VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 09.12.2014 - 14 K 137.13 V - asyl.net: M22771
https://www.asyl.net/rsdb/M22771
Leitsatz:

Der Anspruch auf Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen von Unionsbürgern ergibt sich aus der Familienzusammenführungsrichtlinie, nicht aber dem FreizügG/EU oder dem Aufenthaltsgesetz. (Sich anschließend an das Urteil des VG Berlin vom 19.04.2012 - 3 K 1153.10 V - M23703)

Schlagwörter: Familienzusammenführung, Familiennachzug, Ehegattennachzug, Kindernachzug, Daueraufenthaltsberechtigte, Drittstaatsangehörige, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Familienzusammenführungsrichtlinie,
Normen: RL 2003/86/EG Art. 4 Abs. 1 S. 1 Bst. c, FreizügigG/EU § 4a,
Auszüge:

[...]

I.

Das Gericht teilt die in dem angefochtenen Remonstrationsbescheid vertretene Rechtsauffassung, dass als Anspruchsgrundlage für das klägerische Begehren nur Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (Familienzusammenführungsrichtlinie – FZRL –, ABl. L 251/12 vom 03.10.2003) näher in Betracht zu ziehen ist.

Das Verwaltungsgericht Berlin (3. Kammer) hat in einem der vorliegenden Klage vergleichbaren Verfahren, welches den Ehegatten- und Kindernachzug nigerianischer Kläger zu ihrem nach § 4a des Freizügigkeitsgesetzes/EU (– FreizügG/EU –) daueraufenthaltsberechtigten nigerianischen Ehemann bzw. Vater betraf, mit Urteil vom 19. April 2012 (VG 3 K 1153.10 V) bereits die Auffassung vertreten, dass weder das Freizügigkeitsgesetz/EU noch das Aufenthaltsgesetz eine Regelung für den vorliegend in Rede stehenden Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatsangehörigen enthalten, wenn der Zusammenführende – was hier unstreitig auch für den Vater der Klägerin gilt – allein die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten nach § 4a FreizügG/EU innehat. In dem genannten Urteil (Seite 6 ff. des amtlichen Entscheidungsabdrucks) führte das Gericht zur Begründung aus:

"Im Freizügigkeitsgesetz/EU ist jedoch nicht geregelt, in welcher Weise der Familiennachzug zu einem daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen eines Unionsbürgers […] erfolgen kann. Dieses Gesetz regelt lediglich die Einreise und den Aufenthalt von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten der Europäischen Union (Unionsbürgern) und ihrer Familienangehörigen (§ 1 FreizügG/EU), nicht aber den Familiennachzug von sog. Drittausländern zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen von Unionsbürgern. Auch in den allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu § 4a FreizügG/EU heißt es dementsprechend, der Familiennachzug zu Daueraufenthaltsberechtigten sei im Freizügigkeitsgesetz/EU nicht geregelt ist (Nr. 4a.0.2 VV, abgedruckt in: Renner, AuslR, 9. Aufl., § 4a FreizügG/EU; so auch Dienelt in: Renner, a.a.O., Rn. 27 ff.).

Hiervon ausgehend gibt es auch keine einschlägige Verweisung im Freizügigkeitsgesetz/EU auf die Vorschriften des Aufenthaltsgesetzes, die den Familiennachzug regeln. § 11 Abs. 1 Satz 1 bis 10 FreizügG/EU verweist nicht auf die §§ 27, 29, 30 und 32 AufenthG, in denen die Familienzusammenführung geregelt ist. Auch § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU, nach dem das Aufenthaltsgesetz auch dann Anwendung findet, wenn es eine günstigere Rechtsstellung als das Freizügigkeitsgesetz/EU vermittelt, führt vorliegend nicht dazu, dass die Familiennachzugsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes anwendbar wären. § 11 Abs. 1 Satz 11 FreizügG/EU soll als Auffangklausel sicherstellen, dass das Aufenthaltsgesetz immer dann Anwendung findet, wenn es im Einzelfall eine günstigere Rechtsstellung vermittelt, als das Freizügigkeitsgesetz/EU, so dass es nicht zu einer nach dem Gemeinschaftsrecht unzulässigen Schlechterstellung von Unionsbürgern gegenüber sonstigen Ausländern kommen kann (BT-Drs. 15/420, S. 105 f.). Da der Gesetzgeber aber davon abgesehen hat, den Familiennachzug zu daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen im FreizügG/EU zu regeln, vermittelt dieses Gesetz insoweit keine Rechtsstellung, die im Aufenthaltsgesetz günstiger geregelt sein könnte. Es spricht auch nichts dafür, dass der Gesetzgeber den in § 1 FreizügG/ EU bestimmten Anwendungsbereich ausweiten wollte, indem er auch für nicht in diesem Gesetz geregelte Rechtsstellungen das Aufenthaltsgesetz für anwendbar erklären wollte.

Die Voraussetzungen für den begehrten Familiennachzug der Kläger sind auch nicht im Aufenthaltsgesetz geregelt.

Die in §§ 4 ff., 27, 29, 30 und 32 Abs. 3 AufenthG für einen Ehegatten- und Kindernachzug enthaltenen Regelungen setzen voraus, dass der Ausländer, zu dem der Nachzug begehrt wird, im Besitz einer der im Aufenthaltsgesetz genannten Aufenthaltstitel ist. An dieser Voraussetzung fehlt es, weil Herr O. keinen der dort genannten Aufenthaltstitel besitzt. Er besitzt insbesondere nicht die in § 9a AufenthG genannte Erlaubnis zum Daueraufenthalt-EG, sondern ein Daueraufenthaltsrecht gemäß § 4a FreizügG/EU. Ungeachtet des terminologischen Gleichklangs sind die Erlaubnis zum Daueraufenthalt- EG einerseits sowie das Daueraufenthaltsrecht aus § 4a FreizügG/EU andererseits nach den Voraussetzungen und Rechtsfolgen strikt voneinander zu trennen (vgl. Marx in: GK-AufenthG, § 9a Rn. 7 ff. 9 ff.>). Die Erlaubnis nach § 9a AufenthG hat auch einen anderen europarechtlichen Anknüpfungspunkt, als das Daueraufenthaltsrecht des Herrn O. […]

Auch § 38a AufenthG führt nicht zur Anwendung der Familiennachzugsvorschriften des Aufenthaltsgesetzes. Herrn O. kann nach dieser Vorschrift keine Aufenthaltserlaubnis erteilt werden, die als Aufenthaltstitel im Sinne des Aufenthaltsgesetzes einen Familiennachzug ermöglichen könnte. Denn Herr O. hat die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten im Bundesgebiet und nicht, wie es der Wortlaut des § 38a Abs. 1 Satz 1 AufenthG ausdrücklich erfordert, in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union inne."

Das erkennende Gericht hat sich in der zitierten Entscheidung sodann mit der Frage einer europarechtlichen Anspruchsgrundlage für das Nachzugsbegehren von Drittausländern zu Daueraufenthaltsberechtigten Familienangehörigen von Unionsbürgern befasst. Es ist dabei zu dem Ergebnis gekommen, dass zwar nicht die Richtlinie 2004/38/ EG des europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten (Unionsbürgerrichtlinie – UBRL – ABl. L 158/77 vom 30.04.2004), wohl aber die Familienzusammenführungsrichtlinie als Anspruchsgrundlage herangezogen werden kann. In dem zitierten Urteil (Seite 8 f. des amtlichen Entscheidungsabdrucks) wird dazu ausgeführt:

"Die Unionsbürgerrichtlinie enthält jedoch keine Vorschriften dazu, in welcher Weise der Familiennachzug zu einem Daueraufenthaltsberechtigten ermöglicht werden soll oder muss. Sie regelt entsprechend ihrer Bezeichnung allein ‚das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten‘. Auch die den Artikeln der Richtlinie vorangestellten Erwägungsgründe geben keinen Hinweis darauf, dass darüber hinaus Rechte weiterer Drittstaatsangehöriger - wie der Kläger - geregelt werden sollen.

Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus Art. 24 Abs. 1 UBRL, in dem es zusammengefasst heißt, dass jeder daueraufenthaltsberechtigte Familienangehörige, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, vorbehaltlich spezifischer und ausdrücklich im Vertrag und im abgeleiteten Recht vorgesehener Bestimmungen die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaates genießt. Da die Unionsbürgerrichtlinie keinerlei Regelungen zur Familienzusammenführung von sonstigen Drittstaatsangehörigen zu Familienangehörigen von Unionsbürgern enthält und auch lediglich die Rechtsstellung der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen selbst regeln wollte, hat hier die Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung […] als spezielle Bestimmung den Vorrang.

Die Kläger […] können sich direkt auf diese Richtlinie berufen, da sie nicht vollständig in nationales Recht umgesetzt worden ist. Weder das Freizügigkeitsgesetz/EU noch das Aufenthaltsgesetz enthalten […] eine Regelung für den Familiennachzug von Drittstaatsangehörigen zu Drittstaatsangehörigen, wenn der Nachzug in den Mitgliedstaat den Europäischen Union erfolgen soll, in dem der Zusammenführende die Rechtsstellung eines langfristig Aufenthaltsberechtigten gemäß § 4a FreizügG/EU inne hat. Die Mitgliedstaaten waren verpflichtet, die Familienzusammenführungsrichtlinie vollständig bis spätestens 3. Oktober 2005 umzusetzen (Art. 20 FZRL). Nach Ablauf der Umsetzungsfrist entfalten die bis dahin nicht umgesetzten Regelungen der Richtlinie unmittelbare Wirkung. Sie begründen eine unbedingte Verpflichtung der Mitgliedstaaten und räumen dem Einzelnen hinreichend genau bestimmte Rechte ein. Auf solche Bestimmungen kann sich der Einzelne nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union vor den nationalen Gerichten gegenüber dem Staat berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß oder unzulänglich in nationales Recht umgesetzt hat (vgl. EuGH, Urteil vom 3. März 2011 - C- 203/10 - Nr. 61, juris m.w.N.)."

Die Einzelrichterin hält die rechtliche Argumentation in dem vorstehend auszugsweise zitierten Urteil für überzeugend und schließt sich ihr an.

II.

Auf der Basis der somit allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommenden Familienzusammenführungsrichtlinie kann der vorliegenden Klage jedoch ebenfalls kein Erfolg beschieden sein, weil die Voraussetzungen des insoweit hier allein einschlägigen Artikels 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c FZRL im Falle der Klägerin ebenfalls nicht erfüllt sind.

1. Die genannte Regelung, soweit hier relevant, lautet:

"Vorbehaltlich der in Kapitel IV sowie in Artikel 16 genannten Bedingungen gestatten die Mitgliedstaaten gemäß dieser Richtlinie folgenden Familienangehörigen die Einreise und den Aufenthalt:

a) …;

b) …

c) den minderjährigen Kindern, einschließlich der adoptierten Kinder des Zusammenführenden, wenn der Zusammenführende das Sorgerecht besitzt und für den Unterhalt der Kinder aufkommt. Die Mitgliedstaaten können die Zusammenführung in Bezug auf Kinder gestatten, für die ein geteiltes Sorgerecht besteht, sofern der andere Elternteil seine Zustimmung erteilt;

d) …"

Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Satz 1 FZRL betrifft nur den Kindernachzug zu einem Elternteil, welcher das alleinige Sorgerecht innehat. Dies ergibt sich im Umkehrschluss aus Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Satz 2 FZRL, wonach es bei geteiltem Sorgerecht, d.h. wenn beide Elternteile sorgeberechtigt sind, den Mitgliedstaaten überlassen bleibt, ob sie den Kindernachzug in diesen Fällen gestatten wollen oder nicht.

2. Das Gericht vermag vorliegend nicht festzustellen, dass der Vater der Klägerin für diese – bevor sie am 14.März 2013 volljährig wurde – das von Artikel 4 Abs. 1 Satz 1 Buchst. c Satz 1 FZRL geforderte alleinige Sorgerecht besaß. [...]