VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 29.01.2015 - 7 A 97/13 - asyl.net: M22789
https://www.asyl.net/rsdb/M22789
Leitsatz:

Jede ernstzunehmende Opposition wird durch die ruandische Regierung unter Einsatz von Leib und Leben des Betroffenen bedrohenden Maßnahmen unterbunden.

Die Volksgruppe der Hutu ist besonders von Denunziation und unfairen Prozessen betroffen.

Schlagwörter: Ruanda, Hutu, MDR, CRV, Mouvement Democratique Republicain, Centre de Recherche Pour la Non-Violence, Adehamu, Association Pour le Developpement des Hautes Attitudes de Mukura, Gacaca, Genozid, FDU-Inkingi, Exilpolitik, Auslandsaufenthalt, Visumsvergehen, Politmalus,
Normen: AsylVfG § 3, AufenthG § 60 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

Die zulässige Klage ist begründet. Der Kläger hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylVfG) sowohl einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter als auch auf Anerkennung als Flüchtling i.S.d. § 60 Abs. 1 AufenthG. [...]

Unter Berücksichtigung dieser Vorgaben und Beachtung der Besonderheiten dieses Einzelfalls steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass der Kläger sein Heimatland aus Furcht vor drohender Verfolgung verlassen hat und er vor erneuter Verfolgung aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Gruppe der systemkritischen Hutu nicht hinreichend sicher sein kann. Er hat in der mündlichen Verhandlung, wie auch im Verwaltungsverfahren, die erlebten Geschehnisse über die geplante Vorführung vor das Gacaca Tribunal präzise und detailreich geschildert. [...]

Nach aktuellen Berichten sind von den sog. Gacaca Tribunalen über 1,9 Millionen Verfahren abgewickelt worden, so dass fast jeder erwachsene männliche Hutu vor Gericht erscheinen musste [...]. Neben dem Ruf, mitunter als politisch instrumentalisierte Schauprozesse für regimekritische Hutu gedient zu haben, gerieten die Verfahren in die Kritik, weil Angeklagte willkürlichen Beschuldigungen ausgesetzt waren, Entlastungszeugen eine Anklage drohte und Menschenrechtsorganisationen zahlreiche Fehlurteile aufgedeckt haben (vgl. Human Right Watch, Ruanda: Gacaca-Gerichte hinterlassen zwiespältiges Erbe. Schwere Fehlurteile sollen erneut gerichtlich überprüft werden, 31.05.2011; Amnesty Intemational, Amnesty Report Ruanda 2008, 28.05.2008; Haefliger, Abschluss der GacacaVerfahren in Rwanda. Die Laienrichter hinterlassen eine fragwürdige Bilanz, in: NZZ vom 20.06.2012; Schlindwein, Völkermord verjährt nicht. Früher oder später finden wir sie, in: taz vom 08.04.2014).

Unter Berücksichtigung dieser Hintergründe hat der Kläger sein Verfolgungsschicksal glaubhaft geschildert. Der im Jahr 1986 geborene Kläger gehört nach den seinen Anhaben zur Volksgruppe der Hutu. Er zählt damit zu dem von Denunzierungen und unfairen Prozessen besonders gefährdeten Personenkreis. Sein Lebenslauf weist zudem einen sachlichen und zeitlichen Zusammenhang zu dem Genozid basierten Massaker in Butare auf, bei dem zwischen April und Juli 1994 über 100.000 Menschen ermordet worden sind (vgl. Schlindwein, "Schlächter von Butare" gefasst, in: taz vom 07.10.2009). [...]

Der Vortrag des Klägers wird zudem durch die von ihm vorgelegten Unterlagen über seine Mitgliedschaften in den Organisationen Adehamu und CRV gestützt. Zwar hat er die Betätigungen nach Aufforderung niedergelegt und deswegen keine weiteren Probleme - direkter Art - bekommen. Allerdings hat der Kläger in der Anhörung beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung verdeutlicht, dass diese Mitgliedschaften zumindest mittelbar für eine Situation mitverantwortlich sind. In diesem Sinne geht aus den Erkenntnismitteln hervor, dass Regimekritiker und Menschenrechtler zu jeder Zeit im Visier der Regierung standen und Bedrohungen ausgesetzt waren (vgl. OMCT, Mehrere Mitglieder der Menschenrechtsorganisation LIPRODHOR gerichtlich schikaniert; Aktivist Daniel Uwimana willkürlich verhaftet, 12.12.2014, abrufbar unter: www.ecoi.net; OMCT, Evariste Nsabayezu und Daniel Uwimana, 2 Mitglieder der Menschenrechtsorganisation LIPRODHOR, willkürlich festgenommen; Evariste Nsabayezu wieder freigelassen, doch Daniel Uwimana steht weitere strafrechtliche Verfolgung bevor, 25.11.2014, abrufbar unter www.ecoi.net; Amnesty International, Länderkurzinformation zur Menschenrechtslage in Ruanda, 02.06.2014; Amnesty International, Amnesty Report Ruanda 2013, 27.05.2013; Amnesty International, Amnesty Report Ruanda 2012, 24.05.2012; Amnesty International, Amnesty Report Ruanda 2011, 10.05.2011; Amnesty International, Amnesty Report Ruanda 2010, 27.05.2010; Amnesty International, Amnesty Report Ruanda 2009, 28.05.2009). [...]

Dem Kläger ist es nicht zumutbar, nach Ruanda zurückzukehren, da er dort mit hinreichender Wahrscheinlichkeit von Verfolgung bedroht ist. Zwar sind die Gacaca Gerichte im Jahr 2012 geschlossen worden, allerdings werden anhängige und künftige Fälle von den ordentlichen Gerichten übernommen. Es bestehen ernsthafte Zweifel an der Sicherheit des Klägers, weil die Aufarbeitung des Genozids noch nicht abgeschlossen ist und die einseitige Politisierung und Instrumentalisierung solcher Prozesse zu Lasten der Hutu weiterhin besteht (Fischer, Genozidprozess: Bewährungsprobe für Ruandas Justiz, 26.02.2014, abrufbar unter www.dw.de; Schlindwein, Herr Professor vor Gericht, 11.04.2014, abrufbar unter www.taz.de; Amnesty International, Länderkurzinformation zur Menschenrechtslage in Ruanda, 02.06.2014). In seiner Stellungnahme vom 22.10.2012 an das Verwaltungsgericht Braunschweig führt das GIGA dazu aus, dass seit langem zahlreiche Vorwürfe und Beobachtungen existierten, dass gezielte Diffamation zu unzureichend geprüften Verhaftungen und langwierigen Prozessen führen könnten. Der Vorwurf des "gesellschaftlichen Divisionismus" und der Verbreitung von genozidärem Gedankengut könne in Ruanda schwer bestraft werden. Es könne nicht davon ausgegangen werden, dass bei unklarer Beweislage die Rechte des Beschuldigten gewahrt würden. Da der Kläger sich nach aktuellen Erkenntnissen schon wegen seiner visumbasierten Ausreise und seines längeren Aufenthalts in Deutschland bei der Einreise einer kritischen Befragung unterziehen müsste, liegt die Möglichkeit einer erneuten Verwicklung mit genozidären Handlungen und seine Inhaftierung nahe (vgl. dazu: Amnesty International, Stellungnahme an das VG Hannover vom 29.01.2014; Hankel, Gutachterliche Stellungnahme vom 10.08.2013; GIGA, Stellungnahme an das VG Hannover vom 25.07.2013; GIGA, Stellungnahme an das VG Braunschweig vom 22.10.2012). Die ruandischen Sicherheitskräfte werden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit bei ihren Ermittlungen zur Person des Klägers und bei Verhören nach Rückkehr seine Hinter- und Ausreisegründe herausfinden.

2. Der Kläger hat zudem einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3, 3a bis 3e AsylVfG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG in der Fassung des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU. [...]

Ausgehend von diesen rechtlichen Maßstäben sind die Voraussetzungen für eine Flüchtlingszuerkennung erfüllt. Im vorliegenden Einzelfall ist das Gericht zu der Erkenntnis gelangt, dass dem Kläger im Falle einer freiwilligen oder zwangsweisen Rückkehr den Schutzbereich des § 3 AsylVfG unterfallende Rechtsverletzungen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen.

Denn es ist davon auszugehen, dass ihn die Sicherheitsbehörden in Ruanda als Regimegegner behandeln würden. Den Sicherheitsbehörden wird regelmäßig willkürliches Verhalten und das Begehen von Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen. Jede ernstzunehmende Opposition wird durch die ruandische Regierung unter Einsatz von das Leib und Leben des Betroffenen bedrohenden Maßnahmen unterbunden [...].

Aufgrund der Mitgliedschaftsbescheinigung vom 31.07.2013, die von dem Präsidenten der Sektion der FDU in Deutschland unterzeichnet ist und den glaubhaften Ausführungen zu seiner Mitgliedschaft im Rahmen der mündlichen Verhandlung, geht das Gericht davon aus, dass der Kläger sich hier in Deutschland der FDU-Inkingi angeschlossen hat und dort als Mitglied registriert ist. Er hat die Ziele und Vorteile dieser Oppositionspartei detailliert geschildert und seine Aktivitäten nachvollziehbar und glaubhaft beschrieben. [...]

Auch wenn in die Betrachtung der Umstand einzubeziehen ist, dass den Sicherheitsbehörden auch bewusst sein dürfte, dass ein nach außen zum Ausdruck gebrachtes politisches Engagement vielfach nicht wirklich ernsthaft gemeint ist und nur zur Erlangung von Vorteilen im Asylverfahren an den Tag gelegt wird, hat das Gericht in der mündlichen Verhandlung den Eindruck gewonnen, dass der Kläger sich bewusst aus politischer Überzeugung der FDU-Inkingi angeschlossen hat. Seine regierungskritische Einstellung hat er auch durchgängig in allen Anhörungen zum Ausdruck gebracht, was ebenfalls für die Glaubhaftigkeit der Angaben spricht.

Darüber hinaus wirken sich im Falle des Klägers auch der mehrjährige Aufenthalt in Deutschland, die Einreise unter Ausnutzung eines Visums sowie sein Asylantrag gefahrerhöhend aus. [...]

In diesem Zusammenhang kann dem hierzu gewährenden Flüchtlingsschutz nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass das Vorgehen der ruandischen Sicherheitsbehörden und der Justiz allein dem strafrechtlichen Rechtsgüterschutz diene und ausschließlich eine Verfolgung kriminellen Unrechts darstelle. Denn auch eine nicht asylerhebliche Strafverfolgung kann in eine politische Verfolgung umschlagen, wenn objektive Umstände darauf schließen lassen, dass der Betroffene wegen eines asylerheblichen Merkmals härtere als die sonst übliche Behandlung erleidet. Nach dieser Maßgabe werden die Strafvorschriften bei einer Asylantragstellung unter Ausnutzung eines Schengen-Visums allein politisch motiviert angewendet. Denn die Vorschriften regeln nicht den Tatbestand der Asylantragstellung. Im vorliegenden Fall tritt zudem der Umstand hinzu, dass der Kläger sich in Deutschland als aktives Mitglied der FDU-Inkingi angeschlossen hat und daher von den Sicherheitskräften aufgrund der bei ihm vermuteten regierungsfeindlichen Einstellung mit besonderem Misstrauen belegt wird. Diese Mitgliedschaft werden die ruandischen Sicherheitskräfte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bei ihren Ermittlungen zur Person des Klägers und bei Verhören nach Rückkehr herausfinden. Aufgrund der bestehenden Auskunftslage ist unter diesen Umständen die Annahme gerechtfertigt, dass der Kläger einem "Politmalus" in Anknüpfung an seine Mitgliedschaft in der FDU und an die damit verbundene regierungskritische Einstellung unterliegt, d. h. die ruandischen Sicherheitsbehörden werden mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit allgemein die politische Gesinnung oder Betätigung des Klägers ahnden wollen. Es muss daher mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit befürchtet werden, dass er im Vorfeld des ihr etwaig drohenden Strafverfahrens menschenrechtswidrigen Maßnahmen ausgesetzt sein wird bzw. er im Falle einer Anklageerhebung kein fairer Prozess erwartet. Es erscheint auch denkbar, dass sie bei einer Verurteilung mit einer überhöhten Strafe wegen seiner Mitgliedschaft in der Oppositionspartei und der damit vermuteten Gegnerschaft zum herrschenden ruandischen Regime im Sinne eines Politmalus rechnen müsste, die nicht mehr allein der strafrechtlichen Ordnungsfunktion Rechnung trägt (vgl. auch: VG Lüneburg, Urt. v. 21.11.2013 - 6 A 122/10 -;VG Stade, Urt. v. 05.03.2013 - 3 A 786/10 -, zitiert nach dem Intranet der Niedersächsischen Verwaltungsgerichtsbarkeit).

Danach ist davon auszugehen, dass der Kläger unter diesen besonderen individuellen Umständen im Fall seiner Rückkehr nach Ruanda von den ruandischen Sicherheitsbehörden als Regimegegner behandelt würde. Hierbei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass er in der mündlichen Verhandlung glaubhaft berichtet hat, im Rahmen von Mitgliederversammlungen namentlich aufzutreten und sich auch in Diskussionsrunden über die Ziele der Partei engagiert beteiligt. Zudem ist mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass ihm eine politisch motivierte Freiheitsstrafe droht. [...]