Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO beginnt im Falle eines Eilantrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem die Anordnung der aufschiebenden Wirkung einer Klage gegen eine Abschiebungsanordnung nach § 34a AsylVfG beantragt wird, frühestens mit der Ablehnung des Eilantrags.
(Amtlicher Leitsatz)
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2.4 Entgegen der Auffassung des Antragstellers ist die Zuständigkeit der Schweizerischen Eidgenossenschaft bislang auch nicht gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin III-VO wegen eines Ablaufs der Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO entfallen, was im vorliegenden Gerichtsverfahren nach § 77 Abs. 1 AsylVfG in zeitlicher Hinsicht zu beachten wäre.
Der Antragsteller kann allerdings eine Zuständigkeitsbegründung durch Überschreiten der Überstellungsfrist geltend machen, weil die Fristregelung des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO drittschützend ist. Bereits auf Grundlage der zur Dublin II-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, ABl. Nr. L 50 S. 1) entwickelten herrschenden Auffassung, dass die Zuständigkeitsregelungen des Dublin-Systems sich nur an die Mitgliedstaaten adressieren und dem Flüchtling kein subjektives Recht darauf einräumen, dass der Antrag in einem bestimmten Mitgliedstaat geprüft wird, wurde angenommen, dass der Flüchtling ein schutzwürdiges Interesse daran besitzt, dass sein Schutzgesuch innerhalb eines angemessenen Zeitraums geprüft wird und er daher gegen eine Rücküberstellung deren Rechtswidrigkeit wegen Zuständigkeitsübergangs infolge Fristablaufs als eigene Rechtsverletzung geltend machen kann (vgl. VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 06.08.2013 – 12 S 675/13 -, juris; VG Hamburg, Urteil vom 15.03.2012 – 10 A 227/11 -, juris). Dies gilt umso mehr, als die Dublin III-VO im Unterschied zu ihrer Vorgängervorschrift die Bedeutung des subjektiven Rechtsschutzes im Dublin-Verfahren deutlich verstärkt hat, indem dem Betroffenen ein Recht auf ein wirksames Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung in Form einer auf Sach- und Rechtsfragen gerichteten Überprüfung durch ein Gericht eingeräumt wird (Art. 27 Abs. 1 Dublin III-VO). Da dieser Rechtsbehelf nach dem Erwägungsgrund Nr. 19 der Verordnung auch die "Prüfung der Anwendung der Verordnung" umfassen soll, ist im Zweifel von einem drittschützenden Charakter der Dublin-Regelungen auszugehen, soweit sie konkrete Zuständigkeitsbestimmungen enthält (a.A. VG Ansbach, Urteil vom 19.08.2014 - AN 1 K 14.50026 - juris).
Die Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO ist hier aber noch nicht abgelaufen; denn sie beginnt in der vorliegenden Konstellation eines Eilantrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsanordnung frühestens mit der Entscheidung über den Eilantrag selbst.
Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO sieht zwei alternative Zeitpunkte für den Beginn der Überstellungsfrist von sechs Monaten vor: Die Annahme des Aufnahme- oder Wiederaufnahmegesuchs oder die endgültige "Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung, wenn diese gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung hat." Die zweite Alternative ist unter Zugrundelegung der deutschen juristischen Terminologie schief formuliert. Da nicht die Entscheidung über einen Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat, sondern der Rechtsbehelf selbst aufschiebend wirkt (vgl. § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO), hätte aus deutscher Sicht die Formulierung "wenn dieser oder diese … aufschiebende Wirkung hat" nahegelegen. Jedoch kann nicht erwartet werden, dass Rechtstexte der Europäischen Union, die einen gemeinsamen Rechtsstandard setzen sollen, dem nationalen juristischen Sprachgebrauch bis ins Detail entsprechen. Die englische und französische Fassungen dieser Regelung ("within six months … of the final decision on an appeal or review where there is a suspensive effect in accordance with Article 27(3)"; "dans un délai de six mois à compter … de la décision définitive sur le recours ou la révision lorsque l’effet suspensif est accordé conformément à l’article 27, paragraphe 3") bringen dagegen den Regelungsgehalt etwas klarer zum Ausdruck: Die Sechsmonatsfrist beginnt erst dann mit der endgültigen Entscheidung über einen Rechtsbehelf, wenn eine aufschiebende Wirkung nach Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO eingetreten ist.
§ 27 Abs. 3 Dublin III-VO regelt, wie sich das in § 27 Abs. 1 Dublin III-VO zwingend vorgesehene nationale Rechtsmittel gegen eine Überstellungsentscheidung - also in Deutschland die Klage gegen die Abschiebungsanordnung - auf deren Vollziehung auswirkt. Hierfür werden den Mitgliedstaaten drei Regelungsoptionen eingeräumt, mit denen ersichtlich den in den verschiedenen Rechtssystemen der Mitgliedstaaten bestehenden Ausformungen des vorläufigen Rechtsschutzes Rechnung getragen werden soll. Eine Hilfe zum leichteren Verständnis der Vorschrift bietet insoweit die Mitteilung der Kommission an das Europäische Parlament betreffend den Standpunkt des Rates vom 10.06.2013 - COM(2013) 416 final, in der die drei Optionen näher erläutert werden. Buchstabe a) beschreibt danach ein System der automatischen aufschiebenden Wirkung ("wenn ein Rechtsbehelf eingelegt wurde, hat der Betroffene immer das Recht, im Hoheitsgebiet zu bleiben, bis darüber entschieden ist", S. 4 der Mitteilung). Dieses System ist in Deutschland offensichtlich nicht eingeführt worden. Gleiches gilt für Buchstabe b), eine "automatische aufschiebende Wirkung für befristete Zeit" (a.a.O.), die dem deutschen Verwaltungsprozessrecht fremd ist. Dem herkömmlichen deutschen System vorläufigen Rechtsschutzes entspricht Buchstabe c), die "aufschiebende Wirkung auf Ersuchen" (a.a.O.). Allerdings findet sich hier - im Vergleich zu § 80 Abs. 5 VwGO - die Besonderheit, dass der Antrag auf Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung bis zum Abschluss des Rechtsbehelfs oder der Überprüfung seinerseits aufschiebende Wirkung haben muss, die bis zu der Entscheidung über ihn andauert (vgl. S. 4 der Mitteilung der Kommission, a.a.O.: "die Überstellung [wird] nicht bei allen Antragstellern, die einen Rechtsbehelf gegen eine Überstellungsentscheidung eingelegt haben, automatisch ausgesetzt …, sondern nur wenn Antragsteller darum ersuchen; die Überstellung wird dann ausgesetzt, bis das Gericht oder das Tribunal über die Angelegenheit entschieden hat"). Dieser Vorgabe hat der deutsche Gesetzgeber durch § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG Rechnung getragen, wonach bei rechtzeitiger Antragstellung vor der gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag gegen die Abschiebungsanordnung keine Abschiebung zulässig ist (vgl. VG Cottbus, Beschluss vom 14.08.2014 - 5 L 231/14.A -, juris; Hailbronner, AuslR, Stand Dezember 2013, § 34a AsylVfG Rn. 41. Die Gesetzesmaterialien erwähnen diesen auf der Hand liegenden Zusammenhang allerdings nicht, vgl. BT-Drs. 1713556, S. 7). Zu unterscheiden sind demnach zwei Arten der aufschiebenden Wirkung: Die (herkömmliche) aufschiebende Wirkung einer Klage, die nach § 80 Abs. 5 VwGO durch das Verwaltungsgericht angeordnet werden muss, und die (neu eingeführte) aufschiebende Wirkung des Eilantrags, die nach § 34a Abs. 2 Satz 2 AsylVfG von Gesetzes wegen eintritt. Beide Arten werden in Art. 27 Abs. 2 Buchstabe c Dublin III-VO als "Aussetzung der Durchführung der Überstellungsentscheidung" bzw. abgekürzt als "Aussetzung der Überstellungsentscheidung" bezeichnet.
Daher ist es möglich, dass Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO mit der Formulierung "gemäß Artikel 27 Absatz 3 aufschiebende Wirkung" beide Formen der aufschiebenden Wirkung meint; da Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO pauschal auf Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO und damit alle dort enthaltenen Fälle verweist, erscheint dies im Rahmen einer systematischen Auslegung auch naheliegend (ebenso VG Cottbus, a.a.O.; der VGH Baden-Württemberg geht demgegenüber von einer Regelungslücke aus, Beschluss vom 27.08.2014 - A 11 S 128514 -, juris).
Für die Konstellation, in der ein Eilantrag nach Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c Dublin III-VO, § 80 Abs. 5 VwGO aufschiebende Wirkung hat, muss weiterhin geklärt werden, welche Entscheidung nach Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO die "endgültige Entscheidung über einen Rechtsbehelf oder eine Überprüfung" ist, mit der die Überstellungsfrist beginnt. In Betracht kommt zum einen die Entscheidung über den Eilantrag selbst, mit der die aufschiebende Wirkung endet, zum anderen die Entscheidung über die Klage, mit der die Rechtmäßigkeit der Überstellungsentscheidung festgestellt wird.
Der Wortlaut der Art. 29 Abs. 1 Satz 1, 27 Abs. 3 Buchstabe c Dublin III-VO könnte zwar für letzteres sprechen. Denn Art. 27 Abs. 1 bis 3 Dublin III-VO verwendet das Begriffspaar "Rechtsbehelf oder Überprüfung" durchgängig in dem Kontext des Rechtsmittels gegen die Überprüfungsentscheidung, während im Zusammenhang mit der gerichtlichen Entscheidung über die aufschiebende Wirkung dieses Rechtsmittels von "Antrag auf Aussetzung" gesprochen wird. Jedoch erklärt sich diese unterschiedliche Terminologie aus der Notwendigkeit, innerhalb des Art. 27 Abs. 3 Buchstabe c Dublin III-VO zwischen dem Verfahren zur Überprüfung der Überstellungsentscheidung und dem (Zwischen)verfahren zur Klärung der aufschiebenden Wirkung zu unterscheiden; aus diesem Grund wird am Anfang von Art. 27 Abs. 3 Dublin III-VO auch genau von einem Rechtsbehelf oder einer Überprüfungsentscheidung "gegen eine Überstellungsentscheidung" gesprochen; dieser Zusatz kann im Verlauf der Vorschrift weggelassen werden, weil für das vorläufige Rechtsschutzverfahren von "Antrag auf Aussetzung" gesprochen wird. In Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin IIIVO besteht nach seinem Regelungszweck dagegen kein Grund, zwischen beiden Verfahrensarten zu unterscheiden, so dass der Begriff Rechtsbehelf hier allgemein verstanden werden kann (wie hier wohl VG Frankfurt (Oder), Beschluss vom 19.09.2014 - 6 L 586/14.A -, juris; a.A. OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.09.2014 - 13 A 1347/14.A -, juris.). In seiner allgemeinen Bedeutung umfasst der Begriff des Rechtsbehelfs aber auch Eilanträge auf Aussetzung der Vollziehbarkeit (vgl. etwa das Urteil des EuGH vom 30.05.2013 – C-168/13 PPU -, EuGRZ 2013, 417, zu einem "Rechtsbehelf", mit dem der "Vollzug" einer Entscheidung "ausgesetzt" wird; auch in der Petrosian-Entscheidung hat der EuGH es als möglich angesehen, dass unter Rechtsbehelf ein Eilverfahren über die Anordnung der aufschiebenden Wirkung verstanden wird, Urteil vom 29.01.2009 – C-19/08 -, Rn. 33).
Dieses Ergebnis, wonach die Überstellungsfrist in dem Fall, in dem ein Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung gestellt wird, frühestens mit der endgültigen Entscheidung über diesen Eilantrag beginnt, entspricht vor allem aber Sinn und Zweck des Art. 29 Abs. 1 Unterabsatz 1 Dublin III-VO. Zu der Vorgängerregelung, die sich insoweit nicht wesentlich von den vorliegenden Vorschriften unterscheiden, hat der EuGH in dem oben genannten Urteil in der Sache Petrosian bereits herausgearbeitet, die Überstellungsfrist verfolge "in Anbetracht der praktischen Komplexität und der organisatorischen Schwierigkeiten, die mit der Durchführung der Überstellung einhergehen, das Ziel, es den beiden betroffenen Mitgliedstaaten zu ermöglichen, sich im Hinblick auf die Durchführung abzustimmen, und es insbesondere dem ersuchenden Mitgliedstaat
zu erlauben, die Modalitäten für die Durchführung der Überstellung zu regeln, die nach den nationalen Vorschriften dieses letztgenannten Staates erfolgen" (a.a.O., Rn. 40). Es handelt sich also um eine Durchführungsfrist zur Organisation und Durchführung der Überstellung. Daher soll diese Frist erst ab dem Zeitpunkt laufen, zu dem "grundsätzlich vereinbart und sichergestellt ist, dass die Überstellung in Zukunft erfolgen wird, und wenn lediglich deren Modalitäten zu regeln bleiben" (a.a.O., Rn. 45). Dies ist nach der Petrosian-Entscheidung nicht der Fall, wenn eine Gerichtsentscheidung erst die aufschiebende Wirkung einer Klage angeordnet hat, aber über die Klage noch nicht entschieden worden ist (a.a.O., Rn. 46). Ansonsten würde sich die Umsetzungsfrist um die Zeit des Klageverfahrens, während der aufgrund der aufschiebenden Wirkung keine Überstellung möglich ist, verkürzen, was ihrem Zweck gerade zuwiderlaufen würde (a.a.O., Rn. 50).
Hieraus ergibt sich notwendigerweise, dass die Überstellungsfrist erst nach Ende der aufschiebenden Wirkung des Eilverfahrens erneut beginnen kann, denn erst dann ist die Überstellung rechtlich möglich und erst ab diesem Zeitpunkt benötigt der Mitgliedstaat den Zeitraum von sechs Monaten, der ihm für die Durchführung der Überstellung eingeräumt sind. Die hiermit verbundene Verfahrensverzögerung wird von dem EuGH im Interesse der Mitgliedstaaten bewusst hingenommen und kann daher nicht als Grund dafür verwendet werden, gegen Wortlaut und Systematik der Art. 27 und 29 Dublin III-VO trotz des Eintritts einer aufschiebenden Wirkung die Überstellungsfrist bereits mit der Annahme des Wiederaufnahmegesuchs beginnen zu lassen (so aber VG Magdeburg, Beschluss vom 02.06.2014 – 9 B 207/14 -, juris) oder im Wege einer Rechtsfortbildung von einer Fristhemmung während des Eilverfahrens auszugehen (so VGH Mannheim, a.a.O.). Die Stellung des Eilantrags wirkt also nach deutscher Terminologie als Unterbrechung der Frist, die frühestens mit der negativen Entscheidung über den Antrag neu beginnt (wie hier VG Frankfurt, Beschluss vom 19.09.2014 - 6 L 586/14.A -; VG Dresden, Beschluss vom 19.08.2014 - A 2 L 681/14 -; VG Cottbus, Beschluss vom 14.08.2014 - 5 L 231/14.A -; VG Hamburg, Beschluss vom 04.06.2014 - 10 AE 2414/14 -; VG Göttingen, Beschluss vom 28.11.2013 - 2 B 887/13 -; VG Düsseldorf, Beschluss vom 07.04.2014 - 2 L 55/14.A -; VG Leipzig, Beschluss vom 28.02.2014 - A 6 L 360/13 -; VG Regensburg, Beschluss vom 13.12.2013 - RO 9 S 13.30618 - [alle in juris]; Funke-Kaiser, in: GK-AsylVfG, Stand November 2013, § 27a Rn. 227. Anderer Auffassung: OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 08.09.2014 - 13 A 1347/14.A - [noch zur Dublin II-VO]; VG Karlsruhe, Beschluss vom 15.04.2014 - A 1 K 25/14 -); VG Göttingen, Beschluss vom 30.06.2014 - 2 B 86/14 [zur Dublin II-VO] ; VG Hannover, Beschluss vom 31.03.2014 - 1 B 6483/14 -; VG Oldenburg, Beschluss vom 21.01.2014 - 3 B 7136/13 - [alle in juris]; BeckOK AuslR/Pietsch AsylVfG § 34a Rn. 13.1; Marx, AsylVfG, 8. Auflage 2014, § 27a Rn. 95). [...]