Bundesverwaltungsgericht der Schweiz

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Zitieren als:
Bundesverwaltungsgericht der Schweiz, Urteil vom 12.03.2015 - E-6629/2014 - asyl.net: M22754
https://www.asyl.net/rsdb/M22754
Leitsatz:

Bei der nach den Grundsätzen der Tarakhel-Entscheidung des EGMR vor einer Dublin-Überstellung einzuholenden behördlichen Garantie einer kindgerechten und die Einheit der Familie wahrenden Unterbringung handelt es sich nicht um eine bloße Überstellungsmodalität, sondern um eine materielle Voraussetzung für die Zulässigkeit der Überstellung (nach Italien).

Schlagwörter: EGMR, Tarakhel, Dublin III-Verordnung, Dublinverfahren, Italien, Aufnahmebedingungen, Kinder, besonders schutzbedürftig, Garantie, Zusicherung, Unterbringung, Unterkunft, Überstellung, kindgerechte Unterbringung, Selbsteintritt, gerichtliche Überprüfbarkeit, effektiver Rechtsschutz,
Normen: EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

4.1 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) weist in seinem Urteil Tarakhel zunächst darauf hin, dass die Schweiz gemäss der Souveränitätsklausel der Dublin-III-VO berechtigt sei, auf einen Asylantrag einzutreten und das Asylverfahren durchzuführen. Dementsprechend könne nicht behauptet werden, die Schweiz sei aufgrund einer internationalen Vereinbarung zu einer Rückführung in einen anderen Mitgliedstaat verpflichtet. Angesichts dieser Tatsache habe die Schweiz die Verantwortung aus Art. 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK, SR 0.101) zu tragen (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a.a.O., § 88 ff.).

Hinsichtlich der Lebensbedingungen von asylsuchenden Personen in Italien stellte der Gerichtshof keine systemischen Mängel fest. Die heutige Lage Italiens sei nicht mit derjenigen von Griechenland (vgl. Urteil des EGMR M.S.S. gegen Belgien und Griechenland vom 21. Januar 2011, Grosse Kammer, Nr. 30696/09) vergleichbar. Die Struktur und der allgemeine Zustand der Aufnahmebedingungen in Italien würden noch kein grundsätzliches Hindernis für Asylsuchende darstellen, auch wenn Zweifel hinsichtlich der Kapazitäten nicht ausgeschlossen werden könnten (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a.a.O., § 114 f. und 120).

Des Weiteren ruft der EGMR in Erinnerung, dass die Anwendbarkeit von Art. 3 EMRK ein gewisses Mindestmass an Schwere voraussetze, welche jedoch relativ sei und von den Umständen des Einzelfalles abhänge. Als besonders benachteiligte und verletzliche Gruppe ("categorie de la Population particulierement defavorisée et vulnerable") würden asylsuchende Personen einen speziellen Schutz benötigen, welcher umso wichtiger werde, wenn es sich dabei - angesichts ihrer speziellen Bedürfnisse und ihrer Verletzlichkeit ("eu égard à leurs besoins particuliers et à leur extreme vulnerabilité") - um Kinder handle (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a.a.O., § 118 f.). Angesichts der erwähnten ernsthaften Zweifel an den aktuellen Kapazitäten der italienischen Aufnahmestrukturen bestehe eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass Dublin-Rückkehrer in Italien keine oder nur eine überfüllte Unterkunft vorfinden würden, wo keinerlei Privatsphäre, wenn nicht gar gesundheitsgefährdende und gewaltgeprägte Bedingungen herrschten (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a.a.O., § 115 und 120). Daraus folge, dass es eine Verletzung von Art. 3 EMRK darstellen würde, wenn die Schweizer Behörden eine Überstellung von Familien mit Kindern nach Italien vornähme, ohne zuvor von den italienischen Behörden eine individuelle Garantie erhalten zu haben, dass für eine kindgerechte Unterbringung gesorgt sei und die Einheit der Familie gewahrt werde (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a.a.O., § 122).

4.2 Das BFM stellte sich in seiner Vernehmlassung vom 28. November 2014 auf den Standpunkt, die fraglichen individuellen Garantien seien erst im Zeitpunkt des Vollzugs einzuholen. Es handle sich dabei um blosse Überstellungsmodalitäten und nicht um Voraussetzungen, welche bereits vor Erlass des Nichteintretensentscheides und der Anordnung der Überstellung vorliegen müssten, zumal auch praktische Überlegungen für ein solches Vorgehen sprechen würden, könne doch zwischen einem rechtskräftigen Erlass der Überstellungsanordnung und dem effektiven Moment der Überstellung geraume Zeit verstreichen.

4.3 Das Bundesverwaltungsgericht teilt diese Ansicht nicht Das Vorliegen der von den italienischen Behörden einzuholenden Garantien einer kindgerechten und die Einheit der Familie respektierenden Unterbringung ist nicht eine blosse Überstellungsmodalität, sondern stellt gemäss dem Urteil Tarakhel des EGMR eine materielle Voraussetzung der völkerrrechtlichen Zulässigkeit einer Überstellung nach Italien dar. Als solche muss sie einer gerichtlichen Überprüfung offenstehen (vgl. dazu BVGE 2010/45. welcher sich zu Überstellunghindernissen aus internationalem Recht äussert). Dass das Bundesverwaltungsgericht die Zulässigkeit einer Überstellung in den Mitgliedstaat im Lichte von Art. 3 EMRK lediglich im Sinne einer Prüfung "unter Bedingungen" (nämlich unter der Bedingung künftiger Modalitäten des Vollzugs) kontrollieren könnte, entspricht nicht der Konzeption des Gesetzgebers. Vielmehr stellt in Dublin-Verfahren die Zulässigkeit einer Überstellung (generell das Fehlen von Überstellungshindernissen) eine Voraussetzung dafür dar, dass das SEM einen Nichteintretensentscheid gestützt auf Art. 31 a Abs. 1 Bst. b AsylG fällen kann (vgl. BVGE 2010/45 E. 10). Da eine gerichtliche Überprüfung von Vollzugsmodalitäten nach Vorliegen eines rechtskräftigen Überstellungsentscheides nicht mehr vorgesehen ist, muss die Überprüfungsmöglichkeit eines solchen Entscheides für eine Familie, welche im Rahmen der Dublin-III-VO nach Italien überstellt werden soll, im ordentlichen Beschwerdeverfahren bestehen, und es müssen demnach bezüglich Italien die im Sinne des erwähnten Urteils des EGMR erforderlichen konkreten individuellen Garantien im ordentlichen Verfahren - und nicht erst im Vollzugsstadium - vorliegen. Blosse generelle Absichtserklärungen seitens Italien können nicht ausreichen, um eine allfällige Verletzung von Art. 3 EMRK ausschliessen zu können. Entsprechend den Voraussetzungen, wie sie im Urteil Tarakhel des EGMR genannt sind, muss im Zeitpunkt der Verfügung des SEM eine konkrete und individuelle Zusicherung - insbesondere unter Namens- und Altersangaben der betroffenen Personen - vorliegen, mit welcher namentlich garantiert wird, dass eine dem Alter der Kinder (oder des Kindes) entsprechende Unterkunft bei der Ankunft der Familie in Italien zur Verfügung steht und dass die Familie bei der Unterbringung nicht getrennt wird (vgl. Urteil des EGMR Tarakhel gegen Schweiz, a,a.O., § 120).

4.4 Im vorliegenden Verfahren betreffend die Beschwerdeführerin und ihre vier minderjährigen Kinder finden sich entsprechende individuelle und konkrete Garantien nicht in den Akten und sind auch im Rahmen des Vernehmlassungsverfahrens nicht eingeholt und dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt worden. Der entscheidrelevante Sachverhalt im Hinblick auf die Frage, ob eine Überstellung nach Italien völkerrechtskonform im Sinne von Art. 3 EMRK sei, ist demnach nicht rechtsgenüglich erstellt. Es erweist sich somit als angezeigt, die Sache zwecks Vornahme der erforderlichen Abklärungen an die Vorinstanz zurückzuweisen. [...]