Die Regelung des § 71 a AsylVfG greift dann nicht, wenn das Asylverfahren im ursprünglich zuständigen Mitgliedsstaat lediglich wegen Nichtbetreibens ohne sachliche Prüfung eingestellt wurde. In einem solchen Fall ist der etwa nach Ablauf der Überstellungsfrist nunmehr zuständige Mitgliedsstaat verpflichtet, den Antrag auf internationalen Schutz umfassend zu prüfen.
(Amtlicher Leitsatz)
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Nach Art. 18 Abs. 2 der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 prüft der zuständige Mitgliedsstaat in allen dem Anwendungsbereich des Absatzes 1 Buchstabe a) und b) unterliegenden Fällen den gestellten Antrag auf internationalen Schutz oder schließt seine Prüfung ab.
Vorliegend ist ein Fall des Art. 18 Abs. 1 b) der genannten Verordnung gegeben. Unstreitig haben die Antragsteller am 04. Januar 2013 einen Antrag auf Flüchtlingsschutz in Polen gestellt, wobei dieses Verfahren ausweislich der Auskunft der Liaisonmitarbeiterin der Antragsgegnerin vom 11. März 2014 am 8. März 2013 aufgrund des Nichtbetreibens eingestellt wurde.
Der am 28. Januar 2013 gegenüber der Antragsgegnerin gestellte neuerliche Asylantrag erfolgte mithin während der Prüfung des in Polen gestellten Antrages. In diesen Fällen ist der zuständige Mitgliedstaat nicht berechtigt, den neuerlichen Antrag als Folgeantrag zu behandeln. Vielmehr hat er den Antrag auf internationalen Schutz zu prüfen oder aber die Prüfung abzuschließen. Dies ergibt sich auch aus der Regelung in Art. 18 Abs. 2 S. 2 Verordnung (EU) Nr. 604/2013, nach der solange eine Entscheidung in der Sache nicht ergangen ist, der neuerliche Antrag nicht als Folgeantrag behandelt werden darf. Aus dem Regelungszusammenhang der Bestimmungen und Sinn und Zweck der Regelung dem Antragsteller grundsätzlich eine Prüfung in der Sache zu ermöglichen, folgt, dass die für einen Folge- oder aber wie hier – Zweitantrag - geltenden einschränkenden Regelungen nicht anzuwenden sind, solange der Antrag nicht in der Sache geprüft wurde; die bloße Einstellung des Verfahrens wegen Nichtbetreibens reicht insoweit nicht.
Eine sachliche Prüfung des Asylbegehrens der Antragsteller ist bisher nicht erfolgt. Diese ist von dem zuständigen Mitgliedsstaat nachzuholen. Dabei ist es für die Bewertung des erneuten Antrags des Antragstellers unbeachtlich, ob dieser im ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat gestellt wurde oder aber – wie hier – wegen Ablaufs der Überstellungsfrist ein anderer Mitgliedstaat zuständig geworden ist. Der bloße Zuständigkeitswechsel führt für sich nicht zu einem Verlust von Rechten des Antragstellers im Verfahren hinsichtlich der Zuerkennung oder Aberkennung des internationalen Schutzes.
Eine solche Sicht der Dinge steht auch in Übereinstimmung mit den Regelungen der Richtlinie 2013/32/ EU des europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 (Verfahrensrichtlinie).
Nach Artikel 2 q) der Richtlinie gelten die Vorschriften des Abschnittes IV über Folgeanträge nur dann, wenn die Asylbehörde den Antrag nach der stillschweigenden Rücknahme durch den Antragsteller gemäß Art. 28 Abs. 1 abgelehnt hat. Dabei kann vorliegend offen bleiben, ob in Ansehung der Regelung in Art. 28 RL 2013/32/2013 der Fall einer Nichtbetreibung des Verfahrens dem einer stillschweigenden Antragsrücknahme gleichzusetzen ist. Jedenfalls weist Art. 28 der Richtlinie zwei Möglichkeiten der Verfahrensbeendigung auf nämlich die Prüfung des Antrags einzustellen oder aber den Antrag nach angemessener inhaltlicher Prüfung abzulehnen. Nur im letztgenannten Fall liegt eine Ablehnung des Antrags nach Artikel 2 q) vor mit der Folge, dass der weitere Antrag ein Folgeantrag im Sinne der Richtlinie ist.
Wird hingegen das Verfahren lediglich eingestellt, greifen nicht die Vorschriften für einen Folgeantrag, sondern sind die weiteren in Art. 28 enthaltenen Regelungen beachtlich etwa dahingehend, dass der Antragsteller berechtigt ist, um die Wiederöffnung des Verfahrens zu ersuchen oder einen neuen Antrag stellen kann, der gerade nicht nach Maßgabe der Art. 40 und 41 zu prüfen ist, vgl. Art. 28 Abs. 2 RL/2013 32/EU.
Dass insoweit eine Besserstellung der Rechte der Asylbewerber im Vergleich zur vorhergehenden Richtlinie vorgesehen ist, lässt sich auch ohne weiteres den der Richtlinie vorangestellten Erwägungen entnehmen. Während es noch in den Erwägungen zu 15 der Richtlinie 2005/85/EG des Rates vom 01. Dezember 2005 heißt, dass es, wenn der Antragsteller eine Folgeantrag stellt, unverhältnismäßig wäre, die Mitgliedstaaten zur erneuten Durchführung des gesamten Prüfungsverfahrens zu verpflichten und deshalb den Mitgliedsstaaten Verfahren zur Auswahl stehen sollen, die Ausnahmen von den Garantien vorsehen, die der Antragsteller normalerweise genießt, heißt es in der Richtlinie 2013/32/EU in den Erwägungen zu 36 in Satz 2 einschränkend, dass in diesen Fällen, die Mitgliedstaaten einen Antrag gemäß dem Grundsatz der rechtskräftigen entschiedenen Sache (res iudicata) als unzulässig abweisen können, wobei dies in den Bestimmungen der Artikel 2 q), 28 und Art. 40 ff. seine spezielle Ausformung erfahren hat.
Einer Entscheidung dahingehend, ob § 71a AsylVfG wegen der Vorwirkung der genannten Richtlinie (vgl. im Einzelnen: Haratsch/Koenig/Pechstein, Europarecht, 7. Auflage, Rdnr. 387 auch unter Hinweis auf BGHZ 138, 55), deren Umsetzungsfrist nach Art. 51 noch nicht abgelaufen ist, bereits jetzt einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass ein Asylverfahren erst dann abgeschlossen ist, wenn der Antrag nach sachlicher Prüfung abgelehnt wurde, nicht schon dann gilt, wenn das Verfahren im Drittstaat - etwa wegen Nichtbetreibens - lediglich eingestellt wurde, bedarf es vorliegend wegen des sich aus dem Sekundärrecht - hier der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 - ergebenden Anwendungsvorrangs europarechtlicher Vorschriften freilich nicht.
Kommen nach alledem die sich aus § 71 AsylVfG ergebenden verfahrensrechtlichen Bestimmungen nicht zur Anwendung, erweist sich auch die in dem angegriffenen Bescheid enthalten Abschiebungsandrohung mit der dort aufgenommenen Fristenregelung als rechtswidrig. Die Vorschriften der §§ 34-36 gelten gemäß § 71 Abs. 4 AsylVfG nämlich nur dann, wenn ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt wird. Vorliegend ist ein solches jedoch noch durchzuführen.
Die aufschiebende Wirkung der Klage der Antragsteller ist auch deshalb anzuordnen, da gemäß § 75 Abs. 1 AsylVfG die Klage gegen Entscheidungen nach diesem Gesetz in den Fällen des § 38 Abs. 1 aufschiebende Wirkung hat. Die aufschiebende Wirkung der Klage entfällt lediglich in den Fällen einer Unbeachtlichkeit oder offensichtlichen Unbegründetheit des Asylantrages oder dann, wenn die Regelungen über einen Folgeantrag bzw. Zweitantrag greifen und die Voraussetzungen für die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens nicht vorliegen. Die letztgenannten Vorschriften sind - wie bereits ausgeführt wurde - vorliegend nicht anwendbar. Ferner ist nach Maßgabe des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens – auch in Ansehung des Vorbringens des Antragstellers zu 1. bei seiner Anhörung am 12. März 2014 – jedenfalls nicht offensichtlich, dass die Asylanträge der Antragsteller unbeachtlich oder offensichtlich unbegründet wären.
Der Umstand, dass die Antragsteller über einen sicheren Drittstaat eingereist sind führt nicht zu einem anderen Ergebnis. Zwar kann ein Ausländer, der aus einem Drittstaat im Sinne des Art. 16 Abs. 2 S. 1 des Grundgesetzes (sicherer Drittstaat) eingereist ist, sich nicht auf Art. 16 Buchst. a Abs. 1 des Grundgesetzes berufen mit der Folge, dass er nicht als Asylberechtigter anerkannt wird. Jedoch gilt nach § 26 Abs. 1 S. 3 AsylVfG dies dann nicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. Die Zuständigkeit ist hier aber gegeben, da nach Ablauf der Überstellungsfrist, vgl. Art. 20 Abs. 2 der hierfür noch maßgebenden Verordnung (EG) 343/2003, die Bundesrepublik Deutschland zur Prüfung der Asylverfahren der Antragsteller zuständig geworden ist (vgl.: Verwaltungsgericht B-Stadt, Urteil vom 31. Oktober 2014 – 33 K 155.14 A -, zitiert nach juris).
Eine andere im vorläufigen Rechtsschutzverfahren nicht abschließend zu klärende Frage ist, ob in dem hier vorliegenden Fall, dass die Antragsgegnerin die Voraussetzungen für die Annahme eines Zweitbescheidsverfahrens verkannt hat, das von den Antragstellern im Klageverfahren geltend gemachte Verpflichtungsbegehren zulässig ist, da dies eine Erstbefassung des Begehrens durch die Antragsgegnerin voraussetzt, mithin es an der Spruchreife fehlen könnte (vgl. BVerwG, Urteil vom 05. September 2013 – 10 C 1.13 -; VG Ansbach, Urteil vom 19. August 2014 – AN 1 K 14.50026 -, VG B-Stadt, a.a.O. – jeweils zitiert nach juris) oder vorliegend etwas anderes deshalb gilt, da die Antragsteller zur ihren Asylgründen bereits umfassend angehört wurden.
Selbst wenn ein Durchentscheiden als zulässig anzusehen wäre, würde dies an der Rechtswidrigkeit der Entscheidung der Antragsgegnerin, ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen mit der in dem Bescheid aufgenommenen Abschiebungsandrohung, nichts ändern. Auch könnte die Frage, ob den Antragstellern internationaler oder nationaler Schutz zu gewähren wäre, erst nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung verlässlich beantwortet werden. [...]