VG Cottbus

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Zitieren als:
VG Cottbus, Beschluss vom 03.03.2015 - 5 L 108/15.A - asyl.net: M22740
https://www.asyl.net/rsdb/M22740
Leitsatz:

Ablauf der Überstellungsfrist nach Art. 29 Abs. 2 VO (EU) Nr. 604/2013 begründet kein öffentlich subjektives Recht; venire contra factum proprium.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, Überstellungsfrist, Zuständigkeitswechsel, Zuständigkeitsübergang, subjektiv-öffentliches Recht, subjektives Recht, forum shopping,
Normen: VO 604/2013 Art. 29 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Ein Asylantragsteller hat kein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung seines Asylantrages in einem bestimmten Mitgliedsstaat der Europäischen Union (Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 22. Januar 2015 – 3 A 1809/14.Z.A – Juris; OVG Lüneburg, Beschluss vom 6. November 2014 - 13 LA 66/14 -; VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 27. August 2014 – A 11 S 1285/14 –, NVwZ 2015, 92/96; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 16. Januar 2015 – 1a L 2036/14.A – Rn. 29 Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 9. Dezember 2014 – 13 K 399/14.A – Rn. 34ff. Juris; VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 23. Januar 2015 – Au 5 K 14.50077 – Rn. 27 ff. Juris; VG Dresden, Beschluss vom 13. November 2014 – A 2 L 1278/14 – Rn. 17 Juris; Berlit, JurisPR-BVerwG 12/2014 Anm. 3, Buchstabe B, Juris; VG Oldenburg, Beschluss vom 20. Januar 2015 – 11 B 454/15 – Rn. 5 Juris; a.A. etwa VG Augsburg, Gerichtsbescheid vom 12. November 2014 - Au 7 K 14.50047 – Juris; VG Regensburg, Urteil vom 14. November 2014 - RN 5 K 14.30304 - Juris; VG Hannover, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 6 B 341/15 – Juris; VG Düsseldorf, Urteil vom 12. Januar 2015 – 11 K 1640/14.A – Rn. 30 Juris).

Welche öffentlich-rechtlichen Normen der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 einem Asylantragsteller subjektiv-öffentliche Rechte verschaffen, bestimmt sich danach, was er mit dem in Art. 27 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 vorgesehenen Rechtsmittel gegen die Überstellungsentscheidung einwenden kann. Art. 27 Abs. 1 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 schreibt eine "auf Sach- und Rechtsfragen gerichtete(n) Überprüfung durch ein Gericht" vor.

Für sich genommen ist dieser Wortlaut für die Prüfung der Zuständigkeit freilich offen.

Bei der Auslegung dieser Verordnung sind indes nicht nur der Wortlaut ihrer Bestimmungen, sondern auch ihr allgemeiner Aufbau, ihre Ziele und ihr Kontext zu berücksichtigen. Dazu gehört insbesondere die Entwicklung, der sie im Zusammenhang mit dem System, in das sie sich einfügt, unterworfen war (vgl. zur Vorgängerregelung der Verordnung (EG) 343/2003 EuGH, Urteil vom 10. Dezember 2013 – C-394/12 – NVwZ 2014, 208-211 Rn. 51).

Die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 bildet einen Baustein des von der Europäischen Union errichteten Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (vgl. EuGH a.a.O. Rn. 47). Dieses Gemeinsame Europäische Asylsystem wurde in einem Kontext entworfen, der die Annahme zulässt, dass alle daran beteiligten Staaten, ob Mitgliedstaaten oder Drittstaaten, die Grundrechte beachten, einschließlich der Rechte, die ihre Grundlage in der Genfer Flüchtlingskonvention und dem Protokoll von 1967 sowie in der EMRK finden, und dass die Mitgliedstaaten einander insoweit Vertrauen entgegenbringen dürfen (EuGH a.a.O. Rn. 52). Auch die für Asylanträge geltenden Regelungen wurden in weitem Umfang auf Unionsebene harmonisiert. Der von einem Asylbewerber gestellte Antrag wird daher weitgehend nach den gleichen Regelungen geprüft werden, welcher Mitgliedstaat auch immer für seine Prüfung nach der Verordnung zuständig ist (EuGH a.a.O. Rn. 55).

Findet ein Asylantragsteller im gesamten Geltungsraum der Verordnung gleiches primäres und sekundäres Unionsrecht sowie gleiches Konventionsrecht vor, fehlt ihm ein unionsrechtlich anerkennenswertes Interesse und damit ein subjektiv-öffentliches Recht, den Asylantrag in einem bestimmten Mitgliedsstaat prüfen zu lassen.

Gegen die Anerkennung subjektiv-rechtlicher Positionen streitet ferner, dass eines der mit der Verordnung verfolgten Ziele darin besteht, dem "forum shopping" Einhalt zu gebieten (vgl. EuGH a.a.O. Rn. 53). Die Zuständigkeit soll gerade nicht ins Belieben eines Asylantragstellers gestellt werden, sondern entsteht und besteht auch gegen seinen erklärten Willen.

Gegen eine subjektiv-rechtliche Position spricht schließlich die systematische Auslegung der Verordnung. Namentlich das Verfahren zur Schlichtung bei Zuständigkeitsstreit (Art. 37 Verordnung 604/2013) findet ausschließlich unter den Mitgliedsstaaten statt, ohne dass der betroffene Asylantragsteller beteiligt wird. Auch dieser Umstand deutet darauf hin, dass das Zuständigkeitsregime, allein die Beziehungen unter den Mitgliedsstaaten betrifft (vgl. EuGH a.a.O. Rn. 58).

Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 etwa im Falle von unbegleiteten Minderjährigen in Art. 8 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 wohl ein subjektiv-öffentliches Recht auf Prüfung im Staat des aktuellen Aufenthaltes begründet (vgl. zur Vorgängerregelung in Art. 6 Verordnung (EG) 343/2003 EuGH, Urteil vom 06. Juni 2013 - C-648/11 – NVwZ-RR 2013, 735f. Rn. 55). Der Grund dafür liegt darin, unbegleiteten Minderjährigen eine besondere Aufmerksamkeit zu widmen, weil es sich um eine Kategorie besonders gefährdeter Personen handelt (EuGH a.a.O. Rn. 54ff.). Angesprochen wird damit erkennbar eine Ausnahme, die sich nicht auf das gesamte Zuständigkeitssystem übertragen lässt (singularia non sunt extendenda) (a.A. VG Hannover, Beschluss vom 24. Februar 2015 – 6 B 341/15 – Rn. 27 Juris).

Der bisherige Zeitablauf verwandelt die objektiv-rechtliche Zuständigkeitsregelung nicht in einen subjektiv-rechtlichen Anspruch gegen die Bundesrepublik auf Asylprüfung.

Dieser Anspruch erwächst einem Asylantragsteller erst, wenn der ersuchte Staat die erteilte Zustimmung ausdrücklich oder konkludent widerruft, etwa indem er die Aufnahme des Asylantragstellers ablehnt. Ein unionsrechtlicher Anspruch gegen die Bundesrepublik Deutschland auf zügiges Verfahren kann in Fällen der vorliegenden Art hingegen nicht mit Erfolg geltend gemacht werden. Der unionsrechtliche Anspruch auf zügiges Verfahren besteht solange der Asylantragsteller in der Ungewissheit darüber schwebt, welcher Staat für die sachliche Prüfung des Asylbegehrens zuständig sein soll. Lässt sich diese Zuständigkeitsfrage nicht zügig klären, entsteht für den Mitgliedsstaat die Pflicht vom Selbsteintrittsrecht Gebrauch zu machen (EuGH, Urteil vom 14. November 2013 – C-4/11 – NVwZ 2014, 129f.). Dieser Pflicht dürfte ein subjektiv-öffentliches Recht entsprechen. Der vorliegende Sachverhalt unterscheidet sich indes grundlegend von der vorgenannten Konstellation, weil die Zuständigkeitsprüfung abgeschlossen ist und jener Mitgliedsstaat feststeht, welcher dem Asylantragsteller Obhut, Versorgung und die Prüfung seines Asylbegehrens schuldet.

Abgesehen davon vereitelt sogar der Antragsteller selbst die Sachprüfung seines Asylbegehrens, indem er sich nicht - der Ausreisepflicht folgend - in jenen Mitgliedsstaat begibt, der sich dazu bekannt hat, für den Antragsteller verantwortlich zu sein. Ein solches Verhalten bindet nicht nur die Verwaltungskraft der zuständigen Behörden zum Nachteil derjenigen Asylantragsteller, die von der für sie originär zuständigen Bundesrepublik ein zügiges Verfahren erwarten dürfen, sondern führt auch dazu, dass die nach Ablauf der Überstellungsfrist erhobene Forderung nach einer nunmehr zügigen Sachprüfung im Bundesgebiet sich als "venire contra factum proprium" ausnimmt (so auch VG Düsseldorf, Beschluss vom 09. Januar 2015 – 13 L 2878/14.A – Rn. 13 Juris).

Lediglich ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich die Abschiebungsanordnung nicht etwa durch Ablauf der Überstellungsfrist i.S.d. § 43 Abs. 2 VwVfG erledigt hat, was eine Abschiebung mangels Grundlage allerdings rechtswidrig werden ließe. Dass eine nachträgliche Änderung der für den Erlass des Verwaltungsakts maßgeblichen Sach- oder Rechtslage die Wirksamkeit des Verwaltungsakts grundsätzlich unberührt lässt, folgt aus der der Vorschrift des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG zugrunde liegenden Wertung. Hat danach die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat, können geänderte Umstände nur dann unmittelbar zum Wirksamkeitsverlust des Verwaltungsakts führen, wenn sie ihn ausnahmsweise gegenstandslos machen. Ob von einer derartigen Gegenstandslosigkeit auszugehen ist, hängt davon ab, ob der Verwaltungsakt nach seinem Inhalt und Zweck und gegebenenfalls im Zusammenhang mit den Vorschriften, auf denen er beruht, Geltung auch gerade für den Fall der veränderten Umstände beansprucht oder nicht (BVerwGE 143, 87-118, Rn. 25). Dass die Abschiebungsanordnung auch nach Ablauf der Sechsmonatsfrist Geltung beansprucht, ergibt sich schon daraus, dass selbst im Verhältnis zum aufnehmenden Mitgliedsstaat dieser Fristablauf keineswegs einen automatischen Zuständigkeitswechsel bewirkt. Die Möglichkeit, die Frist nach Art. 29 Abs. 2 Satz 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013 zu verlängern, zeigt, dass die Zuständigkeit nicht ipso iure wechselt, sondern einen Akt wertender Erkenntnis voraussetzt, zumal dem überstellenden Staat bei der Entscheidung, die Frist zu verlängern, offensichtlich Ermessen eingeräumt ist. [...]