghanistan vermitteln, das sowohl mit den Angaben im Rahmen der Anhörung vor dem Bundesamt übereinstimmt, als auch im Übrigen nachvollziehbar und plausibel ist. Insbesondere war der Kläger in der Lage, auch auf Detailfragen wie etwa der Unterbringung während der Arbeit in L. oder den Kontaktmöglichkeiten zu seiner Tante schlüssig zu antworten.

Dass allein die Tätigkeit des Klägers für ein amerikanisches bzw. afghanisch/britisches Unternehmen in einem Militärcamp in L. geeignet ist, die Aufmerksamkeit der Taliban auf sich zu lenken, steht ebenfalls zur Überzeugung des Gerichts fest. Nach der Auskunftslage geht das Gericht davon aus, dass afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Fahrer, Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiten, bedroht und angegriffen werden. Zudem sind Afghanen, die mit dem internationalen Militär oder Nichtregierungsorganisationen zusammenarbeiten, proklamiertes Ziel der Taliban und immer wieder Opfer von Anschlägen (vgl. VG München, Urteil vom 19. März 2014 – M 16 K 13.30892 -, mit Verweis auf die UNHCR-Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs afghanischer Asylsuchender vom 6. August 2013 sowie den Bericht des European Asylum Support Office "Country of origin information report Afghanistan: insurgent strategies – intimidation and targeted violance against Afghans" von Dezember 2012; zitiert nach juris).

Dieser Einschätzung steht nicht entgegen, dass dem Kläger aufgrund seiner Tätigkeit in L. tatsächlich noch nichts zugestoßen ist. Soweit der Kläger im Rahmen der Anhörung vorträgt, er sei in H. auf dem Weg zum Basar von den Taliban bedroht worden, ist dies nach seiner eigenen Aussage nicht auf seine Beschäftigung in L. sondern allein auf seine auffällige westliche Kleidung zurückzuführen. Allerdings konnte der Kläger glaubhaft schildern, dass die Taliban bereits seinen Onkel bedroht haben, um herauszufinden, wo sich der Kläger aufhält. Demnach haben die Taliban diesem gegenüber gedroht, man werde den Kläger finden und ihn töten. Dass der Kläger nach seiner Rückkehr aus H. noch 15 Monate in L. bis zu seiner Ausreise in den Iran gelebt hat, ohne dass ihm etwas zugestoßen ist, ist allein darauf zurückzuführen, dass sich der Kläger dauerhaft innerhalb des Militärcamps aufgehalten hat und damit vor Übergriffen sicher war.

Die Bedrohung durch die Taliban ist auch dem afghanischen Staat zuzurechnen, da dieser Staat nach den in das Verfahren eingeführten Erkenntnissen selbst in Kabul, wo der afghanische Staat Gebietsgewalt hat, nicht in der Lage ist, seine Bevölkerung vor Angehörigen dieser Organisation zu schützen.

Die dem Kläger aufgrund der dargelegten Vorverfolgung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EG zugutekommende tatsächliche Vermutung für eine erneute Verfolgung im Falle der Rückkehr kann nicht widerlegt werden. Ist der Kläger in dieser Gestalt in das Visier der Taliban geraten, kommt eine Rückkehr nach Afghanistan nicht in Betracht, da auch bei einer Rückkehr des Klägers eine erneute Verfolgung in beachtlicher Weise wahrscheinlich ist. Der Umstand, dass der Kläger schon vor seiner Ausreise in das Visier der Taliban geraten ist, führt dazu, dass der Kläger bei seiner Rückkehr alsbald wiedererkannt werden würde. Das durch seine Flucht entstandene Misstrauen der Taliban dem Kläger gegenüber wird sich durch seinen Aufenthalt in der Bundesrepublik weiter verfestigt haben. Das hat zur Folge, dass der Kläger aufgrund der der Taliban eigenen Brutalität bei einer Rückkehr nach Afghanistan akuter Lebensgefahr im ganzen Land ausgesetzt wäre (vgl. zu einer solchen Gefährdung selbst in Kabul auch: Dr. M. Danesch, Auskunft an den Hess. Verwaltungsgerichtshof vom 3. September 2013 zum Az: 8 A 1197/12.A). [...]