OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 23.02.2015 - 8 PA 13/15 - asyl.net: M22796
https://www.asyl.net/rsdb/M22796
Leitsatz:

Aus den Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich kein allgemeines Verbot, gegenüber im Bundesgebiet lebenden Menschen mit Behinderungen auf gesetzlicher Grundlage eine Wohnsitzauflage zu verfügen.

(Amtlicher Leitsatz)

Schlagwörter: subjektives Recht, schwerbehindert, Schwerbehinderung, Behindertenrechtskonvention, Wohnsitzauflage, Freizügigkeit, UN-Behindertenrechtskonvention, Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen, Sicherung des Lebensunterhalts, Diskriminierung,
Normen: CRPD Art. 18 Abs. 1, AufenthG § 12 Abs. 2 S. 2,
Auszüge:

[...]

Der Kläger macht weiter geltend, die zu seiner Aufenthaltserlaubnis aus humanitären Gründen erteilte Wohnsitzauflage stelle eine nicht gerechtfertigte Ungleichbehandlung gegenüber geduldeten Ausländern dar, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern. Nach § 61 Abs. 1d AufenthG dürfe Letzteren eine Wohnsitzauflage nicht auferlegt werden.

Auch dieser Einwand greift nicht durch.

Der Senat vermag schon die vom Kläger angenommene Ungleichbehandlung gleicher Sachverhalte nicht nachzuvollziehen. Denn der Kläger ist - anders als die von ihm benannte Vergleichsgruppe der geduldeten Ausländer, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern - eben nicht zur selbständigen Sicherung seines Lebensunterhalts in der Lage.

Unabhängig davon geht der Kläger in der Annahme fehl, aus § 61 Abs. 1d AufenthG in der durch das Gesetz zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern vom 23. Dezember 2014 (BGBl. I S. 2439) geänderten Fassung ergebe sich ein Verbot, geduldeten Ausländern, die ihren Lebensunterhalt selbst sichern, eine Wohnsitzauflage aufzuerlegen. § 61 Abs. 1d Satz 1 AufenthG ordnet lediglich eine Wohnsitzauflage kraft Gesetzes für geduldete Ausländer an, deren Lebensunterhalt nicht gesichert ist (vgl. Gesetzentwurf der Fraktionen der CDU/CSU und SPD, Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Rechtsstellung von asylsuchenden und geduldeten Ausländern, BT-Drs. 18/3144, S. 12 f.). Dass hiermit zugleich die bisher bestehenden Möglichkeiten, nach Beendigung des Asylverfahrens und der Aufenthaltsgestattung nach § 55 AsylVfG (vgl. zu dem während des laufenden Asylverfahrens eröffneten Anwendungsbereich des § 60 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 AsylVfG: Marx, AsylVfG, 7. Aufl., § 60 Rn. 1 f. m.w.N.) auf der Grundlage des § 46 Abs. 1 AufenthG (vgl. Bayerischer VGH, Beschl. v. 5.6.2007 - 24 CS 07.1014 -, juris Rn. 8; Nr. 46.1.4.4 AVwV AufenthG) oder des § 61 Abs. 1 Satz 2 AufenthG (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 29.11.2007 - 2 L 223/06 -, juris Rn. 31; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 19.11.2003 - 10 B 11432/03 -, InfAuslR 2004, 255, 256 f. (zu § 56 Abs. 3 Satz 2 AuslG); Nr. 61.1.2 AVwV AufenthG) eine Duldung mit einer Wohnsitzauflage zu erteilen, eingeschränkt werden sollen, ist für den Senat nicht ersichtlich. Der Kläger macht schließlich geltend, die maßgeblich an das Kriterium der Lebensunterhaltssicherung anknüpfende Wohnsitzauflage stelle eine unzulässige Diskriminierung wegen einer Behinderung dar, da er - der Kläger - nur aufgrund einer Schwerbehinderung nicht zur selbständigen Lebensunterhaltssicherung in der Lage sei. Die UN-Behindertenrechtskonvention gewähre aber Behinderten das Recht, ihren Aufenthaltsort frei zu wählen.

Auch dieser Einwand greift nicht durch.

Die UN-Behindertenrechtskonvention hat in Deutschland zwar Gesetzeskraft (vgl. Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen sowie zu dem Fakultativprotokoll vom 13. Dezember 2006 zum Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen vom 21. Dezember 2008, BGBl. II S. 1419) und ist als Auslegungshilfe für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite der Grundrechte heranzuziehen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 23.3.2011 - 2 BvR 882/09 -, BVerfGE 111, 307, 317 f.). Subjektive Ansprüche begründet das Übereinkommen hingegen nicht (so ausdrücklich Denkschrift der Bundesregierung zu dem Übereinkommen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, in: BT Drs. 16/10808, S. 48).

Aus den Bestimmungen der UN-Behindertenrechtskonvention ergibt sich entgegen der Annahme des Klägers auch kein allgemeines Verbot, gegenüber im Bundesgebiet lebenden Menschen mit Behinderungen auf gesetzlicher Grundlage eine Wohnsitzauflage zu verfügen. Nach Art. 18 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention anerkennen die Vertragsstaaten das gleiche Recht von Menschen mit Behinderungen auf Freizügigkeit und auf freie Wahl ihres Aufenthaltsorts. Hierzu gewährleisten die Vertragsstaaten nach Art. 19 Abs. 1 Buchst. a der UN-Behindertenrechtskonvention, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen. Schon nach dem Wortlaut dieser Bestimmungen wird Menschen mit Behinderungen nicht allgemein die Freiheit der Wahl des Aufenthaltsorts gewährleistet, sondern das - im Verhältnis zu Menschen ohne Behinderungen - gleiche Recht auf freie Wahl des Aufenthaltsorts. Dies entspricht auch dem Grundanliegen der UN-Behindertenrechtskonvention, die volle Verwirklichung aller Menschenrechte und Grundfreiheiten für alle Menschen mit Behinderungen ohne jede Diskriminierung aufgrund von Behinderung zu gewährleisten und zu fördern (vgl. Art. 4 Abs. 1 der UN-Behindertenrechtskonvention) sowie alle Menschen vom Gesetz gleich zu behandeln (vgl. Art. 5 Abs. 1 der UNBehindertenrechtskonvention). Die UN-Behinderten-rechtskonvention schafft mithin kein Sonderrecht für Menschen mit Behinderungen (so ausdrücklich Denkschrift der Bundesregierung, a.a.O., S. 46; Schulte, Die UN-Behindertenrechtskonvention, in: ZESAR 2012, 69, 72). Die UN-Behindertenrechtskonvention untersagt vielmehr in erster Linie spezifische Regelungen für Menschen mit Behinderungen. Eine derart spezifische Regelung enthält die Bestimmung in § 12 Abs. 2 Satz 2 AufenthG, nach der die hier streitgegenständliche Wohnsitzauflage verfügt worden ist, aber nicht. Die Bestimmung erfasst zwar - in gleicher Weise wie Menschen ohne Behinderungen - auch Menschen mit Behinderungen, führt aber weder direkt noch indirekt zu einer Diskriminierung aufgrund des Merkmals der Behinderung (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales. Übereinkommen der Vereinten Nationen über Rechte von Menschen mit Behinderungen - Erster Staatenbericht der Bundesrepublik Deutschland, 2011, S. 42 f.). Etwas anderes ergibt sich entgegen der Annahme des Klägers auch nicht aus den vom ihm benannten Entscheidungen des Bundessozialgerichts vom 23. Juli 2014 (- B 8 SO 14/13 R -, - B 8 SO 31/12 R -, - B 8 SO 12/13 R -, alle zitiert nach juris). [...]