VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 04.02.2015 - 17 K 233/10 - asyl.net: M22701
https://www.asyl.net/rsdb/M22701
Leitsatz:

1. § 114 Satz 2 VwGO lässt nach seinem Wortlaut sowie nach Sinn und Zweck der Norm die erstmalige Ermessensausübung im Rechtsstreit um eine Ausweisung nicht zu, wenn die Behörde bereits im Verwaltungsverfahren Ermessen hätte ausüben müssen.

2. Bei Verwirklichung eines qualifizierteren Ausweisungstatbestands erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens ist die Anwendung der diesem Ausweisungstatbestand zu Grunde liegenden Rechtsgrundlage im nachfolgenden Rechtsstreit jedenfalls dann ausgeschlossen, wenn sich die Ausländerbehörde nicht auf die Verwirklichung dieses qualifizierteren Ausweisungstatbestands stützt.

(Amtliche Leitsätz)

Schlagwörter: Ermessen, Ausweisung, Ermessensausweisung, Ausweisungsgrund, Achtung des Privatlebens, Einzelfall, Einzelfallwürdigung, erstmalige Ermessensausübung, Verwaltungsverfahren, Ermessensausfall, Beurteilungszeitpunkt, maßgeblicher Zeitpunkt,
Normen: VwGO § 114 S. 2, AufenthG § 54 Nr. 1, EMRK Art. 8,
Auszüge:

[...]

1. Rechtsgrundlage der Ausweisung ist § 54 Nr. 1 AufenthG.

Danach wird ein Ausländer in der Regel ausgewiesen, wenn er wegen einer oder mehrerer vorsätzlicher Straftaten rechtskräftig zu einer Freiheitsstrafe verurteilt und die Vollstreckung der Strafe nicht zur Bewährung ausgesetzt worden ist.

a) Zwar liegen einfachgesetzlich die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage vor, weil das Amtsgericht Lübeck den Kläger am 31. August 2007 (AG Lübeck, Urt. v. 31.8.2007, 710 Js 46751/06, 62 Ds (215/07), Bl. 43 ff. der elektronischen Ausländerakten der Beklagten) und 2. April 2008 (AG Lübeck, Urt. v. 2.4.2008, 710 Js 53462/07, 61 Ds (22/08), Bl. 53 ff. der elektronischen Ausländerakten der Beklagten) wegen Diebstahls rechtskräftig zu Freiheitsstrafen verurteilt hat, ohne die Vollstreckung zur Bewährung auszusetzen.

b) Die Ausweisung des Klägers ist jedoch rechtswidrig, weil die Beklagte das ihr auf der Rechtsfolgenseite des § 54 Nr. 1 AufenthG eröffnete Ermessen (hierzu unter aa)) nicht ausgeübt hat (hierzu unter bb)). Der Beklagten war auch nicht Gelegenheit zu geben, erstmals im Prozess Ermessen auszuüben (hierzu unter cc)). aa) Die Beklagte hatte Ermessen auszuüben.

(1) Die Formulierung "in der Regel" bezieht sich im System der Ausweisungstatbestände im Allgemeinen und in § 54 Nr. 1 AufenthG im Besonderen nach ständiger Rechtsprechung auf Regelfälle, die sich nicht durch besondere Umstände von der Menge gleich liegender Fälle unterscheiden. Liegt ein solcher Regelfall vor, ist der Ausländerbehörde ein Ermessen nicht eröffnet.

Bei Vorliegen eines Ausnahmefalls hat die Ausländerbehörde hingegen eine Ermessensentscheidung zu treffen. Ausnahmefälle sind dabei nach überkommener Rechtsprechung durch atypische Umstände gekennzeichnet, die so bedeutsam sind, dass sie das sonst ausschlaggebende Gewicht der gesetzlichen Regelung beseitigen. Bei der Prüfung, ob ein Ausnahmefall vorliegt, sind alle Umstände einer eventuellen strafgerichtlichen Verurteilung zu berücksichtigen, die in § 55 Abs. 3 AufenthG nicht abschließend genannt werden (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10/07, juris, Rn. 23 m.w.N.). So liegt es hier nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, welcher die Kammer folgt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat den Begriff des Ausnahmefalls weiter gefasst, um der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte und des Bundesverfassungsgerichts Rechnung zu tragen, in der die Bedeutung des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK im Rahmen der Prüfung der Verhältnismäßigkeit einer Ausweisung erkennbar gewachsen ist. Ein Ausnahmefall von der Regelausweisung – und damit die Notwendigkeit einer behördlichen Ermessensentscheidung – liegt danach bereits dann vor, wenn durch höherrangiges Recht oder Vorschriften der Europäischen Menschenrechtskonvention geschützte Belange des Ausländers eine Einzelfallwürdigung unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Falles gebieten (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10/07, juris, Rn. 24).

(a) Dies findet seine Rechtfertigung vor allem darin, dass andernfalls von Art. 6 GG und Art. 2 Abs. 1 GG sowie Art. 8 EMRK geschützte Belange, die von § 56 Abs. 1 AufenthG nicht vollständig erfasst werden, im Verwaltungsvollzug schematisierend ausgeblendet zu werden drohen. Die Ermessensentscheidung als der dritte vom Gesetzgeber bei Ausweisungen vorgesehene Entscheidungsmodus bietet in der Verwaltungspraxis höhere Gewähr für eine Berücksichtigung aller Aspekte des Einzelfalles und deren angemessene Gewichtung als der schematische Blick auf die Ist- oder Regelausweisung (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10/07, juris, Rn. 25).

(b) Bei Vorliegen eines Ausnahmefalls ist die dann zu treffende Ermessensentscheidung über die Ausweisung nicht negativ präjudiziert. Den Ausweisungsgründen fehlt dann nur das von vornherein ausschlaggebende Gewicht, das ihnen der Gesetzgeber im Regelfall zugemessen hat. Diese sind mit dem Gewicht, das im gestuften System der Ausweisungstatbestände zum Ausdruck kommt, in die Ermessensentscheidung einzubeziehen.

Sofern der Ausweisung nicht höherrangiges Recht entgegensteht und damit das Ermessen ohnehin auf null reduziert ist, erlangt die Ausländerbehörde durch den Übergang in die Ermessensentscheidung lediglich mehr Flexibilität, um den besonderen Umständen des konkreten Falles ausreichend Rechnung zu tragen. Im Zweifel ist einer Behörde anzuraten, von einem Ausnahmefall auszugehen oder zumindest hilfsweise nach Ermessen zu entscheiden. Diese Vorgehensweise macht eine Ausweisungsverfügung nicht rechtsfehlerhaft, auch wenn die spätere Prüfung ergeben sollte, dass ein Regelfall vorlag (BVerwG, Urt. v. 23.10.2007, 1 C 10/07, juris, Rn. 27).

(2) Nach diesen Vorgaben lag ein – die Notwendigkeit einer Ermessensentscheidung begründender – Ausnahmefall vor, weil aufgrund des Rechts des Klägers auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 EMRK eine Einzelfallwürdigung vorzunehmen war.

(a) Der Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 EMRK war eröffnet.

Danach hat jede Person das Recht auf Achtung ihres Privatlebens. Dieses umfasst die Summe der persönlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für die Persönlichkeit eines jeden Menschen konstitutiv sind (EGMR, Urt. v. 9.10.2003, 48321/99, Slivenko, Rn. 96, deutsche nicht amtliche Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 2006, 560 ff.) und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (BVerfG, Beschl. v. 21.2.2011, 2 BvR 1392/10, juris, Rn. 19).

Der 39-jährige Kläger verfügt – und verfügte im Zeitpunkt der angefochtenen Entscheidungen – über für die Eröffnung des Schutzbereichs des Rechts auf Achtung des Privatlebens hinreichende persönliche Beziehungen in Deutschland. Zu berücksichtigen sind trotz des jahrelang unterbliebenen Kontakts die Vaterschaft zu den beiden Kindern deutscher Staatsangehörigkeit, der Kontakt zu den weiteren in Schwerin lebenden Familienangehörigen (Mutter und Brüder), die guten deutschen Sprachkenntnisse sowie der langjährige Aufenthalt im Bundesgebiet. Der Kläger hält sich bereits seit dem 26. September 1995 in Deutschland auf, bis zu seiner Ausweisung überwiegend rechtmäßig. Zunächst waren ihm zur Durchführung des Asylverfahrens Aufenthaltsgestattungen ausgestellt worden, vom 10. März 1999 bis zum 28. August 2005 war er im Besitz einer Aufenthaltserlaubnis aus familiären Gründen. Anschließend wurden ihm, letztmalig bis zum 31. Januar 2009, Fiktionsbescheinigungen erteilt. Seither wird sein Aufenthalt geduldet.

Die mangelnde wirtschaftliche Integration und der Umstand, dass der Kläger sich im Wesentlichen im Zusammenhang mit seiner Suchterkrankung in ganz erheblichem Umfang strafbar gemacht hat, stehen der Eröffnung des Schutzbereichs nicht entgegen, sondern sind bei der Prüfung der Rechtfertigung des Eingriffs zu berücksichtigen.

(b) Die Ausweisung greift in das Recht des Klägers auf Achtung des Privatlebens ein, weil durch sie sein weiterer Aufenthalt im Bundesgebiet untersagt wird.

(c) Die Rechtfertigung des Eingriffs erforderte eine Einzelfallwürdigung.

Eine Behörde darf in die Ausübung des Rechts auf Achtung des Privatlebens gemäß Art. 8 Abs. 2 EMRK nur eingreifen, soweit der Eingriff gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist für die nationale oder öffentliche Sicherheit, für das wirtschaftliche Wohl des Landes, zur Aufrechterhaltung der Ordnung, zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer. Die Prüfung, ob der Eingriff in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, schließt eine Verhältnismäßigkeitsprüfung ein, in der die Umstände des jeweiligen Einzelfalls maßgebend sind (vgl. EGMR, Urt. v. 9.10.2003, 48321/99, Slivenko, Rn. 117 ff., deutsche nicht amtliche Übersetzung abgedruckt in EuGRZ 2006, 560 ff.; EGMR Urt. v. 22.3.2007, 1638/03, Maslov, Rn. 33, deutsche nicht amtliche Übersetzung abgedruckt in InfAuslR 2007, 221 ff.).

bb) Diesen Anforderungen werden die angegriffenen Bescheide nicht gerecht. Die Beklagte hat weder in der Ausweisungsverfügung vom 31. Juli 2009 noch im Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 2010 Ermessen ausgeübt.

Ausdrückliche Ermessenserwägungen finden sich in den angefochtenen Entscheidungen nicht. Auch konkludent hat die Beklagte Ermessen nicht ausgeübt. In der Ausweisungsverfügung vom 31. Juli 2009 hat die Beklagte zwar umfangreich Ausführungen dazu gemacht, dass und warum die Ausweisung mit Art. 6 GG sowie Art. 8 EMRK im Einklang stehe und aus welchen spezial- und generalpräventiven Gründen sie erforderlich sei. Diese Ausführungen sind nach dem analog §§ 133, 157 BGB maßgeblichen objektiven Empfängerhorizont jedoch nicht als Ermessenserwägungen zu verstehen, da die Beklagte in der Verfügung selbst ausdrücklich ausgeführt hat, ihr sei "kein eigentlicher Ermessensspielraum eingeräumt" und die Regelausweisung gemäß § 54 Nr. 1 AufenthG sei "unumgänglich" (S. 5 und 7 der Verfügung vom 31. Juli 2009, Bl. 12 und 14 d. A.).

Im Widerspruchsbescheid vom 11. Januar 2010 hat sich die Beklagte begründend ausschließlich auf die Verfügung vom 31. Juli 2009 bezogen, ohne Ermessen auszuüben.

cc) Der Beklagten war nicht Gelegenheit zu geben, zur Behebung des Ermessensausfalls erstmals im Prozess ihr Ermessen zu betätigen.

(1) Nach § 114 Satz 2 VwGO kann die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen hinsichtlich des Verwaltungsaktes auch noch im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ergänzen. Nach ständiger Rechtsprechung schafft diese Vorschrift lediglich die prozessualen Voraussetzungen dafür, dass die Behörde an vorhandenen aber defizitären Ermessenserwägungen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren anknüpfen kann, nicht hingegen dafür, Ermessen nachträglich erstmals auszuüben (s. nur BVerwG, Urt. v. 5.9.2006, 1 C 20/05, juris, Rn. 22).

Etwas anderes gilt im Rechtsstreit um die Ausweisung eines Ausländers zwar ausnahmsweise dann, wenn sich aufgrund neuer Umstände die Notwendigkeit einer Ermessensausübung erst nach Klagerhebung ergibt (BVerwG, Urt. v. 13.12.2011, 1 C 14/10, juris, Rn. 8 ff.). Ein solcher Ausnahmefall liegt indes nicht vor.

Hier hätte es von vornherein einer Ermessensentscheidung bedurft. Hat die Ausländerbehörde dies, wie vorliegend der Fall, verkannt, bleibt es nach Auffassung der Kammer dabei, dass § 114 Satz 2 VwGO nach seinem Wortlaut und nach Sinn und Zweck der Norm die erstmalige Ermessensausübung im Prozess nicht zulässt (ebenso: OVG Münster, Urt. v. 22.3.2012, 18 A 2388/10, juris, Rn. 71; Discher, in: GK-AufenthG, August 2011, Vor §§ 53 ff., Rn. 1703; Armbruster, in: HTK-AuslR / Rechtsschutz / 2.3.1 01/2014 Nr. 6.2; ausdrücklich offen gelassen: BVerwG, Urt. v. 13.12.2011, 1 C 14/10, juris, Rn. 13). § 114 Satz 2 VwGO, der seinem klaren Wortlaut nach lediglich die Ergänzung von Ermessenserwägungen zulässt, setzt voraus, dass im Verwaltungsverfahren Ermessen ausgeübt worden ist, das ergänzt werden könnte. Diese an den Wortlaut anknüpfende Auslegung findet ihre Bestätigung im Sinn und Zweck der Beschränkung auf die Ergänzung von Ermessenserwägungen, der darin liegt, die Heilbarkeit von Ermessensverwaltungsakten zu verhindern, die bereits bei ihrem Erlass wegen Ausfalls jeglichen Ermessens grob defizitär sind, und dadurch die Behörde zu einer sorgfältigen Ermessensausübung anzuhalten (BVerwG, Urt. v. 13.12.2011, 1 C 14/10, juris, Rn. 11). In einer Konstellation wie der vorliegenden ist die Abweichung von diesen in ständiger Rechtsprechung entwickelten Grundsätzen zum Verständnis des § 114 Satz 2 VwGO nicht gerechtfertigt, weil der Behörde die unterbliebene Ermessensauübung im Verwaltungsverfahren vorwerfbar ist.

(2) Nach diesem Maßstab hätte die Beklagte nicht erstmals im vorliegenden Prozess Ermessen ausüben können, da die Notwendigkeit der Ermessensausübung sich, wie bereits ausgeführt, nicht erst nachträglich nach Klagerhebung ergeben hat, sondern bereits im Zeitpunkt des Erlasses der angefochtenen Entscheidungen bestand.

2. Eine andere rechtliche Bewertung ergibt sich auch nicht aus der Erwägung, dass der Kläger zum grundsätzlich maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einfachgesetzlich die Voraussetzungen für eine zwingende Ausweisung nach § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG erfüllt.

Danach wird ein Ausländer ausgewiesen, wenn er wegen vorsätzlicher Straftaten innerhalb von fünf Jahren zu mehreren Freiheitsstrafen von zusammen mindestens drei Jahren rechtskräftig verurteilt worden ist.

a) Zwar lägen einfachgesetzlich die tatbestandlichen Voraussetzungen dieser Rechtsgrundlage bei Einbeziehung der Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten im Urteil des Amtsgerichts Hamburg vom 7. Dezember 2010 (Bl. 136 ff. der elektronischen Ausländerakten der Beklagten) vor.

b) Der Anwendung des § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG im vorliegenden Verfahren steht jedoch entgegen, dass der Kläger diesen Ausweisungstatbestand erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens verwirklicht und die Beklagte sich hierauf nicht gestützt hat.

aa) Es kann dahinstehen, ob trotz der zu Grunde zu legenden Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, 1 C 45/06, juris, Rn. 14) bei Verwirklichung eines qualifizierteren Ausweisungstatbestands erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens die Anwendung der diesem Ausweisungstatbestand zu Grunde liegenden Rechtsgrundlage im nachfolgenden Verwaltungsgerichtsprozess stets ausgeschlossen ist.

Hierfür spricht allerdings, dass die Ausländerbehörde mit der Ausweisungsverfügung den Gegenstand der Ausweisung und, auch wenn das Gericht an die rechtliche Einordnung nicht gebunden ist, durch Anknüpfung an ein bestimmtes Verhalten des Ausländers in tatsächlicher Hinsicht die Zuordnung zu einem Tatbestand der zwingenden Ausweisung (§ 53 AufenthG), der Ausweisung im Regelfall (§ 54 AufenthG) oder der Ermessensausweisung (§ 55 AufenthG) bestimmt. Bei Anwendung einer für den Ausländer ungünstigeren Rechtsgrundlage aufgrund eines erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens verwirklichten qualifizierteren Ausweisungstatbestands würde die angefochtene Ausweisungsverfügung ihrem Wesen nach geändert, weil ein grundlegend anderes Prüfprogramm durchzuführen wäre. Das Ausweisungsrecht sieht im System der abgestuften Rechtsfolgen zudem nur eine Rechtsfolgenverschiebung zu Gunsten des Ausländers (§ 56 Abs. 1 Satz 4 und Satz 5 AufenthG), nicht aber zu dessen Lasten vor.

bb) Jedenfalls sieht sich das Gericht daran gehindert, § 53 Nr. 1 Alt. 2 AufenthG im vorliegenden Fall als Rechtsgrundlage der Ausweisung heranzuziehen, weil die Beklagte sich nicht auf die durch das Amtsgericht Hamburg am 7. Dezember 2010 erfolgte Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren und drei Monaten gestützt hat.

Infolge der Verlagerung des zu Grunde zu legenden Zeitpunkts der Sach- und Rechtslage für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung von der letzten Behördenentscheidung zur letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung des Tatsachengerichts trifft die Ausländerbehörden in allen Ausweisungsverfahren die Pflicht zur ständigen verfahrensbegleitenden Kontrolle der Rechtmäßigkeit ihrer Verfügung (BVerwG, Urt. v. 15.11.2007, 1 C 45/06, juris, Rn. 20; BVerwG, Urt. v. 3.8.2004, 1 C 30/02, juris, Rn. 30). Es wäre mit dem Grundsatz der Gewaltenteilung und dem den Gerichten obliegenden Auftrag zur Rechtsschutzgewährung nicht zu vereinbaren, wenn anstelle der Behörde das erkennende Gericht die Anwendung einer für den Ausländer ungünstigeren Rechtsgrundlage auf die erst nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens erfolgte Verwirklichung eines qualifizierteren Ausweisungstatbestands stützen würde. [...]