VG Darmstadt

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Zitieren als:
VG Darmstadt, Urteil vom 20.02.2015 - 4 K 512/13.DA.A - asyl.net: M22687
https://www.asyl.net/rsdb/M22687
Leitsatz:

Eine spezialisierte psychiatrische Behandlung für Kinder steht in Algerien im staatlichen Gesundheitswesen nur auf niedrigem Niveau zur Verfügung. Eine Behandlung in privaten Praxen oder Kliniken ist für algerische Familien in der Regel - wenn sie überhaupt erreichbar ist - zu teuer.

Schlagwörter: Algerien, medizinische Versorgung, psychische Erkrankung, minderjährig, Kind, nichteheliches Kind, erhebliche individuelle Gefahr,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

Unter Berücksichtigung der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnisquellen, vor allem auch der amtlichen Auskunft des Auswärtigen Amts vom 24. Oktober 2014, stellen sich für das Gericht die pädiatrisch-psychotherapeutischen Therapiechancen für die Kläger in Algerien wie folgt dar:

Auszugehen ist von der Tatsache, dass die medizinische Grundversorgung für die Bürger in Algerien lediglich auf einem niedrigen Niveau sichergestellt ist und folglich auftretende chronische Krankheiten und psychische Erkrankungen in staatlichen medizinischen Einrichtungen behandelt werden können (vgl. Lagebericht Algerien des Auswärtigen Amts vom 31. Januar 2013). Konkretisierend und bezogen auf die Situation der Kläger besteht nach der Auskunft des Auswärtigen Amts vom 24. Oktober 2014, die die Einschätzung des in Kairo stationierten Reglonalarztes des Auswärtigen Dienstes wiedergibt, in Algerien "natürlich" keine pädiatrische psychotherapeutische Betreuung wie In Deutschland, schon gar nicht "eine deutsche logopädische Behandlungsmöglichkeit". In Algerien würde die Behandlung der Kläger auf den privat zu zahlenden Besuch eines pädiatrisch versierten Psychologen, den es dort gebe, hinauslaufen. Diese allgemeine Aussage einschränkend, teilt das Auswärtigen Amt am Ende mit, dass es für die Kläger von Nachteil sei, wenn sie überwiegend Deutsch sprächen. Der algerische Staat, so die Auskunft abschließend, habe nicht die fürsorglichen Möglichkeiten wie der deutsche.

Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation ist die Behandlung psychischer Erkrankungen Bestandteil der medizinischen Grundversorgung in Algerien, wo es auf Gemeindeebene keine Einrichtung für Patienten mit psychischen Erkrankungen gebe. Im Jahr 2004 habe es zehn auf psychiatrische Erkrankungen spezialisierte Krankenhäuser sowie zahlreiche sogenannte intermediäre Zentren für psychische Gesundheit gegeben, in denen psychisch Kranke aufgenommen worden seien. Dem algerischen Gesundheitsministerium sei bekannt, dass die Qualität der Behandlung dieser Erkrankungen durch zahlreiche Mängel gefährdet sei. Mitursächlich für diese Zustände sei die geringe Zahl an Psychiatern in Algerien sowie der Mangel an Mitteln in den spezialisierten Zentren und in den Gesundheitssektoren (vgl. ACCORD Anfragebeantwortung vom 28. August 2007 "Krankenversicherung; kostenlose medizinische Grundversorgung; medizinische Versorgung von psychisch Kranken, ACC-DZA-5597").

In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass das algerische Gesundheitswesen in den vergangenen Jahren konstant an Qualität verloren hat und - trotz beinahe flächendeckender Infrastruktur - die personelle und materielle Ausstattung insgesamt nicht ausreiche. Für algerische Familien ist die Versorgung in privaten Kliniken zu teuer. Nach einer amerikanischen Studie litten zehn bis zwölf Prozent der algerischen Bevölkerung an psychischen Störungen (Bericht "Daten und Fakten Algerien" von Desarrollo humano sin fronteras; www.dhsf.es/de).

Aus all diesen Informationen ist für das Gericht nicht ansatzweise erkennbar, dass die Kläger zur Verhinderung von Gefahren für Leib und Leben nach ihrer Rückkehr in Algerien die hierfür erforderliche psychiatrische Betreuung einschließlich der erforderlichen Therapiemaßnahmen erlangen könnten. Abgesehen von den - eher vereinzelt aufzufindenden - allgemeinen Aussagen über die psychiatrische Versorgung in Algerien sind hieraus - und auch aus der Stellungnahme des Regionalarztes des Auswärtigen Dienstes - keine Informationen über die Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit einer für ihr Alter erforderlichen speziellen psychiatrischen Betreuung und Therapie abzuleiten. Aufgrund dieser Informationen teilt das Gericht die fachärztliche Bewertung, wie sie insbesondere in der Stellungnahme von Herrn Dr. … vom Dezember 2013 niedergelegt ist.

Unabhängig davon fehlen den Klägern aber nach allem Anschein die finanziellen Mittel, die sie in Algerien aufwenden müssten, um eine psychiatrische Betreuung in dem zur Abwehr der genannten Gefahren erforderlichen Umfang bei pädiatrisch versierten Psychologen - wenn es sie denn dort für die Kläger erreichbar gibt - zu erlangen.

Weitere erhebliche Nachteile würden sich für die Kläger bei Rückkehr in ihr Heimatland im Zusammenhang mit der auch nur annäherungsweise Fortsetzung der in Deutschland langjährig durchgeführten Therapie daraus ergeben, dass sie überwiegend Deutsch sprechen und sie demzufolge selbst dann, wenn die beschriebenen Hürden überwunden werden könnten, für die pädiatrisch-psychologische Therapie in Algerien überhaupt nicht erreichbar wären. Schließlich würde sich auch die In der algerischen Gesellschaft vorhandene Stigmatisierung nicht ehelicher Kinder wie der Kläger negativ auf sie und demzufolge auch auf ihre Therapie auswirken. [...]