VG Oldenburg

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Zitieren als:
VG Oldenburg, Beschluss vom 27.01.2015 - 12 B 245/15 - asyl.net: M22802
https://www.asyl.net/rsdb/M22802
Leitsatz:

1. Die in der Aufnahmerichtlinie und der Qualifikationsrichtlinie genannten Anforderungen erweitern den allgemeinen - eher niedrigen - völkervertraglichen Schutzstandard in Bulgarien des Art. 3 EMRK.

2. Flüchtlinge mit subsidiärem Schutzstatus in Bulgarien geraten derzeit wegen fehlenden Integrationsprogramms im Hinblick auf Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit, fehlender Bildungsmöglichkeit und Armut in eine nahezu ausweglose Lage.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Bulgarien, subsidiärer Schutz, Dublinverfahren, sichere Drittstaaten, Aufnahmebedingungen, medizinische Versorgung, Integration, anerkannter Flüchtling, Obdachlosigkeit,
Normen: EMRK Art. 3, EMRK Art. 4, AsylVfG § 34a, RL 95/2011/EU Art. 32, AsylVfG § 34a Abs. 1, AsylVfG § 26a,
Auszüge:

[...]

Gemessen an diesen Maßgaben spricht bei der im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und möglichen summarischen Prüfung Überwiegendes dafür, dass die Abschiebungsanordnung bezüglich Bulgariens rechtswidrig ist, weil erhebliche Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass in Bulgarien nach wie vor systemische Mängel im Umgang mit Inhabern eines Schutzstatus vorliegen.

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln lagen wegen des erheblichen Anstiegs der Flüchtlingszahlen ab 2009 erhebliche Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Bulgarien bis Ende 2013 vor (Bericht des UNHCR vom 2. Januar 2014 "Bulgaria as a country of asylum - UNHCR observations on the current situation of asylum in Bulgaria"; amnesty international, Stellungnahme vom 6. Januar 2014 "Urgent action - Flüchtlinge weiter in Notlage – Bulgarien"; European Council on Refugees an Exiles - ECRE - , Bericht vom 8. Januar 2014). Die Mängel betrafen den Zugang zum Asylverfahren, die Inhaftierung von Personen, die die Grenze unerlaubt übertreten hatten, die Unterbringung in überfüllten Aufnahmeeinrichtungen, die mangelnde Verpflegung und unzureichende medizinische Versorgung.

Der UNHCR hatte infolge der Analyse der Gesamtsituation für Asylbewerber und Inhaber eines Bleiberechts in dem genannten Bericht ausdrücklich die Empfehlung ausgesprochen, von Überstellungen nach Bulgarien abzusehen.

Bulgarien hat seit Anfang des Jahres 2014 mit massiver Unterstützung des UNHCR und anderer Organisationen eine Reihe von erheblichen Verbesserungen in vielen Bereichen für Asylbewerber erzielen können. Der UNHCR hält infolge von Verbesserungen im Asyl- und Aufnahmesystem im Bereich der Registrierung, der Verfahrensabwicklung und der Lebensbedingungen in einigen Aufnahmeeinrichtungen für Asylbewerber und Statusinhaber seine Forderung eines allgemeinen Überstellungsstopps nicht mehr aufrecht. Im Bericht vom 15. April 2014 ("Bulgaria as a country of asylum - UNHCR observations on the current situation of asylum in Bulgaria") schildert er für die Situation von Inhabern eines Bleiberechtsstatus aber nach wie vor eine ganze Reihe von erheblichen Missständen und Lücken, in einigen Bereichen sogar eine Verschlechterung der Situation. Maßgeblich ist vorliegend auf die Situation der Antragsteller abzustellen, denen in Bulgarien – wie vorliegend – bereits subsidiärer Schutz gewährt worden ist. Für diese Personengruppe führt der UNHCR in dem genannten Bericht vom April 2014 unter Ziffer. 2.7 aus:

Es gebe derzeit kein laufendes Integrationsprogramm mehr; die Finanzierung des neu entworfenen Programms sei bisher nicht genehmigt.

Die bis zu zwei Monate dauernde Lücke im Zugang zur Gesundheitsversorgung bleibe bestehen, solange die Statusinhaber als unversichert registriert seien. Zusätzlich müssten sie monatlich (umgerechnet) 8,70 Euro für den Zugang zu den Angeboten der nationalen Krankenversicherung zahlen. Davon seien Medikamente und psychologische Versorgung nicht erfasst (vgl. zur prekären medizinischen Versorgung auch den Bericht des UNHCR vom April 2014, S. 8; aida, National Country Report Bulgaria vom 18. April 2014, S. 34; Bordermonitoring, Gefangen in Europas Morast: Die Situation von Asylsuchenden und Flüchtlingen in Bulgarien, 2014 S. 16; Ärzte ohne Grenzen vom 12. Juni 2014). Während dem bulgarischen Staatsangehörigen der Zugang zu kostenloser medizinischer Versorgung nach für ihn obligatorischer Krankenversicherung zusteht, haben die Flüchtlinge mit bloß subsidiärem Schutzstatus diese Zugangsmöglichkeiten nicht. Das Problem der unzureichenden medizinischen Versorgung betrifft jedermann und nicht nur "ernsthaft und schwer Erkrankte", für die eine Sonderregelung zu treffen ist (VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 10. November 2014, a.a.O.). Nach Art. 30 QRL haben die Mitgliedstaaten für Flüchtlinge mit Schutzstatus dafür Sorge zu tragen, dass sie zu denselben Bedingungen wie Staatsangehörige des diesen Schutz gewährenden Mitgliedstaats Zugang zu medizinischer Versorgung haben.

Im Bericht des UNHCR vom April 2014 heißt es weiter, dass Statusinhaber wegen der ungünstigen ökonomischen Situation und struktureller Probleme – wie der mangelnden Anerkennung von Qualifikationen, der fehlenden Hilfe, eine gesicherte Unterkunft zu finden, der fehlenden sprachlichen Hilfen – weiterhin Schwierigkeiten hätten, einen sicheren und dauerhaften Arbeitsplatz zu finden. Weiterhin erschwere der Mangel an adäquaten und erschwinglichen Wohnung[smöglich]en die Integration der Statusinhaber. Diese blieben daher länger in den Aufnahmezentren ohne die Möglichkeit der gesellschaftlichen Integration. Die bulgarischen Behörden kommen damit der Anforderung nach Art. 32 QRL nicht nach, dafür zu sorgen, dass Personen, denen internationaler Schutz zuerkannt worden ist, Zugang zu Wohnraum unter Bedingungen erhalten, die den Bedingungen gleichwertig sind, die für andere Drittstaatsangehörige gelten, die sich rechtmäßig in ihrem Hoheitsgebiet aufhalten.

Auch die für eine erfolgreiche Integration erforderliche Bildung werde nach dem Bericht des UNHCR vom April 2014 nicht gewährleistet. Den gesetzlichen Regelungen in Bulgarien, die Personen mit internationalem Schutz unter den gleichen Bedingungen wie bulgarische Bürger Zugang zu Bildung zuzuerkennen, stünden in der Praxis erhebliche Zugangsschwierigkeiten entgegen. So gebe es nur Sprachkurse in einer Aufnahmeeinrichtung. Um zur Schule zugelassen zu werden, müssten Kinder einen Sprachkurs komplett absolvieren. In der Praxis gebe es nur in der Aufnahmeeinrichtung in Sofia diese Möglichkeit. Auch insoweit verstößt die bulgarische Praxis gegen die sich aus Art. 27 QRL ergebenden Rechte der Statusflüchtlinge auf Zugang zu Bildung.

Trotz der im Bericht angeführten Verbesserungen der Situation für Asylsuchende und für Flüchtlinge mit Schutzstatus durch die bulgarischen Behörden kann deshalb von einer generellen Wende der Flüchtlingspolitik nicht ausgegangen werden. In Ziffer 4 des Berichts vom April 2014 führt der UNHCR deshalb auch an, dass Bedenken hinsichtlich der Nachhaltigkeit der bisher erreichten Verbesserungen im gesamten Migrationsbereich bestünden. Viele Initiativen beruhten auf einer ad hoc-Basis zur Krisenbewältigung und ohne die Sicherstellung der Übernahmen durch die bulgarischen Behörden bzw. SAR. Insbesondere bestünden Bedenken bezüglich einer soliden Strategie und eines nachhaltigen Programms zur Sicherstellung eines Existenzminimums, adäquater Unterbringung, sprachlicher Abschlüsse und eines effektiven Zuganges zu einer regelrechten Ausbildung für Kinder. Inhaber eines internationalen Schutzstatus hätten keinen effektiven Zugang zum Erwerb einer Eigenständigkeit. Für sie bestehe das Risiko von Obdachlosigkeit und Verarmung.

Dies bestätigen neue dem Gericht vorliegende Erkenntnisse, aus denen sich ergibt, dass sich die Situation in Bulgarien auch im weiteren Verlauf des Jahres 2014 nicht in die vom UNHCR erhoffte und angemahnte Richtung entwickelt hat und auch 2015 vorerst nicht in diese Richtung entwickeln wird:

Angesichts der krisenhaften sozio-ökonomischen Situation in Bulgarien (vgl. die statistischen Werte zum pro Kopf BIP, zur Arbeitslosigkeit und zur Inflationsrate für das Jahr 2014 bei: Das Statistikportal, de.statista.com; WKO, Wirtschaftskammer Österreich (Werte der EU-Kommission)) besteht für Flüchtlinge mit Schutzstatus weiterhin ein sehr hohes Risiko der Obdach- und Arbeitslosigkeit sowie der Verarmung. Dies beruht in erster Linie auf dem Fehlen eines zwar zum 25. Juni 2014 entworfenen und veröffentlichten Integrationsprogramms (vgl. bordermonitoring, a.a.O.), welches jedoch von der im Herbst 2014 ausgeschiedenen bulgarischen Regierung abgelehnt (bordermonitoring: Kurzmitteilung vom 1. August 2014) und von der neuen Regierung bisher nicht genehmigt bzw. umgesetzt wurde. Regierungsmitglieder der seit November 2014 im Amt befindlichen neuen bulgarischen Regierung haben zwar die Absicht geäußert, sich in der Flüchtlingsfrage an die EU-Vorgaben zu halten und die Migrationspolitik in Richtung Integration voranzutreiben (vgl. news/ORF.at vom 29. Dezember 2014; RTL.de vom 29. Dezember 2014; Radio Bulgaria bnr.bg vom 10. Januar 2015). Konkretere Beschlüsse, Hinweise zur Genehmigung und Finanzierung eines Integrationsprogramms oder gar Anzeichen für eine praktische Umsetzung eines solchen Programms sind aber nicht bekannt. Dass die bereitgestellten finanziellen Mittel für die Erweiterung des Grenzzauns an der bulgarisch-türkischen Grenze eingesetzt werden (vgl. Radio Bulgaria, a.a.O., DW vom 16.1.2015 "Flüchtlinge in Bulgarien nicht willkommen") lässt eher den Schluss zu, dass die neue Regierung bei der Bewältigung des Flüchtlingsproblems eher auf die europarechtswidrige Verhinderung von Grenzübertritten setzt als auf Integration.

Die angeführten Menschenrechtsverletzungen betreffen nicht lediglich einen einzelnen Standard der Qualifikationsrichtlinie, sondern Mängel der medizinischen Versorgung und die eingeschränkten Zugänge zu Wohnraum, zur Beschäftigung und zur Bildung. Hiervon ist der Ausländer auch nicht nur vereinzelt und aufgrund unglücklicher Umstände oder wegen einer besonderen Sachverhaltskonstellation betroffen. Er ist vielmehr regelhaft und vorhersehbar als jemand, der zur Gruppe der Flüchtlinge mit subsidiärem Schutz gehört, betroffen.

Angesichts der auch bulgarische Staatsangehörige treffenden schwierigen Lage auf dem Arbeitsmarkt und dem Wohnungsmarkt sowie der geringen Sozialhilfeleistungen ist weiter zu berücksichtigen, dass die geforderte Einhaltung der Standards in den Richtlinien zu einer Besserstellung der Flüchtlinge mit Schutzstatus gegenüber den eigenen Staatsangehörigen führen könnte. Der normativen Vergewisserung entspricht es, dass grundsätzlich davon ausgegangen werden kann, dass alle Mitgliedstaaten das Unionsrecht und insbesondere die dort anerkannten Grundrechte beachten. Eine Besserstellung von Flüchtlingen gegenüber den eigenen Staatsangehörigen ist aber grundsätzlich nicht gefordert. Auch ist nicht zu prüfen, ob der Mitgliedstaat in einem konkreten Fall die durch die Union gewährten Grundrechte tatsächlich beachtet. Gleichwohl sind aber auch bei Berücksichtigung des typischerweise für die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung geltenden Standards die an ein menschenwürdiges Leben zu stellenden Mindestanforderungen, wie sie in der Qualifikationsrichtlinie genannt werden und die die Basis des Aufnahmesystems darstellen, zu beachten. Die Flüchtlinge müssen - wie ausgeführt - in der Lage sein, für ihre Grundbedürfnisse wie Nahrung, medizinische Versorgung, Hygiene und Unterkunft aufzukommen. Wegen des fehlenden Integrationsprogramms in Bulgarien gerät aber der Flüchtling in eine nahezu ausweglose Lage im Hinblick auf Obdachlosigkeit, Arbeitslosigkeit und Armut verbunden mit fehlenden Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten insbesondere für Kinder und Jugendliche. Die Betroffenen haben keine reelle Chance, sich ein Existenzminimum in Bulgarien zu schaffen. [...]