VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 22.10.2014 - 29 K 142.12 V - asyl.net: M22776
https://www.asyl.net/rsdb/M22776
Leitsatz:

Dem sorgeberechtigten Vater eines deutschen Kindes kann nicht ohne Weiteres vorgehalten werden, sich während seines Auslandsaufenthaltes nach Scheitern der Ehe mit der Kindesmutter nicht hinreichend um das Kind gekümmert zu haben.

Eine Prognose, ob ein Antrag der Kindesmutter auf Übertragung der alleinigen elterlichen Sorge Erfolg haben wird, ist angesichts der umfangreichen Ermittlungspflichten des Familiengerichtes im Visumsverfahren nicht möglich.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: nationales Visum, Familiennachzug, gemeinsames Sorgerecht, Sorgerecht, deutsches Kind, Kindeswohl, familiäre Beistandsgemeinschaft,
Normen: AufenthG § 28 Abs. 1 S. 1 Nr. 3, AufenthG § 28, GG Art. 6, AufenthG § 28 Abs. 1 S. 4, BGB § 1671 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Bei der Beurteilung, ob eine nach Art. 6 Abs. 1 und 2 GG schützenswerte familiäre Lebensgemeinschaft besteht, ist maßgeblich auf die tatsächliche Verbundenheit zwischen den Familienmitgliedern abzustellen. Dabei kommt es nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts bei der Bewertung der familiären Beziehungen nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft vorliegt und ob die von einem Familienmitglied tatsächlich erbrachte Lebenshilfe auch von anderen Personen erbracht werden könnte. Insbesondere kann der spezifische Erziehungsbeitrag des Vaters nicht allein wegen der Betreuung des Kindes durch die Mutter als entbehrlich angesehen werden. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist vielmehr maßgeblich auch auf die Sicht des Kindes abzustellen und zu prüfen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist. Dabei ist grundsätzlich eine Betrachtung des konkreten Einzelfalles geboten und zu würdigen, in welcher Form die Elternverantwortung ausgeübt wird und welche Folgen eine endgültige oder vorübergehende Trennung für die Eltern-Kind-Beziehung und das Kindeswohl hätte. Im Falle eines regelmäßigen Umgangs des ausländischen Elternteils mit seinem Kind, der dem auch sonst Üblichen entspricht und Ausdruck der Übernahme elterlicher Erziehungs- und Betreuungsverantwortung ist, wird in der Regel von einer dem Schutz des Art. 6 GG unterliegenden familiären Gemeinschaft auszugehen sein. Auch Unterhaltsleistungen stellen in diesem Zusammenhang ein Indiz für die Wahrnehmung elterlicher Verantwortung dar (BVerfG, Beschlüsse vom 9. Januar 2009 – 2 BvR 1064/08 –, InfAuslR 2009, 150 = juris Rdnr. 14 ff., und vom 1. Dezember 2008 – 2 BvR 1830/08 – BVerfGK 14, 458 = juris Rdnr. 28 ff, jeweils m.w.N.).

Bei dieser Rechtsprechung ist zu berücksichtigen, dass den Entscheidungen jeweils Fälle beabsichtigter Aufenthaltsbeendigung zu Grunde lagen, d.h. Fälle, in denen bis zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung die Möglichkeit bestand, die familiäre Lebensgemeinschaft im erforderlichen Umfang auch tatsächlich zu leben und damit ihre Schutzwürdigkeit zu belegen. Dass der Kläger diese Möglichkeit seit seiner Ausreise nicht mehr hat, kann nicht dazu führen, ihm die Ernsthaftigkeit seines erklärten Willens, die Personensorge erneut wahrnehmen zu wollen, von vornherein abzusprechen. Vor diesem Hintergrund ergeben sich aus dem Verhalten des Klägers während seines Auslandsaufenthaltes keine Umstände, die berechtigten Anlass zu Zweifeln am tatsächlich bestehenden Willen zur Wiederherstellung der familiären Lebensgemeinschaft geben (so zum Maßstab im vergleichbaren Fall des Scheineheverdachtes BVerfG, Beschluss vom 5. Mai 2003 – 2 BvR 2042/02 –, FamRZ 2003, 1000 = juris). Weder kann dem Kläger angesichts seiner glaubhaft gemachten Mittellosigkeit das Unterbleiben von Unterhaltsleistungen noch angesichts der sowohl im Sorgerechtsverfahren als auch in ihrer Zeugenbefragung erklärten Weigerung der Kindesmutter, ihm Kontakt mit dem Kind zu gewähren, mangelhaftes Bemühen wegen "nur" ca. vierteljährlicher Telefonate vorgehalten werden. Schließlich sind auch keine greifbaren Anhaltspunkte dafür ersichtlich, dass das Verhalten des Klägers vor seiner Ausreise Anlass gäbe, mangelndes Interesse an seinem Kind mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu vermuten. Schließlich dürfte die Entfernung zwischen dem zunächst vorgesehenen Wohnort des Klägers und dem Wohnort des Kindes den Kontakt zwar erschweren; ausgeschlossen ist eine Beistandsgemeinschaft hinreichender Intensität dadurch nicht (vgl. BVerfG, Beschluss vom 1. Dezember 2008, a.a.O., insbes. Rdnr. 39).

Es ist außerdem im vorliegenden Verfahren nicht feststellbar, dass dem Willen des Klägers, die Personensorge wahrzunehmen, entgegenstünde, dass eine Entzug des Sorgerechtes im Falle seiner Wiedereinreise mit hinreichender Sicherheit feststünde mit der Folge, dass als Anspruchsgrundlage nur § 28 Abs. 1 Satz 4 AufenthG in Betracht käme, der zum Einen nur Ermessen einräumt, zum Anderen eine bereits im Inland bestehende familiäre Gemeinschaft erfordert. Allerdings liegt es nach dem Vortrag der Beigeladenen zu 2 – der wohl ihrer Mutter zuzurechnen sein dürfte –nahe, die Voraussetzungen des § 1671 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 BGB ernsthaft zu prüfen, und spricht einiges dafür, ggf. das alleinige Sorgerecht eher der Mutter, die sich seit Geburt ununterbrochen um die Beigeladene zu 2 kümmert, zuzusprechen als dem Kläger, der im Falle der Einreise erhebliche Integrationsdefizite aufweisen wird.

Bereits die Prüfung der ersten Frage, die § 1671 Abs. 1 BGB aufwirft – fehlt es zwischen den Eltern an einer tragfähigen sozialen Beziehung und an einem Mindestmaß an Übereinstimmung in den wesentlichen Sorgerechtsbereichen – übersteigt aber die Möglichkeiten und Kompetenzen des Verwaltungsgerichts im Visumsverfahren. Maßstab und Ziel einer Auflösung der gemeinsamen elterlichen Sorge ist dabei nicht der Ausgleich persönlicher Defizite zwischen den Eltern mittels Übertragung der Alleinsorge auf einen Elternteil, sondern allein das Kindeswohl. Bei der Beurteilung, ob die Aufhebung der gemeinsamen Sorge und die Übertragung auf den antragstellenden Elternteil dem Wohl des Kindes am besten entspricht, haben die Richter eine Entscheidung zu treffen, die sowohl die beiderseitigen Grundrechtspositionen der Eltern als auch das Wohl des Kindes und dessen Individualität als Grundrechtsträger berücksichtigt. Die Gerichte müssen sich daher im Einzelfall um eine Konkordanz der verschiedenen Grundrechte bemühen, insbesondere auch dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Rechnung tragen (OLG Saarbrücken, Beschluss vom 8. September 2014 – 6 UF 70/14 –, juris Rdnr. 19 ff. m.w.N.). Für derartige Entscheidungen sieht Buch 2 Abschnitt 3 FamFG (§ 151 ff.) umfassende Ermittlungspflichten des Familiengerichts vor, insbesondere nach § 155 FamFG die persönliche Anhörung der Beteiligten sowie nach § 162 FamFG des Jugendamtes, und erlegt ihm in § 156 FamFG die Pflicht auf, zwischen den Beteiligten zu vermitteln; ggf. kann nach § 163 FamFG eine Begutachtung angeordnet werden (vgl. z. B. OLG Koblenz, Beschluss vom 20. August 2007 – 13 UF 166/07 –, FamRZ 2008, 2301 = juris). Das Ergebnis eines solchen mit von Verfassungs wegen gebotener Sorgfalt zu führenden Verfahrens kann nicht durch eine negative Prognoseentscheidung im Visumsverfahren vorweg genommen werden. Vielmehr ist dem Kläger Gelegenheit zu geben, sein Elternrecht in einem solchen Verfahren, dass seine Einreise voraussetzt, zu verteidigen; vom Ausgang jenes Verfahrens hängt sodann seine weitere ausländerrechtliche Situation ab. [...]