VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 23.09.2014 - 12 CE 14.1833, 12 C 14.1865 - asyl.net: M22712
https://www.asyl.net/rsdb/M22712
Leitsatz:

Erst wenn alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, trifft den um Inobhutnahme bittenden Minderjährigen die materielle Beweislast für das von ihm behauptete Alter als anspruchsbegründende Tatsache (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B. v. 20.10.2011 - 6 S 51.11 u.a. - juris, Rn. 6).

Lässt sich eine verlässliche Klärung des Alters nicht sogleich herbeiführen, so hat das Jugendamt im Zweifel, also wenn das Vorliegen von Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gleichwohl anzuordnen, bis das tatsächliche Alter festgestellt ist.

Schlagwörter: unbegleitete Minderjährige, Inobhutnahme, Altersfeststellung, Altersschätzung, Röntgenuntersuchung, Handwurzeluntersuchung, Altersdiagnostik, Untersuchung, minderjährig, Beweislast, Vormundschaft, Familiengericht, Minderjährigenschutz,
Normen: SGB VIII § 42 Abs. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

Da eine Inobhutnahme Volljähriger rechtswidrig ist, hat das Jugendamt das Alter des Betroffenen festzustellen, ohne insoweit an die Feststellungen anderer Behörden gebunden zu sein (vgl. DIJuF- echtsgutachten vom 9. November 2010 – J 4.300 Sch –, JAmt 2010, 547 [548]; Peter, JAmt 2006, 60 [62]; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.10.2011 – 6 S 51.11 – juris, Rn. 6; B.v. 4.3.2013 – 6 S 3.13 – juris, Rn. 9). Eine Altersschätzung allein aufgrund bestimmter äußerlicher körperlicher Merkmale stellt für sich genommen keine ausreichende Grundlage dar. Dies gilt auch dann, wenn sie durch Personal erfolgt, das in diesem Bereich erfahren ist (vgl. OVG Berlin-Bbg, B.v. 14.10.2009 – 6 S 33.09 –, JAmt 2010, 46). Eine zuverlässige Altersdiagnostik setzt vielmehr voraus, dass im Wege einer zusammenfassenden Begutachtung die Ergebnisse einer körperlichen Untersuchung, gegebenenfalls auch einer Röntgenuntersuchung der Hand und der Schlüsselbeine, sowie einer zahnärztlichen Untersuchung zu einer abschließenden Altersdiagnose zusammengeführt werden (vgl. OLG München, B.v. 15.3.2012 – 26 UF 308/12 – juris, Rn. 9; s. auch Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, Frankfurter Kommentar SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 42 Rn. 22 m.w.N.). Dabei ist außerhalb von Strafverfahren zu beachten, dass keine juristische Legitimation für die Durchführung von Röntgenuntersuchungen vorliegt und insofern nur ein eingeschränktes Methodenspektrum zur Verfügung steht. Allgemein wird deshalb eine körperliche Untersuchung mit Erfassung anthropometrischer Maße, der sexuellen Reifezeichen und möglicher altersrelevanter Entwicklungsstörungen sowie eine zahnärztliche Untersuchung mit Erhebung des Zahnstatus empfohlen (vgl. OLG München, B.v. 15.3.2012 – 26 UF 308/12 – juris, Rn. 9; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 14.10.2009 – 6 S 22/09 –, JAmt 2010, 44).

Bestehen ernsthafte Zweifel hinsichtlich des Alters des Betroffenen, so haben sowohl das Jugendamt (§ 20 SGB X) als auch die Gerichte (§ 86 VwGO) von Amts wegen alle Möglichkeiten auszuschöpfen, das Alter des Betroffenen festzustellen (so zutreffend OLG München, B.v. 15.3.2012 – 26 UF 308/12 – juris, Rn. 8 für das Kindschaftsrecht; OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.10.2011 – 6 S 51.11 u.a. – juris, Rn. 6; B.v. 4.3.2013 – 6 S 3.13 u.a. –, juris, Rn. 9; siehe auch DIJuF-Rechtsgutachten vom 9. November 2010 – J 4.300 Sch –, JAmt 2010, 547 [548]; Peter, JAmt 2006, 60 [62]; Mrozynski, SGB I, 4. Aufl. 2010, § 33a Rn. 8). Erst wenn alle Erkenntnismöglichkeiten ausgeschöpft sind, trifft den um Obhutnahme bittenden Minderjährigen die materielle Beweislast für das von ihm behauptete Alter als anspruchsbegründende Tatsache (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, B.v. 20.10.2011 – 6 S 51.11 u.a. – juris, Rn. 6).

Lässt sich eine verlässliche Klärung des Alters nicht sogleich herbeiführen, so hat das Jugendamt im Zweifel, also dann, wenn das Vorliegen von Minderjährigkeit nicht sicher ausgeschlossen werden kann, eine Inobhutnahme nach § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII gleichwohl anzuordnen, bis das tatsächliche Alter des Betroffenen festgestellt ist (vgl. Trenczek, in: Münder/Meysen/Trenczek, SGB VIII, 7. Aufl. 2013, § 42 Rn. 21 a.E.; DIJuF- Rechtsgutachten vom 9. November 2010 – J 4.300 Sch –, JAmt 2010, 547 [548 f.] m.w.N.). Dies gilt insbesondere dann, wenn auch das Familiengericht die Vormundschaft vorläufig – zur näheren Abklärung des Alters des Betroffenen – angeordnet und zugleich beschlossen hat, zur Feststellung des tatsächlichen Alters des Betroffenen ein Sachverständigengutachten einzuholen. Auch die UNHCR-Richtlinie über allgemeine Grundsätze und Verfahren zur Behandlung asylsuchender unbegleiteter Minderjähriger vom Februar 1997 sieht ausdrücklich vor, dass im Zweifelsfall, also dann, wenn das genaue Alter ungewiss ist, zugunsten des betroffenen Kindes bzw. Jugendlichen entschieden werden soll (UNHCR 1997, 5.11 c).

2. Hiervon ausgehend kann die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes durch das Verwaltungsgericht nicht aufrechterhalten werden. Weder der Vermerk des Jugendamts der Stadt Dortmund vom 7. Januar 2014 noch die Inaugenscheinnahme durch Vertreter des Kreisjugendamts E. und des Teams Asyl der Sozialhilfeverwaltung des Landratsamts genügen den oben genannten Anforderungen. Vor allem lassen sie nicht erkennen, auf welche Merkmale und Kriterien die handelnden Personen ihre Annahme, der Antragsteller sei bereits volljährig, stützen. Der persönliche Eindruck allein kann insoweit nicht genügen. Gleiches hat hinsichtlich der Annahmen der Ausländerhilfe E. e.V. zu gelten. Auch das in den Akten enthaltene Lichtbild des Antragstellers lässt eine rechtlich und tatsächlich tragfähige Beurteilung nicht zu. Eine Minderjährigkeit des Antragstellers erscheint danach mindestens ebenso wahrscheinlich wie dessen Volljährigkeit. Die klärungsbedürftige Frage, ob der Antragsteller, wie er vorträgt, am 30. Oktober 1997 geboren wurde, infolgedessen noch minderjährig ist und damit dem Anwendungsbereich des § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII unterfällt, muss derzeit vielmehr als offen angesehen werden. Dies deckt sich zugleich mit der Einschätzung des Amtsgerichts E. in den Beschlüssen vom 31. Juli und 1. August 2014 ("möglicherweise noch minderjährig") und der Verfügung des Amtsgerichts vom 11. September 2014, in der mitgeteilt wird, dass aufgrund der vorliegenden Gutachten nicht mit hinreichender Sicherheit festgestellt werden könne, dass der Antragsteller bereits volljährig sei mit der Folge, dass er als noch Minderjähriger zu behandeln sei. In der Tat kann nach der (abschließenden) Altersdiagnose des Instituts für Rechtsmedizin der Universität München vom 1. September 2014 aufgrund einer möglicherweise im Raum stehenden Wachstumsstörung Minderjährigkeit des Antragstellers nicht ausgeschlossen werden. Das fachradiologische Gutachten vom 13. August 2014 und der zahnärztliche Befund ebenfalls vom 13. August 2014 stehen dem nicht entgegen, da sie die Möglichkeit einer Wachstumsstörung nicht berücksichtigen. Insoweit wird es, wie vom Institut für Rechtsmedizin angeregt, weiterer Aufklärung durch die Fachabteilung für Auxologie des Haunerschen Kinderspitals der LMU München – entweder noch im familiengerichtlichen Verfahren oder aber spätestens im bereits anhängigen Hauptsacheverfahren vor dem Verwaltungsgericht – bedürfen.

In einer solchen Fallkonstellation ist – entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts – im Lichte der den Verwaltungsprozess beherrschenden Garantie effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 GG) im Wege einer (reinen) Folgenabwägung über den Erlass einer einstweiligen Anordnung zu entscheiden (vgl. BVerfG, B.v. 25.7.1996 – 1 BvR 638/96 –, NVwZ 1997, 479 [481]; B.v. 29.11.2007 – 1 BvR 2496/07 –, NVwZ 2008, 880 [881]; B.v. 25.2.2009 – 1 BvR 120/09 –, NVwZ 2009, 715 f.; BVerwG, B.v. 13.10.1994 – 7 VR 10/94 –, NVwZ1995, 379 [380]; siehe auch Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 123 Rn. 100 f.), die die Wertung des Gesetzgebers, die Unterbringung und Erstversorgung asylbegehrender unbegleiteter Minderjähriger der Primärzuständigkeit des Jugendamts zu überantworten (§ 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII), und den von Verfassungs wegen gebotenen Schutz Minderjähriger (Art. 6 Abs. 1 GG) gleichermaßen entscheidungserheblich in den Blick nimmt.

Vorliegend überwiegen insoweit die persönlichen Interessen des Antragstellers gegenüber möglicherweise entgegenstehenden öffentlichen Belangen. Sollte sich in dem vom Amtsgericht E. eingeleiteten Altersfeststellungsverfahren bzw. im Rahmen des Hauptsacheverfahrens vor dem Verwaltungsgericht herausstellen, dass der Antragsteller – wie von ihm behauptet – tatsächlich minderjährig ist, so ginge er, würde die einstweilige Anordnung nicht erlassen, des durch § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII vermittelten Rechtsanspruchs auf Inobhutnahme und Unterbringung in einer Kinder- und Jugendhilfeeinrichtung für einen nicht unerheblichen Zeitraum verlustig. Gleichzeitig bliebe er weiterhin den möglichen Gefahren einer unbegleiteten Unterbringung in einer Asylbewerberunterkunft für Erwachsene ausgesetzt, denen der Gesetzgeber mit dem Erlass der in § 42 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 SGB VIII getroffenen Regelung gerade begegnen wollte. Darüber hinaus würde die Einleitung geeigneter Fördermaßnahmen verzögert. Demgegenüber wiegen die finanziellen Nachteile, die der Antragsgegner möglicherweise dadurch erleiden könnte, dass sich im Rahmen des laufenden Feststellungsverfahrens die Volljährigkeit des Antragstellers ergibt und die diesem bis zur Klärung des Alters zuteil gewordene Inobhutnahme sich im Nachhinein als überflüssig erweist, deutlich geringer. [...]