OVG Sachsen

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Zitieren als:
OVG Sachsen, Beschluss vom 13.03.2015 - 1 A 349/13.A - asyl.net: M22793
https://www.asyl.net/rsdb/M22793
Leitsatz:

Dem Gerichtshof der Europäischen Union werden gemäß Art. 267 Abs. 2 AEUV folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:

1. Ist Art. 9 Abs. 1 lit. a i.V.m. Art. 10 Abs. 1 lit. b der Richtlinie 2011/95/EU dahingehend auszulegen,

a) dass eine schwerwiegende Verletzung der durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK garantierten Religionsfreiheit und damit eine Verfolgungshandlung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a der Richtlinie anzunehmen ist, wenn religiöse Betätigungen oder Verhaltensweisen, die von einer Glaubenslehre, zu der sich der Antragsteller aktiv bekennt, vorgeschrieben und zentraler Bestandteil derselben sind oder die sich auf die religiöse Überzeugung des Antragstellers im Sinne einer besonderen Wichtigkeit für dessen religiöse Identität stützen, in dem betreffenden Herkunftsland strafbewehrt verboten sind, oder

b) ist es erforderlich, dass ein sich zu einer bestimmten Glaubenslehre aktiv bekennender Antragsteller darüber hinaus nachweist, dass die von dieser Glaubenslehre als zentraler Bestandteil vorgeschriebenen religiösen Betätigungen oder Verhaltensweisen, die in seinem Herkunftsland eine bei Strafe verbotene Glaubensbetätigung darstellen, für ihn zur Wahrung seiner religiösen Identität "besonders wichtig" und in diesem Sinne "unverzichtbar" sind?

2. Ist Art. 9 Abs. 3 i. V. m. Art. 2 lit. d der Richtlinie 2011/95/EU dahingehend auszulegen, dass für die Feststellung einer begründeten Furcht vor Verfolgung und einer tatsächlichen Gefahr ("real risk"), durch einen der in Art. 6 RL 2011/95/EU genannten Akteure verfolgt oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung unterworfen zu werden, im Hinblick auf religiöse Betätigungen oder Verhaltensweisen, die von einer Glaubenslehre, zu der sich der Antragsteller aktiv bekennt, vorgeschrieben und zentraler Bestandteil derselben sind oder die sich auf die religiöse Überzeugung des 3 Antragstellers im Sinne einer besonderen Wichtigkeit für dessen religiöse Identität stützen und in seinem Herkunftsland strafbewehrt verboten sind,

a) eine wertende Relationsbetrachtung dergestalt erforderlich ist, dass die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig praktizierenden Anhänger der Glaubensrichtung des Antragstellers mit der Zahl der aufgrund dieser Glaubensbetätigung erfolgten tatsächlichen Verfolgungsakte im Herkunftsland des Antragstellers in Beziehung zu setzen ist und eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einzubeziehen sind, oder

b) ist es ausreichend, wenn in der Strafverfolgungspraxis des Herkunftslands die tatsächliche Anwendung der Vorschriften nachgewiesen werden kann, die unter Strafandrohung religiöse Betätigungen oder Verhaltensweisen, die von einer Glaubenslehre, zu der sich der Antragsteller aktiv bekennt, vorgeschrieben und zentraler Bestandteil derselben sind oder die sich auf die religiöse Überzeugung des Antragstellers im Sinne einer besonderen Wichtigkeit für dessen religiöse Identität stützen?

3. Ist eine Vorschrift des nationalen Prozessrechts, die eine Bindung des Tatsachengerichts an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts vorsieht (hier: § 144 Abs. 6 VwGO), mit dem Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts vereinbar, wenn das Tatsachengericht eine Norm des Unionsrechts anders auslegen möchte als das Revisionsgericht, an dieser Auslegung des Unionsrechts aber selbst nach Durchführung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 Abs. 2 AEUV durch die vom nationalen Recht angeordnete Bindung an die rechtliche Beurteilung des Revisionsgerichts gehindert ist?

Schlagwörter: GR-Charta, Europäische Menschenrechtskonvention, religiöse Verfolgung, Ahmadiyya, Pakistan, religiöse Identität, wertende Relationsbetrachtung, Strafbarkeit, Strafverfolgungspraxis, Blasphemiegesetz, missionieren,
Normen: AEUV Art. 267 Abs. 2, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 1 Bst. a, RL 2011/95/EU Art. 10 Abs. 1 Bst. b, RL 2011/95/EU Art. 9 Abs. 3, RL 2011/95/EU Art. 2 Bst. d,
Auszüge:

[...]

Das Verfahren ist in entsprechender Anwendung von § 94 VwGO auszusetzen und eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs zu den im Tenor dieses Beschlusses formulierten Fragen einzuholen.

1. Der Senat vertritt die Auffassung, dass - entsprechend der Vorlagefrage 1 a) - eine schwerwiegende Verletzung der durch Art. 10 Abs. 1 GR-Charta und Art. 9 Abs. 1 EMRK garantierten Religionsfreiheit und damit eine Verfolgungshandlung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2011/95/EU anzunehmen ist, wenn religiöse Betätigungen oder Verhaltensweisen, die von einer Glaubenslehre, zu der sich der Antragsteller aktiv bekennt, vorgeschrieben und zentraler Bestandteil derselben sind oder sich auf die religiöse Überzeugung des Antragstellers stützen, in dem betreffenden Herkunftsland strafbewehrt verboten sind. Dies träfe auf den Kläger zu, auch wenn dieser nach der vorläufigen Rechtsauffassung des Senats bisher keine individuell gegen ihn gerichtete Verfolgungshandlung in Pakistan glaubhaft gemacht hat.

Der Kläger ist Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya und hat seine Religion in seinem Herkunftsstaat Pakistan praktiziert. Ein integraler Bestandteil seiner Glaubensrichtung besteht darin, den Glauben auch unter Nicht-Ahmadis zu verbreiten. In Pakistan werden Ahmadis als "Nicht-Muslime" angesehen. Ihnen ist es nach sec. 298-C des Pakistanischen Strafgesetzbuchs (Pakistan Penal Code [Act XLV of 1860] - PPC) unter Androhung einer Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren und Geldstrafe verboten, den Anspruch zu erheben, Moslems zu sein, ihren Glauben als Islam zu bezeichnen, ihn zu predigen, zu verbreiten oder andere aufzufordern, diesen Glauben anzunehmen. Ferner kann nach sec. 295-C PPC mit dem Tode oder lebenslanger Freiheitsstrafe und Geldstrafe bestraft werden, wer den Namen des Propheten Mohammed verunglimpft. Den Ahmadis ist es untersagt, öffentliche Versammlungen sowie religiöse Treffen und Konferenzen abzuhalten, namentlich auch solche Veranstaltungen, auf denen öffentlich gebetet wird. Es wird ihnen aber nicht generell unmöglich gemacht, sich in ihren Gebetshäusern zu versammeln. Den Ahmadis ist jedes Werben für ihren Glauben mit dem Ziel, andere zum Beitritt zu ihrer Glaubensgemeinschaft zu bewegen, strikt untersagt. Zuwiderhandlungen werden regelmäßig strafrechtlich verfolgt.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem in der vorliegenden Sache ergangenen Revisionsurteil vom 20. Februar 2013 - 10 C 21.12 - die Auffassung vertreten, dass es - entsprechend der Vorlagefrage 1 b) - für die Annahme einer subjektiven Verfolgungsbetroffenheit des Klägers nicht ausreiche, dass er als Angehöriger der Glaubensgemeinschaft der Ahmadiyya den vorstehenden Strafandrohungen für die Ausübung seines Glaubens unterworfen sei, sondern festgestellt werden müsse, dass es für den Kläger "zur Wahrung seiner religiösen Identität" besonders wichtig sein müsse, seinen Glauben öffentlich und damit in einer in Pakistan strafrechtlich relevanten Form auszuüben. Dies ergebe sich aus dem in dieser Sache ergangenen Urteil des Gerichtshofs vom 5. September 2012 - Rs. C-71/11 und C-99/11, Rn. 70.

Der Senat versteht die vom Bundesverwaltungsgericht in Bezug genommenen Ausführungen des Gerichtshofs, es sei ein relevanter Gesichtspunkt, ob die beanstandete Einschränkung der Religionsfreiheit für den Antragsteller "zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig" sei, jedoch nicht in der soeben dargelegten restriktiven Weise sondern dahingehend, dass selbst dann, wenn die von der Einschränkung betroffene religiöse Praxis kein zentraler Bestandteil der Glaubensgemeinschaft des Antragstellers ist, es sich gleichwohl um eine Verfolgungshandlung gemäß Art. 9 Abs. 1 lit. a RL 2011/95/EU handeln kann, wenn für einen Antragsteller festgestellt wird, dass eine besondere Wichtigkeit für die Wahrung der religiösen Identität vorliegt. Wenn der Gerichtshof (Urt. v. 5. September 2012 a. a. O.) ausgeführt hat, dass diese besondere Wichtigkeit für die Wahrung der religiösen Identität zu eine subjektiven Verfolgungsbetroffenheit führen kann, "selbst wenn" es sich um die Befolgung einer religiösen Praxis handelt, die keinen zentralen Bestandteil für die betreffende Glaubensgemeinschaft darstellt (Rn. 70 a. E.), bedeutet dies nach Auffassung des Senats, dass es gerade keiner gesonderten Feststellung der subjektiven "besonderen Wichtigkeit für die religiöse Identität" bedarf, wenn es sich - wie hier - um Einschränkungen der religiösen Praxis handelt, die zentraler Bestandteil der entsprechenden Glaubenslehre sind.

Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Revisionsurteil (Rn. 29 a. E.) ausgeführt, dass sich eine hinreichende Verfolgungsgefahr für den Kläger ergäbe, wenn "das Missionieren prägend für seine (religiöse) Identität" sei, und deshalb aufgeklärt werden müsse, wie der Kläger sich in Pakistan im Einzelnen betätigt habe. Der Senat geht dagegen davon aus, dass es sich bei der Verbreitung des Glaubens auch unter Nicht-Ahmadis ("Missionieren") um eine zentralen Bestandteil der Glaubensrichtung der Ahmadiyya handelt, so dass diese Betätigung für die religiöse Identität eines diesen Glauben praktizierenden ("aktiven") Ahmadis stets prägend ist und es besonderer Anhaltspunkte für die Annahme bedarf, dass zentrale Bestandteile einer Glaubenslehre, zu der sich ein Antragsteller aktiv bekennt, für diesen ausnahmsweise keine besondere Wichtigkeit für seine religiöse Identität besitzen. Im Hinblick auf die auch vom Bundesverwaltungsgericht nicht in Abrede gestellte besondere Gefährlichkeit des "Missionierens" von Ahmadis in Pakistan lässt das Fehlen von Feststellungen zu einer "Missionierungstätigkeit" nach Auffassung des Senats allenfalls den Schluss zu, dass die vorhandenen Strafvorschriften ihren repressiven Zweck erreicht haben.

Die Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts (und wohl auch des britischen Upper Tribunal [Immigration and Asylum Chamber], Urt. v. 13. November 2012 - MN and others -, [2012] UKUT 389, Country guidance Nr. 8, 2. Alt.) führt, obwohl der Gerichtshof in seinem Urteil vom 5. September 2012 - Rs. C-71/11 und C-99/11 - ausdrücklich ausgeführt hat, dass es grundsätzlich irrelevant ist, dass ein Antragsteller die Gefahr einer Verfolgungshandlung durch Verzicht auf bestimmte religiöse Betätigungen vermeiden könnte (Rn. 79), im Ergebnis dazu, dass Antragsteller, die keine individuelle Vorverfolgung glaubhaft machen können, auf die Gefahrvermeidung durch Verzicht auf entsprechende Betätigungen verwiesen werden. Dies hält der Senat nicht mit Art. 9 Abs. 1 RL 2011/95/EU vereinbar (vgl. hierzu Senatsurt. v. 18. September 2014 - A 1 A 348/13 -, im Anschluss an VGH BW, Urt. v. 12. Juni 2013 - A 11 S 757/13 -, juris Rn. 114).

2. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Revisionsurteil ausgeführt, dass die Gefahr einer verfolgungserheblichen Verletzungshandlung dem Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen müsse. Es komme darauf an, ob in Anbetracht der festgestellten Umstände "bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann" (Urt. v. 20. Februar 2013 a. a. O., Rn. 20). Dabei sei eine "wertende Relationsbetrachtung" dergestalt vorzunehmen, dass - entsprechend der Vorlagefrage 2 a) - die Zahl der ihren Glauben verbotswidrig praktizierenden Anhänger einer Glaubensrichtung mit der Zahl der tatsächlichen Verfolgungsakte in Beziehung zu setzen sei und eventuell bestehende Unsicherheiten und Unwägbarkeiten der staatlichen Strafverfolgungspraxis mit einbezogen werden müssten. Bezogen auf den Kläger sei insbesondere zu ermitteln, mit welcher Wahrscheinlichkeit ein Ahmadi inhaftiert oder bestraft werde, der entgegen den Vorschriften des pakistanischen Strafgesetzbuchs bei seiner Glaubensausübung religiöse Begriffe und Riten des Islam benutze, seinen Glauben öffentliche bekenne oder für ihn werbe. Bestehe aufgrund einer solchen Prognose für die - möglicherweise zahlenmäßig nicht große - Gruppe der ihren Glauben in verbotener Weise in der Öffentlichkeit praktizierenden Glaubensangehörigen ein reales Verfolgungsrisiko, könne daraus der Schluss gezogen werden, dass auch die Gesamtgruppe der Ahmadis, für die diese öffentlichkeitswirksamen Glaubenspraktiken ein zentrales Element ihrer religiösen Identität darstellten und in diesem Sinne unverzichtbar seien, von den Einschränkungen ihrer Religionsfreiheit in flüchtlingsrechtlich beachtlicher Weise betroffen sei.

Der Senat hält die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte "wertende Relationsbetrachtung" weder für praktisch durchführbar (vgl. hierzu bereits Senatsurt. v. 18. September 2014 a.a.O. im Anschluss an VGH BW, Urt. v. 12. Juni 2013 a.a.O. Rn. 118) noch für geeignet oder erforderlich, um eine Prognose für die Wahrscheinlichkeit einer drohenden Verfolgung vorzunehmen. Eine tatsächliche Gefahr ("real risk") verfolgt zu werden, besteht nach Auffassung des Senats - entsprechend der Vorlagefrage 2 b) - bereits dann, wenn in der Strafverfolgungspraxis des Herkunftsstaats eine tatsächliche Anwendung der religiöse Betätigungen oder Verhaltensweisen, die von einer Glaubenslehre, zu der sich ein Antragsteller aktiv bekennt, vorgeschrieben und zentraler Bestandteil derselben sind oder die sich auf die religiöse Überzeugung des Antragstellers im Sinne einer besonderen Wichtigkeit für dessen religiöse Identität stützen, bei Strafe untersagenden Tatbestände zu beobachten ist, wogegen es nicht darauf ankommt, ob und ggf. aus welchen Gründen im Einzelfall ein Absehen von der Einleitung eines Strafverfahrens oder dessen spätere Einstellung erreicht werden kann. [...]