OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 17.12.2014 - 7 B 44.13 - asyl.net: M22764
https://www.asyl.net/rsdb/M22764
Leitsatz:

Bei einer gegen die Durchführung der Abschiebung/Rücküberstellung nach Italien in Vollzug der Dublin-II-Verordnung gerichteten Unterlassungsklage kann der Kläger Einwendungen gegen den Zielstaat Italien grundsätzlich nicht mehr geltend machen, wenn die diesen Zielstaat angebende Abschiebungsandrohung unanfechtbar geworden ist.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Abschiebungsandrohung, Dublin II-VO, Fristversäumnis, Wiederaufnahme, Wiederaufnahme des Verfahrens, Abschiebungshindernis,
Normen: AufenthG § 58 Abs. 1 S. 1,
Auszüge:

[...]

I. Die gegen die Abschiebung/Überstellung des Klägers nach Italien gerichtete Klage ist als allgemeine Leistungsklage in Form der Unterlassungsklage zulässig. Eine Klage auf Unterlassung schlichten Verwaltungshandelns ist prinzipiell statthaft (vgl. Sodan in: Sodan/Ziekow, VwGO, 4. Aufl. 2014, § 42 Rn. 53). Bei der beabsichtigten Überstellung des Klägers nach Italien auf der Grundlage von Art. 16 Abs. 1 Buchst. c) der Dublin-II-Verordnung, die vorliegend nach der Übergangsvorschrift des Art. 49 Satz 2 Dublin III-VO weiterhin anwendbar ist, handelt es sich um schlichtes Verwaltungshandeln. Nach Art. 20 Abs. 1 Buchst. d) Satz 2 Dublin-II-VO erfolgt die Überstellung nach den "einzelstaatlichen Vorschriften des ersuchenden Mitgliedstaates (...)". Anwendbar sind somit die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes über die Abschiebung (§ 58 ff. AufenthG). Die Abschiebung stellt eine bundesgesetzlich geregelte besondere Form des verwaltungsvollstreckungsrechtlichen Zwangsmittels des unmittelbaren Zwangs dar. Als ein tatsächliches Mittel der Verwaltungsvollstreckung zur Durchsetzung der gesetzlichen Ausreise - pflicht ist sie ein Realakt, kein Verwaltungsakt (vgl. Funke-Kaiser in: GK-AufenthG [Stand: November 2014], § 58 Rn. 67). Eine Festsetzung des Zwangsmittels (vgl. § 14 VwVG) bzw. Anordnung der Abschiebung vor einer Abschiebung ist nach den insoweit speziellen Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes nicht notwendig (vgl. Bauer in: Renner/Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 10. Aufl. 2013, § 58 Rn. 28). Rechtsschutz gegen eine bevorstehende Abschiebung wird deshalb grundsätzlich über eine allgemeine Leistungsklage in Form der sogenannten Unterlassungsklage gewährt (vgl. Bauer, a.a.O., § 58 Rn. 32; Funke-Kaiser, a.a.O., § 58 Rn. 105).

II. Die Unterlassungsklage ist unbegründet. Die beabsichtigte Überstellung/Abschiebung des Klägers nach Italien ist – soweit sie im vorliegenden Verfahren noch überprüft werden kann – rechtmäßig und verletzt ihn nicht in seinen Rechten.

1. Die Voraussetzungen von § 58 Abs. 1 Satz 1 AufenthG liegen vor. Danach ist ein Ausländer abzuschieben, wenn die Ausreisepflicht vollziehbar ist, eine Ausreisefrist nicht gewährt wurde oder diese abgelaufen ist, und die freiwillige Ausreise nicht gesichert ist oder aus Gründen der öffentlichen Sicherheit und Ordnung eine Überwachung der Ausreise erforderlich ist. Der Kläger ist kraft Gesetzes vollziehbar ausreisepflichtig (§ 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AufenthG i.V.m. § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG). Die dem Kläger im Bescheid vom 2. Januar 2012 gesetzte Ausreisefrist von drei Tagen nach Zustellung des Bescheides (vgl. § 50 Abs. 2 AufenthG) ist abgelaufen. Die freiwillige Ausreise des Klägers, der durch sein Verhalten zu erkennen gegeben hat, dass er seiner Ausreisepflicht nicht nachkommen wird, ist nicht gesichert.

2. Des Weiteren setzt der Vollzug einer Abschiebung voraus, dass eine Abschiebungsandrohung ergangen und diese wirksam und vollziehbar ist (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 59 Rn. 7). Dies ist hier der Fall.

a. Der Bescheid vom 2. Januar 2012 ist dem Kläger am 12. Januar 2012 wirksam zugestellt worden. Das Erfordernis der Zustellung der Abschiebungsandrohung ergibt sich vorliegend zumindest aus § 1 Abs. 2 Alt. 2 VwZG i.V.m. § 5 VwVfG Bln, denn der Beklagte ordnete die Zustellung der Bescheides vom 2. Januar 2012 ausweislich des Zusatzes "Öffentliche Zustellung" über dem Adressfeld des Bescheides an. Von der zunächst unter dem 11. Januar 2012 verfügten öffentlichen Zustellung (§ 10 VwZG) ging der Beklagte anlässlich der Vorsprache des Klägers bei der Ausländerbehörde am 12. Januar 2012 über auf eine Zustellung gegen Empfangsbekenntnis (§ 5 Abs. 1 VwZG). Für eine formgerechte Zustellung mittels Empfangsbekenntnis fehlt es indessen an dem im Fall der – hier praktizierten – offenen Aushändigung des Bescheides auf dem Dokument selbst anzubringenden Vermerk über das Datum der Zustellung (§ 5 Abs. 1 Satz 4 Alt. 2 VwZG). Dieser Zustellungsmangel wurde jedoch geheilt. Nach § 8 VwZG gilt ein Dokument, das unter Verletzung zwingender Zustellvorschriften zugegangen ist, als in dem Zeitpunkt zugestellt, in dem es dem Empfangsberechtigten tatsächlich zugegangen ist. Letzteres war hier zur Überzeugung des Senats ausweislich des in der Ausländerakte befindlichen Empfangsbekenntnisses am 12. Januar 2012 der Fall. Der Einwand des Klägers, die auf dem Empfangsbekenntnis enthaltene Unterschrift stimme nicht mit der Unterschrift auf der anwaltlichen Vollmacht vom 21. Februar 2012 überein, spricht nicht dagegen, dass die Unterschrift vom Kläger stammt. Gewisse Unterschiede bei der Art der Unterzeichnung durch den Kläger mögen darauf beruhen, dass er mit lateinischen Schriftzeichen weniger vertraut sein dürfte und er außerdem nach seiner Ausreise aus dem Libanon in Italien und Deutschland unter verschiedenen Alias-Identitäten aufgetreten ist. Dafür, dass es sich bei der auf dem Empfangsbekenntnis vom 12. Januar 2012 enthaltenen Unterschrift um diejenige des Klägers handelt, spricht insbesondere der Umstand, dass sich aus dem weiteren Inhalt der Ausländerakte ergibt, dass der Kläger an diesem Tag bei der Ausländerbehörde persönlich vorgesprochen hat. Dieser Umstand wird neben den Angaben in dem Empfangsbekenntnis durch die vom Kläger bei seiner Vorsprache vorgelegte und sodann zu den Akten genommene Bescheinigung vom 15. Dezember 2011 (Bl. 35 der Ausländerakte) belegt, die eine Meldefrist bis zum 12. Januar 2012 enthielt. Dass an diesem Tag ein Mitarbeiter oder eine Mitarbeiterin der Ausländerbehörde namens R. dem Kläger den Bescheid vom 2. Januar 2012 gegen Empfangsbekenntnis – wie dort vermerkt – überreichte, wird außerdem durch die vom Kläger in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Kopie des an ihn ausgehändigten Originalbescheides vom 2. Januar 2012 bestätigt, der ebenfalls unter dem Unterschriftenfeld die – sich offenbar auf die Aushändigung des Bescheides beziehende - Unterschrift "i.V. R." trägt.

Der Kläger wurde im Bescheid vom 2. Januar 2012 auch zutreffend über die nach § 74 Abs. 1 Satz 2 VwGO i.V.m. § 4 Abs. 2 Satz 1 AGVwGO Bln geltende einmonatige Klagefrist belehrt, so dass der Lauf der Rechtsmittelfrist auch nicht gemäß § 58 Abs. 1 VwGO gehindert war. Der Einwand des Klägers, er habe die Rechtsmittelbelehrung des Bescheides mangels deutscher Sprachkenntnisse nicht verstehen können, greift nicht durch. Ausgehend von dem Grundsatz, dass die Gerichtssprache im verwaltungsgerichtlichen Verfahren nach § 55 VwGO i.V.m. § 184 GVG deutsch ist, setzt eine in deutscher Sprache richtig erteilte Rechtsmittelbelehrung die Rechtsbehelfsfristen auch gegenüber Ausländern in Lauf, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind (vgl. Czybulka/Kluckert in: Sodan, VwGO, a.a.O., § 58 Rn. 43 f.). Dies kann lediglich im Rahmen eines Antrags auf Wiedereinsetzung in den vorigen Stand eine Rolle spielen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19. April 1995 – 2 BvR 2295/94 – juris Rn. 20).

Mithin ist der dem Kläger am 12. Januar 2012 wirksam zugestellte Bescheid vom 2. Januar 2012 mit Ablauf des 13. Februar 2012, einem Montag, bestandskräftig geworden. Die erst am 6. März 2012 beim Verwaltungsgericht Berlin unter Ziffer 1. der Klageschrift u.a. gegen den Bescheid vom 2. Januar 2012 erhobene Anfechtungsklage wahrte die Klagefrist nicht. Unabhängig hiervon ist der Bescheid vom 2. Januar 2012 auch dann in Bestandskraft erwachsen, wenn man annehmen soll - te, dass ein tatsächlicher Zugang des Bescheides durch Übergabe am 12. Januar 2012 nicht nachweisbar ist. Denn eine Heilung des Zustellungsmangels gemäß § 8 VwZG ist jedenfalls am 21. Februar 2012 eingetreten. An diesem Tag hat der Kläger den Bescheid vom 2. Januar 2012 seinem Anwalt im Original vorlegt. Spätestens an diesem Tag muss ihm der Bescheid tatsächlich zugegangen seien. Im Fall einer Zustellung des Bescheides am 21. Februar 2012 hinderte zwar die am 6. März 2012 unter Ziffer 1. der Klageschrift u.a. gegen den Bescheid vom 2. Januar 2012 erhobene Anfechtungsklage zunächst den Eintritt der Bestandskraft. Diese ist sodann jedoch spätestens am 18. November 2013 eingetreten. An diesem Tag hat der Kläger seinen Antrag auf Zulassung der Berufung gegen das angefochtene Urteil, soweit darin die Berufung nicht zugelassen wurde, zurückgenommen.

b. Gründe für eine Nichtigkeit des Bescheides vom 2. Januar 2012 sind nicht ersichtlich. Insbesondere besteht ein Mangel des Bescheides, der zur Nichtigkeit führen könnte, nicht darin, dass dem Kläger, der im Zeitpunkt der Zustellung des Bescheides vom 2. Januar 2012 noch nicht anwaltlich vertreten war, keine Übersetzung der Entscheidungsformel und der Rechtsmittelbelehrung in arabischer Sprache zu Verfügung gestellt wurde. Gemäß § 77 Abs. 3 Satz 2 i.V.m. Satz 1 AufenthG ist dem Ausländer, der nicht durch einen Bevollmächtigten vertreten ist, u.a. im Fall einer Abschiebungsandrohung auf Antrag eine Übersetzung der Entscheidungsformel des Verwaltungsakts und der Rechtsbehelfsbelehrung zur Verfügung zu stellen. Einen solchen Antrag hat der Kläger, der bereits bei seiner Anhörung durch die Ausländerbehörde am 15. Dezember 2011 in einem Merkblatt in arabischer Sprache über seine Ausreisepflicht belehrt wurde, nicht gestellt. Des Weiteren musste dem Kläger auch deshalb keine Übersetzung zur Verfügung gestellt werden, weil er unerlaubt in das Bundesgebiet eingereist war (§ 77 Abs. 3 Satz 4 AufenthG).

c. Die Bestandskraft des Bescheides vom 2. Januar 2012 wurde auch nicht durch ein Wiederaufgreifen des Verfahrens (§ 51 VwVfG) durchbrochen. Den mit anwaltlichem Schreiben vom 22. Februar 2012 gestellten Antrag des Klägers, das Verfahren gemäß § 51 VwVfG wiederaufzugreifen, lehnte der Beklagte unter Ziffer 1. des Bescheides vom 24. Februar 2014 ab. Es kann hier dahinstehen, ob auch dieser Bescheid insoweit in Bestandskraft erwachsen ist oder ob der in der Klageschrift vom 6. März 2012 u.a. gegen die Ablehnung des Antrages auf Wiederaufgreifen des Verfahrens erhobene Widerspruch dem entgegensteht. Denn jedenfalls hat der Beklagte das Verfahren bislang nicht wiederaufgegriffen mit der Folge, dass die Bestandskraft des Bescheides vom 2. Januar 2012 im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung fortdauerte.

3. Eine Prüfung, ob der beabsichtigten Abschiebung nach Italien in Anwendung der Dublin-II-Verordnung Abschiebungsverbote im Sinne von § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder ein Vollstreckungshindernis im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG entgegenstehen, ist im vorliegenden Verfahren ausgeschlossen. Dem steht die Bestandkraft der unter Ziffer 2. des Bescheides vom 2. Januar 2012 ergangenen Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Italien entgegen. Im Verwaltungsvollstreckungsrecht gilt der Grundsatz, dass Bedingung für die Rechtmäßigkeit folgender Vollstreckungsakte und somit auch der Anwendung des Zwangsmittels lediglich die Wirksamkeit und nicht die Rechtmäßigkeit vorausgegangener Verwaltungsakte ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 16. Dezember 2004 – 1 C 30.03 – juris Rn. 15). Dieser Grundsatz ist auch im Fall der Vollstreckung einer gesetzlichen Ausreisepflicht im Wege der Abschiebung anwendbar (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 59 Rn. 174).

Dahinstehen kann, ob die Bestandskraft der Abschiebungsandrohung der Berücksichtigung von Abschiebungsverboten gegen den in der Abschiebungsandrohung genannten Zielstaat ausnahmsweise dann nicht entgegensteht, wenn mit der Unterlassungsklage nach Eintritt der Unanfechtbarkeit neu eingetretene oder vorher nicht bekannte bzw. erkennbare Abschiebungsverbote geltend gemacht werden (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 58 AufenthG Rn. 34). Denn solche Gründe macht der Kläger nicht geltend. Er beruft sich darauf, dass seine Abschiebung nach Italien wegen der ihm dort drohenden menschenrechtswidrigen Behandlung sowie wegen fehlerhafter Anwendung von Vorschriften der Dublin-II-Verordnung bereits im Zeitpunkt des Erlasses der Abschiebungsandrohung unzulässig gewesen sei. Soweit der Kläger im Schriftsatz vom 11. Dezember 2014 auf die neue Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) vom 4. November 2014 (Nr. 29217/12 [Tarakhel/Schweiz], zitiert nach HUDOC) verweist, ist nicht erkennbar, dass aus dieser etwas zu seinen Gunsten folgen würde. In der genannten Entscheidung hat die Große Kammer des EGMR im Fall einer afghanischen Familie mit sechs minderjährigen Kindern erkannt, dass Art. 3 EMRK verletzt ist, wenn die Beschwerdeführer nach Italien zurückgeführt werden, ohne dass die schweizerischen Behörden von Italien zuvor individuelle Garantien erhalten haben, wonach die Familie unter Berücksichtigung des Alters der Kinder behandelt wird und es sichergesellt ist, dass die Familie nicht getrennt wird. Der EGMR hat somit nicht etwa festgestellt, dass Überstellungen nach Italien wegen eines systemischen Versagens des dortigen Asylsystems unzulässig sind, vielmehr ausdrücklich betont,dass die Beschwerdeführer zu einer besonders benachteiligten und schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppe gehörten ("a member of a particularly underprivileged und vulnerable population group in need of special protection") und minderjährige Kinder als Asylantragsteller besonders schutzbedürftig seien (Rn. 99, 118, 119). Der heute 21-jährige, alleinstehende Kläger ist indessen nicht einer besonders benachteiligten oder schutzbedürftigen Bevölkerungsgruppe zuzurechnen, so dass er nicht geltend machen kann, dass in Bezug auf seine Abschiebung aus dem Urteil des EGMR ein neues Abschiebungsverbot folgen würde. Vor diesem Hintergrund bedarf es ebenfalls keiner Klärung, welche Bedeutung der Vorschrift des § 59 Abs. 4 Satz 1 Halbsatz 2 AufenthG zukommt (vgl. Funke-Kaiser, a.a.O., § 59 Rn. 171 ff.) und ob sich aus ihr überhaupt Auswirkungen auf das gerichtliche Verfahren ergeben. [...]