VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 14.01.2015 - 17 K 1758/14 (= ASYLMAGAZIN 5/2015, S. 166 f.) - asyl.net: M22703
https://www.asyl.net/rsdb/M22703
Leitsatz:

§ 59 AufenthG und § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG sind unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (Rückführungsrichtlinie) richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass der Erlass einer Abschiebungsandrohung im Falle eines ausreisepflichtigen Ausländers, der in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einreisen und sich dort aufhalten darf, abgesehen von den Fällen, in denen die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, erst dann zulässig ist, wenn dieser erfolglos aufgefordert worden ist, sich unverzüglich in den anderen Mitgliedstaat zu begeben.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Rückführungsrichtlinie, Unionsrecht, Abschiebungsandrohung, Rückkehrentscheidung, Aufenthaltstitel für einen anderen Mitgliedstaat der EU, spanischer Aufenthaltstitel, Permiso de Residencia, unerlaubter Aufenthalt, Drittstaatsangehörige,
Normen: RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 1, RL 2008/115/EG Art. 6 Abs. 2, AufenthG 59, AufenthG § 50 Abs. 3,
Auszüge:

[...]

aa) Die Abschiebung ist nach § 59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG anzudrohen, grundsätzlich unter Bestimmung einer angemessenen Frist zwischen sieben und 30 Tagen für die freiwillige Ausreise. In der Androhung soll nach § 59 Abs. 2 AufenthG der Staat bezeichnet werden, in den der Ausländer abgeschoben werden soll, und der Ausländer darauf hingewiesen werden, dass er auch in einen anderen Staat abgeschoben werden kann, in den er einreisen darf, oder der zu seiner Übernahme verpflichtet ist.

Durch die Einreise in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einen anderen Schengen-Staat genügt der Ausländer seiner Ausreisepflicht gemäß § 50 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nur, wenn ihm Einreise und Aufenthalt dort erlaubt sind. Liegen diese Voraussetzungen vor, ist der ausreisepflichtige Ausländer nach § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG aufzufordern, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses Staates zu begeben.

bb) § 59 AufenthG und § 50 Abs. 3 Satz 2 AufenthG sind unter Berücksichtigung von Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 über gemeinsame Normen und Verfahren in den Mitgliedstaaten zur Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger (im Folgenden: Rückführungsrichtlinie) richtlinienkonform dahingehend auszulegen, dass der Erlass einer Abschiebungsandrohung im Falle eines ausreisepflichtigen Ausländers, der in einen anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einreisen und sich dort aufhalten darf, abgesehen von den Fällen, in denen die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, erst dann zulässig ist, wenn dieser erfolglos aufgefordert worden ist, sich unverzüglich in den anderen Mitgliedstaat zu begeben (VG Hamburg, Beschl. v. 6.6.2014, 17 E 1476/14, rechtskräftig, n. v.; VG Berlin, Beschl. v. 30.1.2014, 19 L 395/13, juris, Rn. 17 ff.; VG Düsseldorf, Beschl. v. 18.12.2013, 8 L 1881/13, juris, Rn. 9 ff.).

(1) Die Rückführungsrichtlinie, die nach ihrem Art. 1 gemeinsame Normen und Verfahren enthält, die in den Mitgliedstaaten bei der Rückführung illegal aufhältiger Drittstaatsangehöriger im Einklang mit den Grundrechten einschließlich der Verpflichtung zum Schutz von Flüchtlingen und zur Achtung der Menschenrechte anzuwenden sind, findet nach ihrem Art. 2 Abs. 1 auf illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhältige Drittstaatsangehörige Anwendung. Illegaler Aufenthalt ist nach Art. 3 Nr. 2 der Rückführungsrichtlinie die Anwesenheit von Drittstaatsangehörigen, die nicht oder nicht mehr die Einreisevoraussetzungen nach Art. 5 des Schengener Grenzkodex oder andere Voraussetzungen für die Einreise in einen Mitgliedstaat oder den dortigen Aufenthalt erfüllen, im Hoheitsgebiets dieses Mitgliedstaats.

(2) Die Mitgliedstaaten erlassen nach Art. 6 Abs. 1 der Rückführungsrichtlinie unbeschadet der Ausnahmen nach den Absätzen 2 bis 5 gegen alle illegal in ihrem Hoheitsgebiet aufhältigen Drittstaatsangehörigen eine Rückkehrentscheidung.

(a) Unter einer Rückkehrentscheidung ist nach Art. 3 Nr. 4 der Rückführungsrichtlinie die behördliche oder richterliche Entscheidung oder Maßnahme zu verstehen, mit der der illegale Aufenthalt von Drittstaatsangehörigen festgestellt und eine Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt wird. Darunter fällt auch die Abschiebungsandrohung nach deutschem Recht, obwohl damit nicht im eigentlichen Sinne ein illegaler Aufenthalt "festgestellt" und eine "Rückkehrverpflichtung auferlegt oder festgestellt" wird, sondern das Bestehen der gesetzlichen Ausreiseverpflichtung Erlassvoraussetzung ist (Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, März 2014, § 59 AufenthG, Rn. 270; Hailbronner, AuslR, 76. EL März 2012, § 59 AufenthG, Rn. 2a; s. auch BT-Drs. 17/5470, S. 24).

(b) Nach Art. 6 Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie sind Drittstaatsangehörige, die sich illegal im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats aufhalten und Inhaber eines gültigen Aufenthaltstitels oder einer sonstigen Aufenthaltsberechtigung eines anderen Mitgliedstaats sind, zu verpflichten, sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet dieses anderen Mitgliedstaats zu begeben. Kommen die betreffenden Drittstaatsangehörigen dieser Verpflichtung nicht nach, oder ist die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten, so findet Absatz 1 Anwendung.

(3) Aus dieser abgestuften Regelung in Art. 6 Abs. 1 und Abs. 2 der Rückführungsrichtlinie folgt, dass eine Rückkehrentscheidung in Gestalt einer Abschiebungsandrohung, abgesehen von den Fällen, in denen die sofortige Ausreise des Drittstaatsangehörigen aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten ist, erst dann zu treffen ist, wenn der betreffende Drittstaatsangehörige der ihm auferlegten Verpflichtung – bzw. nach der Terminologie des Aufenthaltsgesetzes der Aufforderung – , sich unverzüglich in das Hoheitsgebiet des anderen Mitgliedstaats zu begeben, nicht nachgekommen ist. Dies steht im Einklang mit dem der Rückführungsrichtlinie nach ihrem 10. Erwägungsgrund insgesamt zu Grunde liegenden Grundsatz, dass die freiwillige Ausreise der Abschiebung soweit irgend möglich vorzugehen hat bzw. vorzuziehen ist (s. hierzu Funke-Kaiser, in: GK-AufenthG, März 2014, § 59 AufenthG, Rn. 295).

b) Diesen Anforderungen werden die Abschiebungsandrohungen nicht gerecht.

Der Aufenthalt der Klägerin war und ist illegal im Sinne der Rückführungsrichtlinie, weil die Beklagte die Geltungsdauer der ihr erteilten Aufenthaltserlaubnis mit Bescheid vom 3. Dezember 2013 auf den Tag der Zustellung des Bescheides verkürzt hat. Die Klägerin darf nach Spanien einreisen und sich dort aufhalten, weil sie über einen spanischen Aufenthaltstitel verfügt, der ihr am 15. Februar 2011 mit Gültigkeit bis zum 13. Februar 2016 erteilt worden ist ("Permiso de Residencia", Bl. 22 d. A.). Es ist nichts dafür ersichtlich, dass die sofortige Ausreise der Klägerin aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der nationalen Sicherheit geboten gewesen wäre. Die Beklagte hat die Klägerin gleichwohl nicht aufgefordert, sich unverzüglich nach Spanien zu begeben, sondern ihr unmittelbar die Abschiebung nach Ghana angedroht. [...]