VGH Baden-Württemberg

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Zitieren als:
VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 12.11.2014 - 1 S 184/14 (= ASYLMAGAZIN 4/2015, S. 137 ff.) - asyl.net: M22724
https://www.asyl.net/rsdb/M22724
Leitsatz:

1. § 10 Abs. 6 StAG enthält eine strikte Pflicht, von den Voraussetzungen des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 StAG abzusehen, wenn diese wegen einer Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllt werden können.

2. Nicht erforderlich ist, dass die Krankheit oder die Behinderung die alleinige Ursache für das Unvermögen sind, die erforderlichen sprachlichen und staatsbürgerlichen Kenntnisse zu erwerben; sie müssen jedoch die wesentliche (Mit-)Ursache sein.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Krankheit, Behinderung, Alter, altersbedingt, Deutschkenntnisse, staatsbürgerliche Kenntnisse, Einbürgerungstest, Einbürgerung, Sprachkenntnisse, Kenntnisse der deutschen Sprache, Posttraumatische Belastungsstörung, Sicherung des Lebensunterhalts, Sozialhilfebezug, Vertretenmüssen,
Normen: StAG § 10 Abs. 6, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 6, StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 7,
Auszüge:

[...]

a) Nach § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG ist ein Ausländer, der seit acht Jahren rechtmäßig seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hat, bei Vorliegen der weiteren in dieser Vorschrift genannten Voraussetzungen auf seinen Antrag einzubürgern. Die nach dieser Vorschrift erforderliche Mindestdauer des rechtmäßigen Aufenthalts in der Bundesrepublik Deutschland von acht Jahren erfüllt die Klägerin. Ihr Aufenthalt ist seit der erstmaligen Erteilung einer Aufenthaltsbefugnis am 31.10.1996 rechtmäßig.

Die Klägerin erfüllt, wie das Verwaltungsgericht zutreffend ausgeführt hat, auch die weiteren in den Nrn. 1, 2, 4 und 5 des § 10 Abs. 1 Satz 1 StAG genannten Voraussetzungen.

b) Von den Voraussetzungen der ausreichenden Kenntnisse der deutschen Sprache (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 StAG) und der Kenntnisse der Rechts- und Gesellschaftsordnung und der Lebensverhältnisse in Deutschland (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 7 StAG), die die Klägerin nicht erfüllt, ist entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts nach § 10 Abs. 6 StAG abzusehen.

§ 10 Abs. 6 StAG enthält eine strikte Pflicht, von den Voraussetzungen des Abs. 1 Satz 1 Nr. 6 und 7 abzusehen, wenn diese wegen einer Krankheit oder Behinderung oder altersbedingt nicht erfüllt werden können; es wird der Einbürgerungsbehörde kein Ermessen über das Absehen von diesen Einbürgerungsvoraussetzungen eingeräumt (Berlit in: GK-StAR, § 10 StAG Rn. 404). Entscheidend ist, ob im Zeitpunkt der Einbürgerung der Erwerb der erforderlichen Kenntnisse (noch) verlangt werden kann. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Einbürgerungsbewerber die geforderten Kenntnisse zu einem früheren Zeitpunkt hätte erwerben können (BVerwG, Urt. v. 05.06.2014 - 10 C 2.14 - InfAuslR 2014, 387). Eine tatsächlich vorliegende Krankheit oder Behinderung ist jedoch nur beachtlich, weil und wenn sie den Einbürgerungsbewerber daran hindert, die Voraussetzungen des Abs. 1 Nr. 6 und 7 in vollem Umfang zu erfüllen. Allein das Vorliegen einer Krankheit oder Behinderung reicht nicht aus, um von diesen Voraussetzungen zu suspendieren. Das Kausalitätserfordernis erfordert eine umfassende Bewertung des Grads der Behinderung und ihrer (möglichen bzw. wahrscheinlichen) Auswirkungen auf die Fähigkeit, die für die Einbürgerung erforderlichen sprachlichen und staatsbürgerlichen Kenntnisse zu erwerben (Berlit, a.a.O. Rn. 409). Nicht erforderlich ist, dass die Krankheit oder die Behinderung die alleinige Ursache für das Unvermögen sind, die erforderlichen sprachlichen und staatsbürgerlichen Kenntnisse zu erwerben; sie müssen jedoch die wesentliche (Mit-)Ursache sein.

Daran gemessen liegen die Voraussetzungen des § 10 Abs. 6 StAG hier vor. Das von der Klägerin vorgelegte fachpsychiatrische Gutachten vom 07.10.2008 und das auf Veranlassung der Beklagten eingeholte Gutachten des Gesundheitsamts vom 02.12.2008 bejahen übereinstimmend eine Kausalität der bei der Klägerin festgestellten Erkrankungen für den fehlenden Kenntniserwerb. Ausweislich des fachpsychiatrischen Gutachtens vom 07.10.2008 ist die bei der Klägerin diagnostizierte chronische posttraumatische Belastungsstörung, die sich u.a. in einer erheblichen Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörung äußert, die wesentliche Ursache dafür, dass sie die deutsche Sprache nicht lernen kann. Der Gutachter setzt sich dabei auch mit der Tatsache auseinander, dass die Klägerin Analphabetin ist. Er legt jedoch überzeugend dar, dass dieser Umstand zu den festgestellten krankheitsbedingten Ursachen zwar erschwerend hinzukommt, jedoch bei einer Gesamtbetrachtung von untergeordneter Bedeutung ist. Bestätigt wird diese Einschätzung in vollem Umfang durch das amtsärztliche Gutachten vom 02.12.2008, welches zu dem Ergebnis kommt, dass die Klägerin wegen ihrer körperlichen und seelischen Behinderung nicht in der Lage ist, die für die Einbürgerung erforderlichen Deutschkenntnisse zu erlangen. In diesem Gutachten wird ebenfalls hervorgehoben, dass die psychische Symptomatik in Kombination mit den ausgeprägten körperlichen Erkrankungen, die zur Anerkennung als Schwerbehinderte (GdB 60 %) geführt haben, die Aufmerksamkeit und das Konzentrationsvermögen der Klägerin erheblich beeinträchtigen. Auch dieses Gutachten nimmt den Analphabetismus der Klägerin in den Blick und geht davon aus, dass dieser "das Erlernen der deutschen Sprache zusätzlich erschwert." Hauptursache für das Unvermögen der Klägerin zum Spracherwerb ist folglich nach beiden Gutachten eine krankheitsbedingte erhebliche Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörung und nicht etwa der Analphabetismus der Klägerin.

c) Schließlich erfüllt die Klägerin auch die Voraussetzung des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, weil sie die Inanspruchnahme von Sozialleistungen zur Sicherung ihres Lebensunterhalts nicht zu vertreten hat.

Die Voraussetzung der eigenständigen wirtschaftlichen Sicherung des Lebensunterhalts nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG als Beleg auch wirtschaftlicher Integration erfordert eine prognostische Einschätzung, ob der Einbürgerungsbewerber voraussichtlich dauerhaft in der Lage ist, seinen Lebensunterhalt aus eigenen Einkünften zu sichern (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.01.2014 - 1 S 923/13 - juris Rn. 25 m.w.N.).

Erhält der Einbürgerungsbewerber Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch oder hat Anspruch darauf, ist maßgeblich, ob er dies zu vertreten hat. Der Begriff des Vertretenmüssens beschränkt sich nicht auf vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass der Ausländer durch ein ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den - fortdauernden - Leistungsbezug gesetzt hat. Der vom Begriff des Vertretenmüssens vorausgesetzte objektive Zurechnungszusammenhang zwischen zu verantwortendem Verhalten und Leistungsbezug erfordert, dass das Verhalten des Verantwortlichen für die Verursachung oder Herbeiführung des in Bezug genommenen Umstandes zumindest nicht nachrangig, sondern hierfür wenn schon nicht allein ausschlaggebend, so doch maßgeblich bzw. prägend ist. Der Leistungsbezug muss lediglich auf Umständen beruhen, die dem Verantwortungsbereich der handelnden Person zuzurechnen sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.02.2009 - 5 C 22.08 - BVerwGE 133, 153; BayVGH, Beschl. v. 06.07.2007 - 5 ZB 06.1988 - juris; NdsOVG, Beschl. v. 17.12.2013 - 13 LA 179/13 - juris; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.01.2014, a.a.O. Rn. 26; jeweils m.w.N.) Der Einbürgerungsbewerber hat eine Obliegenheit, durch Einsatz der eigenen Arbeitskraft auch langfristig den eigenen Unterhalt sicherzustellen. Für ein Vertretenmüssen i.S.d. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG muss eine Verletzung dieser Obliegenheit nach Art, Umfang und Dauer von einigem Gewicht sein. Die Verhängung von Sperrzeiten durch die Arbeitsverwaltung oder sonstige leistungsrechtliche Reaktionen auf die Verletzung sozialrechtlicher Obliegenheiten können für das Vertretenmüssen eine gewisse Indizwirkung haben.Beruht der Leistungsbezug auf Umständen, die dem Verantwortungsbereich des Einbürgerungsbewerbers zuzurechnen sind, unterbricht allein der Umstand, dass dieser inzwischen wegen seines Alters und aus gesundheitlichen Gründen seinen Lebensunterhalt nicht selbst durch Einsatz seiner Arbeitskraft bestreiten kann, den Einbürgerungshindernden Zurechnungszusammenhang nicht. Nach Ablauf einer Frist von acht Jahren hat ein Einbürgerungsbewerber jedoch für ein ihm zurechenbares und für aktuelle Sozialhilfeleistungen mitursächliches Verhalten nicht mehr einzustehen (vgl. zum Ganzen: BVerwG, Urt. v. 19.02.2009, a.a.O.).

Ein Vertretenmüssen ist gegeben, wenn sich der Einbürgerungsbewerber nicht oder nicht hinreichend um die Aufnahme einer Beschäftigung bemüht, wenn er durch ihm zurechenbares Verhalten zu erkennen gibt, dass er nicht bereit ist, eine ihm zumutbare Beschäftigung unter den Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes - ggf. auch abweichend von seiner bisherigen Qualifikation und auch zu ungünstigeren Lohn- oder Arbeitsbedingungen - anzunehmen oder wenn es zu einem Verlust des Arbeitsplatzes aufgrund verhaltensbezogener Ursachen kommt (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 12.03.2008 - 13 S 1487/06 - NVwZ-RR 2008, 839; NdsOVG, Urt. v. 13.11.2013 - 13 LB 99/12 - juris; Berlit, a.a.O., § 10 StAG Rn. 259 ff.; Hailbronner, in: Hailbronner/Renner/Maaßen, StAR, 5. Aufl., § 10 StAG Rn. 43). Nicht zu vertreten hat ein arbeitsfähiger Einbürgerungsbewerber den Leistungsbezug, wenn er der Arbeitsvermittlung zur Verfügung steht und sich hinreichend intensiv um Arbeit bemüht, aber aus konjunkturellen Gründen oder deswegen keine nach dem Maßstab der §§ 8 Abs. 1, 10 SGB II zumutbare Beschäftigung findet, weil er objektiv vermittlungshemmende Merkmale, wie Alter, Krankheit, fehlende Qualifikation - deren Eintritt er selbst nicht zurechenbar verursacht hat - aufweist. Ebenso nicht zu vertreten hat der Einbürgerungsbewerber einen Leistungsbezug wegen Verlusts des Arbeitsplatzes aufgrund gesundheitlicher, betriebsbedingter oder konjunktureller Ursachen (vgl. VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.01.2014, a.a.O. Rn. 27 m.w.N.).

Die Darlegungs- und Beweislast für das Nichtvertretenmüssen trägt angesichts der gesetzlichen Konstruktion von Regel und Ausnahme - und weil es sich typischerweise um Umstände handelt, die seiner persönlichen Sphäre entstammen - der Einbürgerungsbewerber (vgl. BVerwG, Urt. v. 19.02.2009, a.a.O.; NdsOVG, Urt. v. 13.11.2013, a.a.O.; VGH Bad.-Württ., Urt. v. 22.01.2014, a.a.O. Rn. 28; Berlit, a.a.O., § 10 StAG Rn. 254; a.A. - ohne Begründung - Hailbronner, a.a.O., § 10 StAG Rn. 39).

Daran gemessen steht hier zur Überzeugung des Senats fest, dass die Klägerin ihren Leistungsbezug jedenfalls innerhalb des in den Blick zu nehmenden Zeitraums ab 2006 nicht zu vertreten hat. Bereits im Jahr 2002 unterzog sich die Klägerin einer amtsärztlichen Begutachtung zur Klärung der Frage, ob sie noch arbeitsfähig ist. Die am 10.10.2002 erfolgte amtsärztliche Untersuchung ergab, dass die Klägerin auf Dauer arbeitsunfähig ist. Das Jobcenter Stadt Karlsruhe teilte der Einbürgerungsbehörde am 23.01.2009 mit, dass keine Erkenntnisse vorlägen, die gegen eine Einbürgerung sprächen. Unter dem 30.06.2011 teilte das Jobcenter für den Zeitraum ab dem 01.05.2005 ergänzend mit, die Klägerin habe dem Arbeitsmarkt bis zum 25.04.2006 zur Verfügung gestanden und sei danach als Person mit zulässiger Übergangsorientierung in den Ruhestand (§ 65 Abs. 4 SGB II) geführt worden. Aufgrund ihrer zahlreichen gesundheitlichen Einschränkungen habe sie keine Arbeit aufnehmen können. Für ein Vertretenmüssen des Leistungsbezugs spricht allein die Äußerung der Landesversicherungsanstalt Baden-Württemberg vom 24.09.2003, die im Rahmen der Prüfung, ob die Klägerin voll erwerbsgemindert im Sinn des § 43 Abs. 2 SGB VI ist, zu dem Ergebnis gekommen ist, dass die Klägerin unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes noch mindestens drei Stunden täglich erwerbstätig sein könne. Der Senat misst dieser im Gegensatz zu den übrigen Stellungnahmen stehenden Äußerung jedoch keine entscheidende Bedeutung bei, weil sie sich - abstrakt - auf die Frage der vollen Erwerbsminderung im Sinn des SGB VI bezieht, ohne im Einzelnen in den Blick zu nehmen, welche Tätigkeiten die Klägerin noch ausüben könnte und ob sie sich mit Aussicht auf Erfolg um einen Arbeitsplatz hätte bewerben können. Aus der Stellungnahme des Jobcenters vom 30.06.2011 und dem dieser Stellungnahme beigefügten Gutachten des Ärztlichen Dienstes der Agentur für Arbeit Karlsruhe vom 14.07.2008 geht demgegenüber hervor, dass die Leistungsfähigkeit und Belastbarkeit der Klägerin deutlich gemindert ist und dass diese nur leichte körperliche Tätigkeiten mit überwiegend sitzender, gelegentlich gehender und gelegentlich stehender Körperhaltung ausüben kann, wobei u.a. häufiges Bücken sowie häufiges Knien und Hocken auszuschließen sind. Eine Tätigkeit in dem von der Klägerin zuletzt ausgeübten Beruf als Raumpflegerin war ihr danach nicht mehr zuzumuten. Dies wird bestätigt durch die Angaben der Klägerin in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Dort gab sie auf Frage zu ihrer Tätigkeit als Raumpflegerin an, die Arbeit sei für sie sehr schwer gewesen. Sie habe starke Schmerzen in der Niere gehabt und kaum ihre eigene Wohnung putzen können. Sie sei dann von der Behörde zum Arzt geschickt worden und der habe gesagt, dass sie nicht mehr arbeiten könne. Diese Angaben beziehen sich offenkundig auf die am 10.10.2002 erfolgte amtsärztliche Untersuchung, die ergab, dass die Klägerin auf Dauer arbeitsunfähig ist. Ebenso wie die zuständige Fachbehörde vermag auch der Senat nicht zu erkennen, dass die Klägerin sich bei dieser Sachlage mit Aussicht auf Erfolg auf eine andere ihr zumutbare Tätigkeit hätte bewerben können. Zwar darf ein Einbürgerungsbewerber sich grundsätzlich nicht allein auf Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit verlassen, sondern ist auch gehalten, sich aus eigener Initiative um die Aufnahme einer Beschäftigung zu bemühen. Dies gilt jedoch nicht, wenn - wie hier - überhaupt keine realistische Beschäftigungsperspektive gegeben ist. [...]