VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 10.02.2015 - 29 K 222.13 V - asyl.net: M22744
https://www.asyl.net/rsdb/M22744
Leitsatz:

Die doppelte Staatsangehörigkeit eines deutschen Stammberechtigten begründet keine besonderen Umstände, um entgegen der gesetzlichen Regel den Ehegattennachzug von einer Sicherung des Lebensunterhalts abhängig zu machen.

§ 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG steht dem Anspruch auf Visumserteilung nicht entgegen, wenn der Nachzug zu keiner Erhöhung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die bereits hier lebenden Angehörigen des Stammberechtigten führt.

Einkommen des nicht unterhaltspflichtigen Stiefvaters kann zur Sicherung des Lebensunterhaltes dienen, wenn das nachziehende Stiefkind mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben wird (§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II).

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: doppelte Staatsangehörigkeit, Stammberechtigter, deutsche Staatsangehörigkeit, deutscher Stammberechtigter, Ehegattennachzug, Sicherung des Lebensunterhalts, nationales Visum, SGB II, Einkommen, Bedarfsgemeinschaft, deutscher Ehegatte, atypischer Ausnahmefall, Unterhaltsanspruch, Familiennachzug, Kindernachzug,
Normen: AufenthG § 27 Abs. 3 S. 1, SGB II § 9 Abs. 2 S. 2, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 1, AufenthG § 27, AufenthG § 28, AufenthG § 2 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

I. Die Klägerin zu 1 hat einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug zu ihrem deutschen Ehemann nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG. Bei diesem Anspruch kommt es nach § 28 Abs. 1 Satz 3 AufenthG in der Regel nicht darauf an, ob der Lebensunterhalt gesichert ist. Entgegen der Auffassung der Beklagten liegt kein atypischer Fall vor. Es kann dahingestellt bleiben, ob der Ehemann der Klägerin zu 1 tatsächlich entgegen § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 StAG und entgegen seinen Angaben gegenüber der Botschaft vom 8. Februar 2013 neben der deutschen noch über die pakistanische Staatsangehörigkeit verfügt, da die weitere Staatsangehörigkeit nicht zu einer Beschränkung der Rechtswirkungen der deutschen führt, insbesondere des Rechts auf Aufenthalt in Deutschland nach Art. 11 GG. Die doppelte Staatsangehörigkeit eines deutschen Stammberechtigten begründet entgegen der Gesetzesbegründung (BT-Drs. 16/5065 S. 171) keine besonderen Umstände, um entgegen der gesetzlichen Regel den Ehegattennachzug von einer Sicherung des Lebensunterhalts abhängig zu machen (BVerwG, Urteil vom 4. September 2012 – BVerwG 10 C 12.12 –, BVerwGE 144, 141 = juris Rdnr. 30).

Der Erteilungsanspruch wird durch den Sozialhilfebezug der Kinder des Ehemannes aus erster Ehe nicht berührt. Nach Auffassung der Kammer greift § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG regelmäßig dann nicht zu Lasten des nachzugswilligen Ehegatten, wenn ein Bezug von Leistungen nach dem zweiten oder zwölften Buch Sozialgesetzbuch nur für Kinder der Bezugsperson in Betracht kommt, da deren Unterhaltsanspruch dem des nachziehenden Ehegatten gemäß § 1609 BGB vorgeht (Urteil vom 25. September 2013 – VG 29 K 186.12 V –, AuAS 2013, 247 = juris Rdnr. 24). Dies entspricht auch dem Zweck des Gesetzes, wonach mit der Regelung des § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG dem Schutz der öffentlichen Kassen auch in Fällen Rechnung getragen werden können soll, in denen durch den Zuzug von Familienangehörigen die Sicherung des Lebensunterhalts für Personen in Frage gestellt wird, denen der Unterhaltsverpflichtete, zu dem der Zuzug stattfindet, bisher Unterhalt geleistet hat, weil nunmehr vorrangig den hinzukommenden Familienangehörigen Unterhalt gewährt wird (BT-Drs. 15/420 S. 81). Bei der Interessenabwägung ist daher maßgeblich zu berücksichtigen, in welchem Umfang der Nachzug in Bezug auf andere Personen zu einer stärkeren Belastung der Sozialsysteme führt. Dies ist dann nicht der Fall, wenn der Nachzug zu keiner Erhöhung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem SGB II für die bereits hier lebenden Angehörigen führt (BVerwG, Urteil vom 13. Juni 2013 – BVerwG 10 C 16/12 –, InfAuslR 2013, 364 = juris Rdnr. 34).

II. Die Klägerin zu 2 hat einen Anspruch auf Erteilung eines Visums zum Familiennachzug mit ihrer Mutter, der Klägerin zu 1, nach § 32 Abs. 1 und 3 AufenthG. Auch hier ist ein atypischer Fall, der ein Abweichen von der Sollbestimmung des § 32 Abs. 3 AufenthG rechtfertigen könnte, nicht ersichtlich. Der Erteilung stünde es lediglich entgegen, wenn der Lebensunterhaltes nicht i.S.v. § 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesichert wäre. Der Lebensunterhalt ist aber gesichert.

Nach § 2 Abs. 3 Satz 1 AufenthG ist der Lebensunterhalt der Klägerin zu 2 dann gesichert, wenn sie ihn ohne Inanspruchnahme öffentlicher Mittel bestreiten kann. Dabei kann das Einkommen des Ehemannes ihrer Mutter, also ihres Stiefvaters, berücksichtigt werden auch ohne dass dieser eine ausdrückliche Verpflichtungserklärung gemäß § 68 AufenthG abgibt. Die Klägerin zu 2 wird im Falle ihres Nachzuges mit ihm in einer Bedarfsgemeinschaft leben (§ 9 Abs. 2 Satz 2 SGB II, vgl. BSG, Urteil vom 13. November 2008 – B 14 AS 2/08 R –, BSGE 102, 76 = juris Rdnr. 29 ff.). Damit ist ein Leistungsbezug ausgeschlossen, solange der Stiefvater über ausreichendes Einkommen verfügt. Schließlich wird die Klägerin zu 2 gemäß § 10 Abs. 4 Satz 1 SGB V über ihren ausweislich der Lohnabrechnungen gesetzlich versicherten Stiefvater krankenversichert sein.

Das Stiefvater verfügt seit Januar 2015 über ein Bruttoeinkommen von 1.400,- €. Gründe, daran zu zweifeln, sind nicht ersichtlich, insbesondere nicht unter dem Gesichtspunkt, dass der Lohn zum Jahreswechsel erheblich erhöht wurde, ohne dass dem Änderungsvertrag dafür eine Begründung zu entnehmen ist. Die Lohnerhöhung dürfte allein schon dadurch geboten gewesen sein, dass bei einer wöchentlichen Arbeitszeit von bis 45 Stunden der bisherige Lohn nicht dem nunmehr geltenden Mindestlohn entsprochen hätte. Zudem ist der Stiefvater seit etwa fünf Jahren beim selben Arbeitgeber beschäftigt und hat während dieser Zeit offenbar durchgängig einen unveränderten Monatslohn von 1.180,- € erhalten. Die Lohnerhöhung von ca. 18 % erscheint dabei nicht so außergewöhnlich, dass sie nicht durch die Dauer der Betriebszugehörigkeit, als Inflationsausgleich sowie wegen Bewährung im Beruf gerechtfertigt sein könnte. In Steuerklasse 3 hat er damit auch bei nur einem Kinderfreibetrag keine Lohnsteuer zu entrichten. Abzüglich der Sozialversicherungsbeiträge – ausweislich der Lohnabrechnung vom Dezember 2014 im Jahre 2014 2.866,93 €, also ca. 20,2 % des Bruttoeinkommens von 14.210,- € – verbleiben somit 1.117,54 € monatlich zzgl. Kindergeld für die Klägerin zu 2 i.H.v. 184,- € (vgl. § 2 Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 AufenthG), insgesamt also 1.301,54 €. Dieser Betrag ist nach § 850c ZPO i.V.m. Nr. 1 der Pfändungsfreigrenzenbekanntmachung 2013 (BGBl. I S. 710) in voller Höhe unpfändbar (1 045,04 € für den Stiefvater selbst, 393,30 € für die Klägerin zu 1), so dass durchsetzbare Unterhaltsansprüche der Kinder des Stiefvaters aus erster Ehe nur bei einem diese Grenze übersteigenden Mehreinkommen des Stiefvaters anfallen könnten.

Der Bedarf der Klägerin zu 1 und ihres Ehemannes beträgt nach § 20 SGB II i.V.m. der Bekanntmachung vom 15. Oktober 2014 (BGBl. I S. 1620) (2 x 360,- € =) 720,- € zzgl. 100,- € gemäß § 11b Abs.2 Satz 1 SGB II für den Ehemann, derjenige der Klägerin zu 2 267,- € zzgl. Mehrbedarfe nach § 28 3 und 7 Satz 1 SGB II i.H.v. 18,33 €, insgesamt also 1.115,33 €.

Angesichts des danach für Wohnzwecke zur Verfügung stehenden Betrages von 186,21 € kann es dahingestellt bleiben, ob die Wohnungsmiete Betriebskosten mit umfasst. Jedenfalls besteht kein hinreichender Zweifel daran, dass die Miete auf Grund der nach dem Mietvertrag zu erbringenden Dienstleistungen tatsächlich nur 60,- € beträgt. Soweit Beklagte und Beigeladene weiterhin von "Gefälligkeitsbescheinigungen" reden, versuchen sie ersichtlich die an früheren Bescheinigungen gehegten Zweifel zu übertragen. Hinsichtlich der ursprünglich bescheinigten Spesenzahlungen mag dies sogar zutreffend gewesen sein, hinsichtlich des Mietvertrages für die ursprüngliche Wohnung waren die Zweifel jedoch zu substanzlos, als dass dem weiter nachzugehen gewesen wäre. Zweifel bestanden lediglich zwischenzeitlich am tatsächlichen Wohnort des Stiefvaters mit der daran anschließenden Frage, ob er weiterhin Miete für seine ursprüngliche Wohnung und zusätzlich für die weitere Wohnung in L. – ggf. in welcher Höhe – zahlte, was die Sicherung des Lebensunterhaltes tatsächlich in Frage gestellt hätte. Dass Derartiges jetzt noch im Raume stünde, ist nicht ersichtlich.

Auch hier eröffnet der Leistungsbezug der Kinder des Stiefvaters aus erster Ehe nicht den in § 27 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eingeräumten Ermessensspielraum; insoweit wird auf die obigen Ausführungen verwiesen. [...]