VG Hannover

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Zitieren als:
VG Hannover, Urteil vom 19.01.2015 - 10 A 5465/11 - asyl.net: M22807
https://www.asyl.net/rsdb/M22807
Leitsatz:

1. Kein Vertretenmüssen des Leistungsbezugs, wenn sozialhilferechtliche Erwerbsobliegenheit nicht besteht (Betreuung eines unter dreijährigen Kindes).

2. Kein Vertretenmüssen aufgrund rückwirkender Zurechnung früheren Fehlverhaltens bei Bezug von Leistungen nach dem SGB II.

3. Zur Aussagekraft und Auslegung von formularmäßigen Auskünften des Jobcenters.

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, Sicherung des Lebensunterhalts, Sozialleistungen, Prognose, Erwerbsbiographie, SGB II, SGB XII, Vertretenmüssen, Arbeitslosigkeit,
Normen: StAG § 10 As. 1 S. 1 Nr. 3,
Auszüge:

[...]

2. Dem Einbürgerungsanspruch steht auch nicht entgegen, dass die Klägerin Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch bezieht. Zwar setzt die Einbürgerung gem. § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG grundsätz - lich voraus, dass der Einbürgerungsbewerber den Lebensunterhalt für sich und seine unterhaltsberechtigten Familienangehörigen ohne Inanspruchnahme von Leistungen nach dem Zweiten oder Zwölften Buch Sozialgesetzbuch bestreiten kann; dies gilt jedoch nicht, wenn er die Inanspruchnahme dieser Leistungen nicht zu vertreten hat. Letzteres ist hier der Fall.

Soweit die Beklagte geltend macht, dass die Erwerbsbiographie der Klägerin insgesamt Zweifel an einer nachhaltigen Sicherung des Lebensunterhalts aufwerfe, trifft dies in tatsächlicher Hinsicht zu, denn alle Bemühungen der Klägerin haben nicht dazu geführt, dass sie eine langfristige abhängige Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit gefunden hat, die es ihr ermöglicht haben, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, ohne immer wieder Leistungen nach dem SGB II in Anspruch zu nehmen. Insofern folgt die fehlende Nachhaltigkeit bereits aus dem Umstand des Leistungsbezugs; für die Beurteilung des Vertretenmüssens sagt sie dagegen nichts aus, weil sonst in einem logischen Zirkelschluss jeder Leistungsbezug zu vertreten wäre.

Der Begriff des "Vertretenmüssens" ist vielmehr normativer Natur. Er setzt kein vorsätzliches oder fahrlässiges Handeln voraus, sondern kann schon dadurch erfüllt sein, dass der Einbürgerungsbewerber durch ein ihm zurechenbares Handeln oder Unterlassen adäquat-kausal die Ursache für den – fortdauernden – Leistungsbezug gesetzt hat. Sinn und Regelungszweck des § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 StAG, einer Einwanderung in die Sozialsysteme entgegenzuwirken, werden bei einer nur unwesentlichen Erhöhung nicht berührt, wenn ein Leistungsbezug nur anteilig auf ein dem Einbürgerungsbewerber zuzurechnendes Verhalten zurückzuführen ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 19.2.2009 – BVerwG 5 C 22.08 –, Rn. 24).

Nach diesem Maßstab hat die Klägerin den Leistungsbezug nicht zu vertreten. Sie hat zwar seit zwei Jahren keine Erwerbstätigkeit ausgeübt und im gerichtlichen Verfahren nur wenige Nachweise ihrer Bemühungen um eine Arbeitsstelle vorgelegt. Das Gericht geht aber davon aus, dass die Klägerin seit April 2013 aufgrund der Umstände ihrer Schwangerschaft und seit der Geburt ihres Kindes schon aufgrund von § 10 Abs. 3 Satz 1 SGB II keine Erwerbsobliegenheit getroffen hat. Auch gegenwärtig kann es ihr aufgrund von § 10 Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht einbürgerungshinderlich vorgehalten werden, dass sie keiner Erwerbstätigkeit nachgeht und auch keine Bemühungen nachweist, in allernächster Zukunft eine Arbeitsstelle zu finden.

Zwar kommt dem Maßstab des § 10 Abs. 3 Satz 1 SGB II zur Bestimmung der Grenzen einer zumutbaren Arbeitsaufnahme aus der Perspektive des Einbürgerungsrechts nur Hilfsfunktion zu, ohne dass eine strikte Bindung bei der Beurteilung des Einbürgerungsbegehrens bestünde. Ein Gleichlauf der Maßstäbe wird allerdings insoweit angenommen, als bei fehlender sozial(hilfe)rechtlicher Erwerbsobliegenheiten der Leistungsbezug unter dem Blickwinkel der Einbürgerungsvorschriften in aller Regel nicht zu vertreten ist (BayVGH, Beschluss vom 12.8.2003 – 5 C 03.1622 –, juris Rn. 7; Berlit in: GK-StAR 29, § 10 StAG Rn. 268).

Der Einwand der Beklagten, die Klägerin habe den Leistungsbezug zu vertreten, weil ihr Ehegatte ebenfalls Leistungen nach dem SGB II beziehe und jedenfalls einer der Elternteile den anderen von der Kindesbetreuung freistellen könne, greift nicht durch. Entgegen der Auffassung der Beklagten steht die Befreiung von der Leistungspflicht nach § 10 Abs. 3 Satz 1 SGB II nicht unter der pauschalen Voraussetzung, dass kein anderer Verwandter die Kindesbetreuung übernehmen kann. Lediglich nach Vollendung des dritten Lebensjahres des Kindes ist nach dem zweiten Halbsatz der Vorschrift die Erziehung des Kindes in der Regel nicht gefährdet, soweit die Betreuung in einer Tageseinrichtung oder in Tagespflege im Sinne der Vorschriften des Achten Buches oder auf sonstige Weise sichergestellt ist. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass die Betreuung durch die Kindesmutter bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres der gesetzlich erwartete Regelfall ist.

Daneben sind die sozialhilferechtlichen Wertungen – wie vorstehend ausgeführt – nicht vollumfänglich auf das Einbürgerungsrecht übertragbar. Der Einwand der Beklagten stützt sich auf den Umstand, dass die Klägerin und ihr Ehegatte in einer sozialhilferechtlichen Bedarfsgemeinschaft leben. Diese personenübergreifende Zurechnungskonstruktion des Sozialhilferechts findet im Einbürgerungsrecht aber keine Entsprechung (vgl. BayVGH, Beschluss vom 12.5.2004 – 5 ZB 03.3033 –, juris Rn. 10). Vielmehr besteht in der Rechtsprechung und der Literatur weitgehende Einigkeit darüber, dass dem einbürgerungswilligen Ausländer das Verhalten unterhaltsberechtigter Familienangehöriger nicht einbürgerungshindernd zugerechnet werden kann (vgl. Berlit, a.a.O., § 10 StAG Rn. 265). Auf die Frage, ob der Ehegatte der Klägerin schon durch die Teilnahme an einem halbtags stattfindenden Integrationskurs an einer Arbeitsaufnahme gehindert (gewesen) ist, kommt es deshalb nicht an.

Ohne Erfolg bleibt auch der Einwand der Beklagten, die bisherige Erwerbsbiographie der Klägerin lasse nicht erwarten, dass sie sich nach dem Ende ihrer Elternzeit wieder in das Erwerbsleben integrieren werde. Schon systematisch sind Ansatzpunkte dafür, dass abseits der besonderen Konstellation eines absehbar nicht mehr endenden Bezugs von Leistungen nach dem SGB XII (vgl. dazu BVerwG, Urteil vom 19.2.2009 – BVerwG 5 C 22.08 –, juris) ein früheres Verhalten zum Vertretenmüssen eines gegenwärtigen Leistungsbezugs führt, nicht ohne weiteres ersichtlich.

Auch einwanderungspolitische Gesichtspunkte sprechen nicht zwingend dafür, dass die Klägerin den Leistungsbezug infolge früheren Verhaltens zu vertreten hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urteil vom 19.2.2009 – a.a.O. –, Rn. 24) entspricht es durchaus der Zielsetzung des Staatsangehörigkeitsgesetzes, einer Zuwanderung in die Sozialsysteme entgegenzuwirken, dementsprechend für den Anspruch auf Einbürgerung auch eine gewisse wirtschaftliche Integration zu verlangen und hiervon grundsätzlich abzusehen, wenn der Bezug der bezeichneten steuerfinanzierten Sozialleistungen nicht zu vertreten ist. Diese Zielsetzung wird regelmäßig indes bereits dadurch gefördert, dass bei zurechenbar unzureichender wirtschaftlicher Integration die erforderliche Voraufenthaltszeit eines achtjährigen rechtmäßigen Aufenthalts oder der für den Einbürgerungsanspruch erforderliche Aufenthaltsstatuts (§ 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 StAG) nicht erreicht werden kann, weil regelmäßig bereits das Aufenthaltsrecht (§ 5 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG) einen gesicherten Lebensunterhalt verlangt. Kann oder soll indes aufenthaltsrechtlich diesem Umstand nicht (mehr) Rechnung getragen werden, verliert auch für das Staatsangehörigkeitsrecht der Gesichtspunkt an Gewicht, dass einer "Zuwanderung in die Sozialsysteme" vorgebeugt werden soll. Bei einem für den Einbürgerungsanspruch hinreichenden, verfestigten Aufenthaltsstatus ist der Bezug der Sozial(hilfe)leistung unabhängig von der Staatsangehörigkeit. So ist es im Fall der Klägerin, die zudem in Deutschland geboren, aufgewachsen und zur Schule gegangen ist und zwei Ausbildungen begonnen hat. An ihrer Integration besteht insoweit kein ernstlicher Zweifel. [...]

Soweit die Beklagte aufgrund der Auskunft vom 23. März 2011 den Eindruck erhalten hat, dass die Klägerin möglicherweise keine hinreichenden Bewerbungsbemühungen gezeigt hat, hätte es ihr angesichts der uneinheitlichen Äußerung im Rahmen der Amtsermittlung oblegen, diesen Bedenken nachzugehen und eine ergänzende Auskunft einzuholen. Der Amtsermittlung genügt es dagegen nicht, lediglich einbürgerungshinderliche Informationen heranzuziehen und neutrale oder gegen ein Vertretenmüssen des Leistungsbezugs sprechende Informationen in derselben Auskunft außer Acht zu lassen. Diesen Eindruck erweckt allerdings die Hervorhebung einzelner Textpassagen in der Auskunft vom 23. März 2011. Wie erwähnt bleibt darin offen, ob die Klägerin Interesse an beruflicher Bildung habe. Verneint ist die Frage, ob das JobCenter solche Maßnahmen für möglich halte, mit der Ergänzung "gibt an, über genügend Kenntnisse zu verfügen und eher überqualifiziert zu sein". Die Hervorhebung der Beklagten verbindet dagegen die Worte "Fortbildung", "interessiert", "Frau S. gibt an", "genügend Kenntnisse", "eher überqualifiziert" zu sein und suggeriert so einen Zusammenhang, der der Auskunft nicht ausdrücklich zu entnehmen ist. [...]