VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 31.10.2014 - 33 K 155.14 A - asyl.net: M22773
https://www.asyl.net/rsdb/M22773
Leitsatz:

Zuständigkeit für einen Asylfolgeantrag bei bestehendem subsidiären Schutz in einem Mitgliedstaat.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: subsidiärer Schutz, Dublin II-VO, Dublinverfahren, Zweitantrag, Überstellungsfrist, Ablauf der Überstellungsfrist, Fristablauf, subjektives Recht, unangemessen lange Verfahrensdauer, Verfahrensdauer, sichere Drittstaaten, Drittstaatenregelung, Unionsrecht,
Normen: AsylVfG § 71a, AsylVfG § 26a, VO 343/2003 Art. 19 Abs. 4, VO 343/2003 Art. 20 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

Die Anwendbarkeit der Dublin-II-Verordnung ist nicht deshalb zweifelhaft, weil dem Kläger in der Republik Polen der subsidiäre Schutzstatus zuerkannt worden ist. Aus Art. 1 Dublin-II-VO ergibt sich, dass deren Zweck darin besteht, die Kriterien und Verfahren festzulegen, die bei der Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen in einem Mitgliedstaat gestellten Asylantrags zuständig ist, zur Anwendung gelangen (vgl. EuGH, Urteil vom 3. Mai 2012 - Rs C-620/10 -, NVwZ 2012, S. 817 [818]). Der Kläger hat als russischer Staats- und damit Drittstaatsangehöriger (Art. 2 Buchst. a Dublin-II-VO) einen Antrag auf Anerkennung als Flüchtling in der Bundesrepublik Deutschland, einem Mitgliedstaat der Europäischen Union und damit Adressat der Dublin-II-VO, gestellt. Dabei handelt es sich auch um einen Asylantrag im Sinne der Dublin-II-VO. Dies folgt aus Art. 2 Buchst. c Satz 2 Dublin-II-VO, wonach "jeder" Antrag auf internationalen Schutz als Asylantrag angesehen wird. Eine Beschränkung auf Erstanträge bzw. ein Ausschluss von Folge- und Zweitanträgen ist der Dublin-II-VO nicht zu entnehmen (vgl. Hailbronner, AuslR, 70. Akt. 2010, § 71a AsylVfG, Rn. 6). Dies zeigt etwa Art. 16 Abs. 1 Buchst. e Dublin-II-VO, auf dessen Grundlage Polen der Rückübernahme des Klägers zugestimmt hatte und wonach ein Mitgliedstaat gehalten ist, einen Drittstaatsangehörigen, dessen Antrag er abgelehnt hat und der sich unerlaubt im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats aufhält, wieder aufzunehmen. Würde die Verordnung generell nur unbeschiedene Schutzbegehren erfassen, wäre diese Regelung ohne Anwendungsbereich. Auch die mittlerweile geltende Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (Asylverfahrensrichtlinie) zeigt ausdrücklich, dass das Dublin-Regime bei Folgeanträgen Anwendung finden soll. Denn nach Art. 40 Abs. 7 Asylverfahrensrichtlinie prüft der gemäß Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist, zuständige Mitgliedstaat weitere Angaben oder Folgeanträge. Zwar enthielt die Vorgängerrichtlinie keine vergleichbar ausdrückliche Regelung. Es ist aber nicht ersichtlich, dass insoweit vor Novellierung der Asylverfahrensrichtlinie etwas anderes gegolten haben könnte.

Auch die Dublin-II-VO erfasst danach Zweitverfahren und setzt nicht voraus, dass der Ausländer noch (gänzlich) schutzlos ist. Diese Auffassung wird offenkundig nicht nur von der Republik Polen, sondern im Hinblick auf die Bestimmung des § 71a AsylVfG auch von dem nationalen Gesetzgeber geteilt (vgl. BT-Drs. 16/5065, S. 219). Zwar bestimmt Art. 2 Buchst. d Dublin-II-VO, dass "Antragsteller" bzw. "Asylbewerber" im Sinne der Verordnung derjenige ist, der einen Asylantrag eingereicht hat, über den noch nicht endgültig entschieden worden ist. Der Kläger des hiesigen Verfahrens ist jedoch auch nach dieser Definition Asylbewerber im Sinne der Dublin-II-VO. Denn abzustellen ist insofern auf den jeweils gegenständlichen Asylantrag (vgl. VG Bremen, Beschluss v. 11. März 2014 - 1 V 153/14 -, BeckRS 2014, 48760; a.A. VG Trier, Beschluss vom 16. April 2014 - 5 L 569/14.TR -, BeckRS 2014, 50081).

Der europarechtlichen Verpflichtung der Beklagten zur Vermeidung einer Situation, bei der die Grundrechte des Schutzsuchenden durch eine unangemessen lange Verfahrensdauer verletzt werden (vgl. dazu EuGH, Urteil vom 14. November 2013 - Rs C-4/11 -, NVwZ 2014, S. 129 [130]), korrespondiert hier ein Anspruch des Klägers, dass die Beklagte über seinen Zweitantrag entscheidet. Unabhängig von der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen die Dublin-II-VO subjektive Rechte der Asylbewerber begründet (vgl. dazu EuGH, Urteil v. 14. November .2013 – RS C-4/11, NVwZ 2014, S. 129; Beschlüsse der Kammer v. 19. März 2014 – VG 33 L 90.14 A – und vom 7. Oktober 2013 - VG 33 L 403.13 A -), erwächst aus Art. 3 Abs. 1, 16 Abs. 1 Dublin-II-VO zumindest ein subjektives Recht des jeweiligen Antragstellers auf Entscheidung (irgend-)eines Mitgliedstaats über seinen Antrag. Durch das Zuständigkeitssystem der Verordnung soll gerade vermieden werden, dass Schutzsuchende unter Verweis auf - vermeintlich - bestehende Unzuständigkeiten gänzlich unbeschieden bleiben (vgl. Huber/Göbel-Zimmermann, Ausländer- und Asylrecht, 2. Aufl. 2008, Rn. 1885). Versagt die Beklagte vorliegend dem Kläger die sachliche Entscheidung über seinen Antrag unter Verweis auf die Drittstaatenregelung, so läuft der Kläger Gefahr, dass über seinen Zweitantrag nicht mehr entschieden wird und er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nicht mehr erlangen kann. Denn nichts spricht dafür, dass die Republik Polen noch bereit sein könnte, den Kläger im Rahmen des Dublin-II-Verfahrens aufzunehmen, um über seinen Zweitantrag zu entscheiden.

Dem Anspruch des Klägers stehen vor dem Hintergrund seines Einreiseweges auch die Bestimmungen der § 31 Abs. 4 in Verbindung mit § 26a AsylVfG nicht entgegen. Zwar handelt es sich bei der Republik Polen als Mitgliedstaat der Europäischen Union um einen sicheren Drittstaat im Sinne des § 26a Abs. 2 Alt. 1 AsylVfG. Die verfassungsrechtlich in Art. 16a Abs. 2 GG Satz 1 verankerte Drittstaatenregelung findet vorliegend jedoch aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts, der einfachrechtlich in § 26a Abs. 1 Satz 3 Nr. 2 AsylVfG nachvollzogen wird (vgl. schon OVG Münster, Urteil v. 30. September 1996 - 25 A 790.96.A -, NVwZ 1997, S. 1141 [1143]; sowie Maaßen, in: Epping/Hillgruber, BeckOK GG, Ed. 20, Stand: 1. März 2014, Art. 16a, Rn. 61; ferner Moll/Pohl, ZAR 2012, 104 [106 ff.]), keine Anwendung. Danach gilt die Drittstaatenregelung u.a. nicht, wenn die Bundesrepublik Deutschland - wie hier - auf Grund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaften für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig (geworden) ist.

1. b) Soweit der Kläger die weitergehende Verpflichtung der Beklagten begehrt, ihm die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass die Voraussetzungen nationaler Abschiebungsverbote bestehen, bleibt die Klage ohne Erfolg. Sie ist schon deshalb unzulässig, weil die Sache noch nicht spruchreif ist, § 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO. Macht das Bundesamt fehlerhaft von der gesetzlichen Ermächtigung der § 31 Abs. 4 in Verbindung mit § 26a AsylVfG 5 Gebrauch, so ist das Gericht gehindert, über die materiellen Voraussetzungen des Schutzbegehrens mitzuentscheiden. Diese Entscheidung, namentlich die Prüfung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 – 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes, ist vielmehr zunächst dem Bundesamt vorbehalten (vgl. zur Regelung der §§ 32, 33 AsylVfG BVerwG, Urteil vom 5. September 2013 - BVerwG 10 C 1.13 -, NVwZ 2014, S. 158; VG Ansbach, Urteil vom 19. August 2014 - AN 1 K 14.50026 -, juris, Rn. 22). Das gilt auch in einem Fall wie dem Vorliegenden, in dem eine Entscheidung bereits getroffen, jedoch später wieder aufgehoben

worden ist.

2. Die im Wege der zulässigen Klagehäufung nach § 44 VwGO verfolgten Anfechtungsbegehren haben Erfolg.

a) Bei der Feststellung im Tenorierungspunkt Nr. 1 des Bescheides des Bundesamtes vom 8. April 2014, dass dem Kläger auf Grund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat in der Bundesrepublik Deutschland kein Asylrecht zustehe, handelt es sich um eine selbstständig anfechtbare Regelung (vgl. zu §§ 32, 33 AsylVfG BVerwG, Urteil vom 7. März 1995 - BVerwG C 264.94 -, NVwZ 1996, S. 80). Diese Feststellung ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO.

Nach § 31 Abs. 4 Satz 1 AsylVfG ist nur festzustellen, dass dem Ausländer auf Grund seiner Einreise aus einem sicheren Drittstaat kein Asylrecht zusteht, wenn der Asylantrag nur nach § 26a abgelehnt wird. An dieser Voraussetzung fehlt es indessen. Denn nach den vorstehenden Ausführungen zu Nr. 1 ist die Ablehnung des Schutzgesuchs des Klägers auf der Grundlage der Drittstaatenregelung des § 26a AsylVfG durch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts gesperrt. [...]